Wer bräuchte nicht einen Stimmungsaufheller in diesen pandemiegeplagten Zeiten? Für die Kunstbranche kam er mit den Auktionsresultaten des ersten Halbjahres 2021. Verglichen mit derselben Zeitspanne vor der Pandemie im Jahr 2019, verzeichneten die drei grössten Auktionshäuser laut dem Dataresearch-Unternehmen Pi-eX eine kleine Umsatzsteigerung, auf jetzt 5,8 Milliarden Dollar.

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Noch mehr Good News gefällig? Obschon im vergangenen Jahr Hunderte von Messen abgesagt wurden, berichten laut dem «Global Art Market Report» der Art Basel und der UBS fast die Hälfte der befragten Galeristen von stabilen oder gar grösseren Gewinnen.
 

Trotz Pandemie: Das Kunstgeschäft floriert

Der Befund deckt sich auch mit der Erfahrung jener beiden Galerien, die mit Miriam Cahn und Julian Charrière zwei der zurzeit gefragtesten Schweizer Kunstschaffenden im Programm haben. «Wir haben das letzte Jahr erstaunlich gut überstanden», sagt etwa Elsbeth Bisig von der Galerie Tschudi in Zuoz. Jochen Meyer von der Galerie Meyer Riegger in Karlsruhe und Berlin bezeichnet die Geschäftsentwicklung während der Pandemie als «überraschenderweise sehr positiv»: «Die vielen Verkäufe direkt aus der Galerie in den letzten 18  Monaten waren eine sehr gute Erfahrung. Es gibt einen starken Kunstmarkt auch abseits der Kunstmessen.»

Der Befund erstaunt – und dürfte die Messebetreiber das Fürchten lehren. Warum den Aufwand der Messen betreiben, wenn es auch ohne sie geht?
Vor der Pandemie reiste die Karawane der Galeristen, Kuratoren und Sammler fast im Wochentakt von einer Grossausstellung zur nächsten – obwohl zunehmend über Hektik und hohe Kosten geklagt wurde. Kaum ein Business setzte aber bisher so stark auf Messen, Face-to-Face-Kommunikation, Reisen und Hospitality wie die Kunstbranche. Doch nun planen viele Galerien, künftig ihre Messeteilnahmen zu reduzieren. Iwan Wirth von der Galerie Hauser & Wirth etwa plant mit 40 Prozent weniger Teilnahmen.

Galeristen machen sich keine Illusionen. «Das Publikum wird dieses Jahr wenig international sein», prophezeit Elsbeth Bisig für die Art Basel. Zweifellos kann das regionale und lokale Publikum die Lücken der ausbleibenden Gruppen von Asiaten und Amerikanern nicht schliessen. Drei Gründe sind verantwortlich dafür, dass der grosse Schaden für die Galerien bisher dennoch abgewendet werden konnte. Erstens wurden mit den abgesagten Messen auch die Kosten für Reisen, Transport, Standmiete und Hospitality drastisch heruntergefahren.

Zweitens wird straffer und teilweise mit weniger Personal gearbeitet, um die Kosten im Zaum zu halten. Vor allem aber sorgte der Digitalisierungsschub einer als notorisch innovationsavers bekannten Branche dafür, dass die Verluste begrenzt wurden. Auktionshäuser, Galerien und Messen schwenkten letztes Jahr flugs auf den virtuellen Raum um. Erstaunt wurde zur Kenntnis genommen, dass sich Sammler nicht scheuten, überraschend hohe Summen für Kunst auszugeben, die sie nicht physisch gesehen hatten.

«Wir stehen am Beginn einer neuen Ära», meint Iwan Wirth. «Die Digitalisierung hat enormes innovatives Potenzial. Wir glauben an eine ‹phygital world› – eine Fusion von physischer und digitaler Experience – und halten diese Entwicklung für unumkehrbar.» An der nächsten Art Basel wird die Galerie Hauser & Wirth die physische Präsentation am Stand eng mit der digitalen Präsenz verzahnen.

Sämtliche Kunstwerke, die am Stand an der Art Basel ausgestellt sind, werden auch digital in 3-D interaktiv erfahrbar gemacht, mit Livechat-Funktion auf WhatsApp, über die interessierte Sammler mit den Sales Directors in Echtzeit verbunden werden können, die vor Ort am Stand sind. Eigens produzierte Filme und Audiokommentare für Sammler, die nicht an die Art Basel reisen, ergänzen das digitale Angebot. Die Galerie wird so zum Multimedia-Unternehmen.
 

Rückbesinnung auf lokale Künstler

Selbstredend können sich nur die wenigsten Galerien einen solchen Aufwand leisten. Langjährige Kenner des Kunstbetriebs glauben aber auch, dass den lokalen Kunstszenen gerade jetzt Chancen winken. «Sammler, die weniger reisen, engagieren sich stärker über Galerien in ihrer Nähe», sagt Marina Olsen von der Galerie Karma International. Die Galerie vertritt gleich drei der international gefragtesten Schweizer Künstlerinnen, Sylvie Fleury, Pamela Rosenkranz und Vivian Suter.

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Anstatt Netze in globalen Märkten auszuwerfen, werden nun gut gepflegte Beziehungen zu den Sammlern vor Ort wieder wichtiger. Das fällt Künstlern auf, die zuvor selber ständig auf Reisen waren. «Der internationale Ausstellungsbetrieb hat sich verlangsamt. Ich freue mich aber zu sehen, wie Galeristen sich wieder verstärkt in ihren Galerien vor Ort engagieren», sagt Sylvie Fleury – statt sich nur auf Messen zu fokussieren. Ihre Galerie in Zürich, Karma International, hat während der Pandemie einen zweiten grossen Raum in Zürich geöffnet.
 

Schweizer Künstler weich gebettet

Es wird in Gallery Weekends investiert, man organisiert Pop-up-Shows an Ferienorten, kollaboriert mit Partnergalerien, reist dahin, wo Sammler ihre Zweitresidenzen haben, oder eröffnet gar Galerienableger. Die Galerie Meile aus Luzern etwa zeigte bereits im zweiten Sommer Künstler in Ardez im Unterengadin. Hauser & Wirth hat bereits vor der Pandemie ihr Kunstprogramm in die ländliche Gegend und in Ferienorte gebracht, nach Somerset, Gstaad, St. Moritz. «Das Verhältnis der Menschen ganz allgemein zur Stadt hat sich in der Pandemie verändert, und in diesem Sinne spielen diese Orte ausserhalb der traditionellen Kunstzentren eine neue, verstärkte Rolle», so Iwan Wirth.

Angesichts beschränkter Reisemöglichkeiten wird es für Künstler schwieriger, international zu arbeiten. Doch Schweizer Kunstschaffende, die im 28. BILANZ-Künstler-Rating figurieren, sind im Vergleich zu ihren Kollegen vergleichsweise weich gebettet. Entweder haben sie den internationalen Durchbruch längst geschafft, oder sie kommen in den Genuss einer breiten staatlichen und privaten Förderung; Banken wie die Credit Suisse, Julius Bär und Kantonalbanken oder Unternehmen wie Manor oder die Schweizerische Post sammeln gar mit spezifischem Schweizer Fokus.

Am diesjährigen BILANZ-Künstler-Rating haben sich 48 Kuratoren, Museumsleute und Kritiker beteiligt. Sie haben nach Inhalten und Relevanz geurteilt, nicht nach Marktwert. Drei Befunde gibt es: Erstens listet das Ranking derzeit auffällig viele Künstler in den vordersten Plätzen, die mit grosser Ernsthaftigkeit und starkem realem, gesellschaftlichem Bezug ans Werk gehen. Ihre Werke verweisen auf die Ungemütlichkeit der Welt, auf Migrationskrisen und die Klimakatastrophe.

Zweitens haben Künstlerinnen viel Boden gutgemacht: Sie weisen die grössten Sprünge nach vorne aus. Zwei finden sich in den Top 3, und die Hälfte der Top 20 sind ebenfalls Frauen. Erst seit Kurzem hat das Genderthema auch die Kunstwelt erfasst. Museen widmen nämlich noch immer weit weniger Frauen Museumsausstellungen als Männern. Diesbezüglich wirkt die BILANZ-Jury als Korrektiv.
 

Miriam Cahn – die neue Siegerin des Künstler-Ratings

Drittens deckt sich in einem System, in welchem Opinion Leaders aus Museumsleuten, Kuratoren und Sammlern über die Wichtigkeit von Kunstschaffenden entscheiden, der künstlerische nicht unbedingt mit dem ökonomischen Wert. Das zeigt ein Vergleich mit den Top-Ten-Auktionsresultaten.

Im Ranking der BILANZ figuriert Miriam Cahn erstmals auf Platz 1. Damit hat die 72-jährige, im Bergell lebende Baslerin die Video- und Installationskünstlerin Pipilotti Rist, die dreimal in Folge auf Rang 1 gelistet wurde, vom obersten Treppchen verwiesen. Cahns intensive Malerei, die an existenzielle Themen wie Krieg und Flucht rührt, trifft zweifellos den Nerv der Zeit.

Wer in den letzten zwei Jahren in den Genuss kam, eine ihrer grossen Retrospektiven in Bern, Bregenz, München oder Madrid zu sehen, vergisst die Eindringlichkeit ihres Werkes nicht. Viel beachtet wird zurzeit ihre Ausstellung im Palazzo Castelmur im Bergell (bis 20. Oktober). Toronto, Mailand und Paris (im angesagten Palais de Tokyo) sind ihre nächsten Ausstellungsstationen. Cahns Galerist Jochen Meyer von der Galerie Meyer Riegger berichtet denn auch von einem starken Interesse in den letzten zwölf Monaten. An der Art Basel präsentiert die Galerie Arbeiten, deren Preise sich zwischen 5000 und 180 000 Franken bewegen.

Unter den Künstlerinnen, die es unter die ersten zehn geschafft haben, findet sich Pamela Rosenkranz (Rang 8; Vorjahr: 17). Rosenkranz beschäftigt sich in ihrem ästhetisch bezwingenden Werk schwerpunktmässig mit Biotechnologie und deren Wirkungen auf den Körper und die Wahrnehmung des Menschen.

«Ich freue mich, dass Galeristen sich nun wieder stärker in ihren Galerien vor Ort engagieren.»

Werke von ihr befinden sich in renommierten Museen wie dem Centre Pompidou oder dem Museum of Modern Art in New York sowie in Privatsammlungen wie der Pinault Collection in Paris, der Sammlung Boros in Berlin, dem Fiorucci Art Trust in London oder der Rubell Family Collection in Miami. Im Sommer bespielte sie das Kunsthaus Bregenz in einer Solo-Ausstellung, und ab Oktober richtet die Galerie Sprüth Magers ihre erste Ausstellung in London aus.

Weit nach vorne gerückt ist die Malerin Vivian Suter (Rang 12; Vorjahr: 18). Seit ihrer Documenta-Teilnahme 2017 gilt die 72-jährige Argentinien-Schweizerin als grosse Wiederentdeckung. Ihre meist nicht aufgespannten, wild bemalten Leinwände sind durchdrungen von den Spuren des Dschungels von Panajachel in Guatemala, wo sie ihr Atelier unterhält. Natur und ihre Zerstörung durch den Menschen sind denn auch Themen, die derzeit viele Künstler umtreiben.
 

Sozialkritische Kunstwerke

Bei den Künstlern unter 40 führt, wie bereits letztes Jahr, Julian Charrière die Liste an. Der ehemalige Student des Kunstphänomenologen Ólafur Elíasson handelt aktuell brisante Themen wie den zerstörerischen Umgang mit natürlichen Ressourcen ab, etwa den Abbau von Lithium, dem Schlüsselrohstoff für Batterien, in Bolivien.

Der aus Morges im Waadtland stammende, in Berlin arbeitende Künstler beschäftigt sich mit der Hybris des Menschen und der Ausbeutung der Natur, aber auch mit deren Macht und Resilienz. Im Sommer hatte er mit einer Ausstellung im Dallas Museum of Art seinen ersten Solo-Auftritt in einem amerikanischen Museum, und ab Oktober wird ihm, als einem von vier für den renommierten Prix Marcel Duchamp Nominierten, im Centre Pompidou in Paris eine Ausstellung gewidmet.

 

Roche, Schweizerische Post, Zürcher Kantonalbank: Wenn Konzerne die Kunden sind

Mit Andriu Deplazes (6) und Pedro Wirz (9) führt die BILANZ-Liste der Kunstschaffenden unter 40 zwei hochspannende Positionen auf, die es im Auge zu behalten gilt. Der in Marseille lebende, mit dem Helvetia-Kunstpreis, dem Manor Art Prize und dem Bündner Förderpreis ausgezeichnete Zürcher Deplazes macht mit symbolstarken, fantastisch-surrealen Bildern in greller Farbigkeit von sich reden.

Seine Werke finden sich bereits in Sammlungen von Museen (unter anderem Aargauer Kunsthaus, Bündner Kunstmuseum, Museum zu Allerheiligen Schaffhausen) und Firmen (Roche, Schweizerische Post, Zürcher Kantonalbank, Credit Suisse, Manor, Helvetia).

Pedro Wirz wiederum geht mit organischen Materialien wie Steinen, Erde oder Bienenwachs ans Werk, um das Verhältnis von Naturgeschichte und durch Menschen herbeigeführte Ökokatastrophen zu verhandeln. Nach Ausstellungsbeteiligungen im Tinguely Museum in Basel, im Centre Pasquart und im Aargauer Kunsthaus stellte er zuletzt in Los Angeles und New York aus, für 2022 ist eine Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel geplant.

Beobachter sagen, dass es aufstrebende Künstler oder komplexe Installationen heute schwerer hätten, sich durchzusetzen. Wenn aber wieder vermehrt auf Substanz gesetzt wird, hat diese junge Garde von Schweizer Künstlern etwas zu bieten: Sie schafft mit Forschergeist nicht leicht Bekömmliches, sondern spannende Herausforderungen fürs Gehirn.

Die Jury

 

48 Kunstsachverständige haben zum Künstler-Rating 2021 beigetragen. Gewichtet werden die Anzahl Nennungen pro Künstler (prioritäres Kriterium) und die Platzierung der Namen in den eingesandten Ranglisten (sekundäres Kriterium).


Yasmin Afschar, Kuratorin Aargauer Kunsthaus, Aarau; Katharina Ammann, Direktorin Aargauer Kunsthaus, Aarau; Romano Angelo, Kurator, Zürich; Tobia Bezzola, Direktor MASI, Lugano; Konrad Bitterli, Direktor Kunstmuseum Winterthur; Alexandra Blättler, Konservatorin Sammlung Kunstmuseum Luzern; Giovanni Carmine, Direktor Kunst Halle, St. Gallen; Gioia Dal Molin, Leitende Kuratorin Istituto Svizzero, Rom; Cornelia Dietschi Schmid, Kunsthistorikerin und Leiterin Kunstsammlung F. Hoffmann-La Roche, Basel; Dorothee Messmer Bakker, Direktorin Kunstmuseum Olten; Christoph Doswald, Kurator, Zürich; Jean-Paul Felley, Direktor Édhéa, Sierre; Fanni Fetzer, Direktorin Kunstmuseum Luzern; Andreas Fiedler, freier Kurator, Bern und Berlin; Karin Frei Rappenecker, Kuratorin und Co-Inhaberin Art Agency, Zürich; Céline Gaillard, Co-Direktorin Kunst(Zeug)Haus, Rapperswil-Jona; Winfried Heininger, Verleger Kodoji Presse, Baden; Katharina Holderegger, Kunsthistorikerin, Kritikerin und Kuratorin, Gland; Gianni Jetzer Corti, Kurator, Zürich; Olivier Kaeser, Kurator und Direktor Arta Sperto, Paris; Oliver Kielmayer, Direktor Kunsthalle Winterthur; Lynn Kost, Kurator Kunstmuseum Winterthur; Daniel Kurjakovic, Kurator Programme Kunstmuseum Basel; Roman Kurzmeyer, Kunstwissenschaftler und Kurator, Basel; David Lemaire, Direktor Musée des beaux-arts La Chaux-de-Fonds; Samuel Leuenberger, Kurator SALTS, Birsfelden; Marc-Olivier Wahler, Direktor MHA Musée d’art et d’histoire Genève; Bettina Meier-Bickel, Kunsthistorikerin BMB Art Projects, Zürich; Heike Munder, Direktorin Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich; Susanne Neubauer, Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin, Zürich und Universidade de Brasília; Hans Ulrich Obrist, Direktor Serpentine Gallery, London; Flurina & Gianni Paravicini, Verleger Edizioni Periferia, Luzern; André Rogger, Kurator Sammlung Credit Suisse, Zürich; Aoife Rosenmeyer, Kunstkritikerin, Zürich; Sabine Schaschl, Direktorin Museum Haus Konstruktiv, Zürich; Christoph Schenker, Professor ZFH, Zürcher Hochschule der Künste, Zürich; Claudia Spinelli, Leiterin Kunstraum Baden; Barbara Staubli, Kuratorin Julius Bär Kunstsammlung, Zürich; Markus Stegmann, Direktor Museum Langmatt, Baden; Juri Steiner, Kurator, Kunst- und Kulturvermittler, Lausanne; Nadia Veronese, Kuratorin Kunstmuseum St. Gallen; Anna Vetsch, Kuratorin und Kunsthistorikerin, Zürich; Yvonne Volkart, Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW, Basel; Anna Wesle, Kuratorin Museum Franz Gertsch, Stiftung Willy Michel, Burgdorf; Roland Wetzel, Direktor Museum Tinguely, Basel; Annina Zimmermann, Fachspezialistin Kunst, Stadt Bern; Barbara Zürcher, Direktorin Haus für Kunst Uri, Altdorf; Annelise Zwez, Kunstkritikerin, Twann.