Der Bundesrat hat seine Haltung gegenüber China in der «China Strategie 2021–2024» festgelegt. Darin heisst es: «Die Menschenrechte sind universell, unteilbar und stehen untereinander in engem Zusammenhang.» Ohne jede Begründung vertritt die bundesrätliche «China Strategie 2021–2024» demgegenüber ein enges Menschenrechtsverständnis.

Denn thematisch konzentriert sich die Schweiz auf bürgerliche und politische Rechte und Freiheiten, insbesondere die Meinungsäusserungsfreiheit, Rechte der ethnischen und religiösen Minderheiten und die Abschaffung der Todesstrafe, sowie den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Menschenrechten. Nun hat die Schweiz so wie die Volksrepublik China den UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert.

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Für die Schweiz völkerrechtlich verbindlich ist beispielsweise Artikel 11 des Paktes: «Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschliesslich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen.»

In der «China Strategie 2021–2024» wird dieser Pakt nicht erwähnt. Aber wenn zum Beispiel die Schweizer Firma Bühler acht Fabriken im Reich der Mitte betreibt und dort rund 3000 Mitarbeitende beschäftigt, wie die «Neue Zürcher Zeitung» unlängst berichtete, dann verwirklicht sie allein dadurch Menschenrechte, und zwar wirtschaftliche, wie das Recht auf Arbeit oder das Recht auf Entwicklung.

Autor Harro von Senger
Quelle: Guenther Reisp

Carte-Blanche-Beitrag von Harro von Senger

Harro von Senger ist emeritierter Sinologieprofessor in Freiburg im Breisgau. Seine Bücher sind in 16 Sprachen erschienen (www.china-outofthebox.ch).

Die Volksrepublik China ist ein Staat mit einem marxistisch-leninistischen Politikverständnis. Hier gilt der Ausspruch des in diesem Land populären Marxisten Bertolt Brecht: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral»! Da ist es nicht erstaunlich, dass China das Hauptaugenmerk auf den Wirtschaftsaufbau legt. Laut «China Strategie 2021–2024» haben sich innert weniger Jahrzehnte «Hunderte von Millionen Menschen aus der Armut befreien können» und hat China «einen wesentlichen Beitrag zur globalen Armutsbekämpfung» geleistet.

Warum anerkennt der Bundesrat diese Leistungen nicht als menschenrechtliche Erfolge?

Beim Seidenstrassen-Projekt handelt es sich laut «China Strategie 2021–2024» um ein «global orientiertes Entwicklungsmodell» zur «Beschleunigung der Entwicklung der ärmeren Westprovinzen innerhalb Chinas», zur «Schaffung von Infrastruktur in Drittländern» und zur Stärkung der «Konnektivität zwischen Regionen».

«Innert weniger Jahrzehnte haben sich Hunderte von Millionen Menschen aus der Armut befreien können.»

Könnte man dieses Projekt trotz aller Fragezeichen daher nicht grundsätzlich auch als ein globales Menschenrechtsprojekt betrachten, das auf die Umsetzung wirtschaftlicher Menschenrechte und des Rechts auf Entwicklung zielt?

In der Schweiz betont man die Notwendigkeit, die Ursachen der Migration zu beheben. Da die meisten Migranten, die nach Europa streben, Wirtschaftsflüchtlinge sind, liegt es nahe, die Verwirklichung wirtschaftlicher Menschenrechte in den Ländern Afrikas und anderswo voranzutreiben und in der China-Strategie den wirtschaftlichen Menschenrechten Gewicht zu verleihen und sie nicht zu ignorieren.

Wenn die Behebung von wirtschaftlichen Ursachen der Migration, gestützt auf das Memorandum of Understanding, das die Schweiz im Zuge der Seidenstrassen-Initiative unterzeichnet hat, möglich sein sollte, dann entspräche ein diesem Ziel dienendes Engagement im Seidenstrassen-Projekt der Schweizer Bundesverfassung, trägt doch gemäss Artikel 54 Absatz 2 «der Bund bei seinen Beziehungen zum Ausland namentlich zur Linderung von Not und Armut in der Welt [und] zur Achtung der Menschenrechte bei».

Man beachte: An erster Stelle steht «Linderung von Not und Armut».