Viele Menschen glauben, dass Zentralbanken mehr über die wirtschaftlichen Entwicklungen wissen als andere Beobachter. Das ist nicht der Fall. Die Analysen der Zentralbanken beruhen auf den gleichen Daten und Modellen, wie sie auch andere Prognostiker benutzen. Klar sind die Budgets in den Zentralbanken grosszügig, die Teams mit zahlreichen hoch qualifizierten Experten bestückt. Aber die Zukunft bleibt gleich schwierig abzuschätzen.

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Es gilt, was für alle gilt: Aus den Daten lassen sich Hinweise ableiten, wie sich Konjunktur und Inflation in den kommenden Monaten entwickeln werden. Aber niemand weiss, was im Sommer 2024 in dieser Welt passieren wird. Die Wirtschaft ist keine Maschine, sondern besteht aus Menschen. Wie sollte man etwas darüber wissen, was die Menschen in genau einem Jahr tun werden?

Über den Autor

Adriel Jost ist Ex-SNB-Mitarbeiter, Fellow am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern und Präsident des Thinktanks Liberethica.

Trotzdem müssen Zentralbanken Entscheide fällen. Bis sich steigende Zinsen allerdings in Budgets, Kreditvergaben oder Immobilienpreisen bemerkbar machen, dauert es. Die Verzögerung hängt von der Beschaffenheit der Wirtschaft ab und fällt möglicherweise heute etwas kürzer aus als früher. Aber mit mindestens ein bis zwei Jahren ist weiterhin zu rechnen, bis sich die Wirkung entfaltet.

Man kann es darum als Lebenslüge der Zentralbanken bezeichnen: Zentralbanken wissen über die Zeit in ein bis zwei Jahren, also genau die Zeit, in der sie die Wirtschaft basierend auf ihren «Prognosen» zu beeinflussen versuchen: nichts.

Die Schlussfolgerung für Zentralbanken wäre klar: Als grosser Dampfer im dichten Nebel dürfen sie keine waghalsigen Manöver wagen. Mit möglichst ruhiger Hand soll eine auf lange Frist – das heisst die nächsten fünf bis zehn Jahre – ausgerichtete Politik verfolgt werden. Über Entwicklungen in diesem längeren Horizont lässt sich in der Tat etwas sagen, sowohl zum Trendwachstum als auch zur Inflation.

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Die jüngere Geschichte lehrt uns aber, dass sich die Zentralbanken genau gegenteilig verhalten. Kurzfristige Konjunkturpolitik ist angesagt. Rasches Reagieren auf Entwicklungen und Aktivismus sind Trumpf. So dehnte die Nationalbank ihre Bilanz auf zwischenzeitlich eine Billion Franken oder fast 150 Prozent der Wirtschaftsleistung aus, um kurzfristig den Wechselkurs zu beeinflussen. Und vor lauter kurzfristiger Konjunkturbeobachtung vergassen die Zentralbanken – allen voran die US-Notenbank – auf eine ziemlich offensichtliche Zahl zu achten: die Geldmenge M2, also die Menge aller Bankguthaben von Haushalten und Firmen. Der rasante Anstieg von M2 war ab Sommer 2020 ein deutliches Warnzeichen für Inflationsgefahr. Die Amerikaner gaben das Geld, dass sie im Rahmen der Fiskalprogramme erhielten, tatsächlich rasch aus und überforderten damit die weltweiten Produktions- und Logistikkapazitäten massiv, mit den bekannten Folgen für die Inflationsraten.

Um im Bild zu bleiben: Der Blick aus dem Seitenfenster ihres Dampfers zwang die US-Notenbank schliesslich zu einer Vollbremsung, um ihre Glaubwürdigkeit bei der Inflationsbekämpfung zu retten. Doch die Auswirkungen dieser Politik lassen sich wegen des getrübten Blicks in die Zukunft kaum abschätzen. Damit ist auch klar, wie die Geschichte weitergeht. Die Volkswirtschaften treten nun langsam in die Phase ein, in der die vergangenen Zinserhöhungen einen Einfluss haben könnten. Doch wann und wie wird dies geschehen? Das werden die Zentralbanken erst beim nächsten Konjunktureinbruch merken, um dann in Not wieder Gas zu geben und das Spiel von vorne beginnen zu lassen. Willkommen in der Stop-and-go-Wirtschaft.