Vor 20 Jahren, also mitten auf dem Höhepunkt der Dot.com-Blase, sorgten der Journalist James K. Glassman und der Ökonom Kevin Hassett mit einer gewagten These für Schlagzeilen.

Damals sprachen sie von einem fairen Indexniveau für den Aktienindex Dow Jones von um die 36'000 Punkten. Zu diesem Zeitpunkt notierte er bei zirka 9000 Punkten. Nach Ansicht Glassmans und Hassetts sollte den Börsianern also in den kommenden Jahren eine Vervierfachung der Aktienwerte ins Haus stehen.

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Von diesem Zielwert sind wir aktuell noch immer rund 30 Prozent entfernt. Gleichzeitig sind die Renditen von 10-jährigen US-Staatsanleihen von 2,75 Prozent zu Jahresbeginn auf aktuell um die 1.6 Prozent gesunken. In der Eurozone und der Schweiz ist die Situation noch extremer. Die Renditestrukturkurven für Staatsanleihen sind mittlerweile de facto über alle Laufzeiten betrachtet negativ.

Angesichts dieser Zinsniveaus stellt sich mancher Investor zunehmend die Frage nach der Bewertungsbasis von Aktien und Aktienindizes. Aktuell liegen die Kursgewinnverhältnisse der grossen internationalen Aktienindizes wie dem Dow Jones, DAX oder SMI zwischen dem 14- und 22-fachen der aktuellen Gewinne. Das erscheint intuitiv.

Ist eine weitere Hausse möglich?

Gleichwohl ist die Frage erlaubt, ob angesichts der niedrigen oder sogar negativen Zinsen nicht eine weitere Aktienhausse möglich ist. Diese könnte sich zum einen aus einer Neubewertung auf höherem Niveau und zum anderen aus dem weiterhin bestehenden Mangel an echten Anlagealternativen alimentieren. Unter diesen Annahmen würden wir uns letztlich der von Glassman und Hassett errechneten Hausmarke des Dow Jones in Höhe von 36'000 Punkten nähern. Dieses Szenario hat – auf den ersten Blick – einen gewissen Charme.

Wie sieht das aus finanzmathematischer Perspektive aus? Sehr vereinfacht dargelegt, errechnet sich der «fair value» einer Aktie oder eines Indexes aus den künftigen Erträgen – in der Regel den Dividenden –, diskontiert mit dem «risikofreien» Zinssatz. In einer leicht modifizierten Formel wird der Nenner gerne als Summe aus risikofreiem Zins plus Risikoprämie, abzüglich des nominalen Gewinnwachstums, formuliert. Formal stellt sich dies dann wie folgt dar:

Barwert (Indexstand) = Indexdividende ÷ (Risikofreier Zinssatz + Risikoprämie - Gewinnwachstum)

Selbst dem Nichtbörsianer erschliesst sich damit sofort das offenbare Potential sinkender Zinssätze: Zukünftige Erträge diskontiert mit einem stetig sinkenden Nenner (infolge des niedrigeren Zinssatzes) haben einen immer höheren Barwert (Indexstand) zur Folge.

Zwei Issues...

Wenn es so einfach wäre, würden die Aktienkurse in den USA und der Eurozone bereits in der Stratosphäre des Börsenhandels notieren. Abgesehen von der Tatsache, dass es sich bei dieser Rechnung um eine zeitlich unbefristete Barwertformel handelt, hat die Sache aber mindestens zwei Haken.

Erstens erschwert die oben genannte Gleichung bei negativen Zinsen oder Zinsen von unter zwei Prozent die ökonomische Interpretation deutlich. Und zwar unabhängig davon, wie geschickt man die Formel verfeinert. Von der Mathematik ganz zu schweigen. Spätestens seit der Grundschule wissen wir, dass ein Bruch, bei dem der Nenner gegen Null konvergiert, nicht mehr linear ist!

Zweitens muss die Frage erlaubt sein, ob das langfristige Gewinnwachstum konstant bleibt. Akzeptiert man als Marktteilnehmer die Hypothese, dass niedrige Zinsen ein schwaches Wachstum widerspiegeln, so kann man getrost davon ausgehen, dass auch das Gewinnwachstum der Unternehmen sinkt.

Blaupause Japan

Beste Blaupause für dieses Phänomen ist die japanische Börse. Ende 1989 notierte der Leitindex Nikkei 225 bei zirka 40'000 Punkten und war damit mit etwa dem 50- bis 60-fachen der Gewinne bewertet. Stetig sinkende Zinsen hätten die Kursraketen eigentlich weiter befeuern müssen. Doch das Gegenteil war der Fall.

Heute ist der Kabuto-Cho in eine Art Dornröschenschlaf versunken. Obwohl die 10-jährigen Zinsen stetig gefallen sind und heute unter Null liegen, notiert der Nikkei 225 aktuell bei nur 20'500 Punkten und die Bewertung liegt bei einem Kursgewinnverhältnis von etwa 14. Betrachtet man die Entwicklung des Unternehmensgewinn-Wachstums, ist auch verständlich, warum. Denn das Gewinnwachstum ist in den letzten 20 Jahren de facto auf etwa ein Prozent gesunken.

Sind damit herkömmliche Bewertungsmethoden reif für den Börsenmülleimer? Nicht unbedingt! Vielmehr kann die oben genannte Formel als Hilfsinstrument herangezogen werden.

Denn nach Umstellung der Formel kann man recht einfach das heute im Markt eingepreiste Gewinnwachstum errechnen. Auf der Basis des heutigen Dow Jones Index von zirka 26'000 Punkten, errechnet sich so ein langfristiges nominales Gewinnwachstum von zirka 3,5 Prozent. Das entspricht ziemlich genau dem Wachstum des nominalen Bruttosozialprodukts der Vereinigten Staaten. Da liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der US-Markt tatsächlich fair bewertet ist und der aktuelle Kursstand des Dow Jones trotz Niedrigzinsumfeld den «fair value» widerspiegelt.

Wie schnell müssten die Gewinne wachsen?

Wie hoch aber müsste das nominale Gewinnwachstum langfristig ausfallen, damit der Dow Jones die Zielmarke von 36'000 Punkten schafft? Erforderlich wäre dafür ein beschleunigtes Gewinnwachstum von mindestens etwa 4,25 Prozent. Das erscheint im aktuellen Kontext eher herausfordernd, insgesamt aber auch nicht unmöglich.

Leider sagt uns diese Methodik nichts über das Timing. Es kann also doch noch sehr viel Wasser die Limmat hinunterfliessen, bis wir die von Glassman und Hassett postulierte Zielmarke erreichen.

*Dr. Franz Wenzel, Anlagestratege für institutionelle Kunden, AXA Investment Managers