Aktienmarkt: Warten auf den Crash

Auf rund das 15-fache ist der Aktienwert von Tesla in den letzten anderthalb Jahren gestiegen. Mittlerweile übertrifft die Börsenkapitalisierung des kalifornischen Elektroautoherstellers diejenigen der Konkurrenten General Motors, Ford, Toyota, Honda, Fiat Chrysler und Volkswagen miteinander – obwohl diese allesamt viel mehr Fahrzeuge produzieren. Und Tesla-Chef Elon Musk ist zum reichsten Menschen des Planeten geworden. Die Entwicklung des Tesla-Aktie steht sinnbildlich für das, was in den letzten ein bis zwei Jahren an den Börsen abgeht. Vor allem Technologiewerte steigen und steigen. Microsoft, Amazon und Google sind mittlerweile alle weit über 1 Billion Dollar wert, Apple sogar mehr als 2 Billionen. Der amerikanische Technologie-Index Nasdaq hat sich seit März letzten Jahres fast verdoppelt. Aber auch der breite US-Index S&P 500 hat sich seit dem Einbruch zu Beginn der Corona-Krise um 72 Prozent gesteigert. Ebenso ist der Weltindex MSCI World seitdem um 74 Prozent nach oben gegangen. Dabei befinden sich die Aktienmärkte der Welt bereits seit 2009, also seit zwölf Jahren, im Aufwärtsgang. «Epische Finanzblase» am Aktienmarkt In die Höhe schiessende Aktienwerte und Indizes: Da schwant vielen Investoren, Analysten und Börsenexperten Böses. Sie befürchten, dass die Aktienbewertungen jede Bodenhaftung verloren haben und bald grosses Unheil droht in Form von Rücksetzern oder in Form eines regelrechten Crashs. Die amerikanische Anlegerlegende Jeremy Grantham spricht von einer «epischen Finanzblase». Diese sei durch extreme Überbewertung, explosive Preisanstiege und hysterisches Spekulieren gekennzeichnet. Wer an Blitz-Haussen wie bei Gamestop oder an x-fach überzeichnete Börsengänge denkt, fühlt sich bestätigt. Auch der amerikanische Investor-Veteran Gary Shilling warnte vor Überhitzung, schon im letzten Mai. «Die Geldanlage-Landschaft ähnelt mehr und mehr dem Crash von 1929 und der Grossen Depression Anfang der 1930er Jahre», schrieb er in seinem viel beachteten Newsletter «Insight». Ebenso hat Mark Haefele Sorgen. «Heute sind alle Voraussetzungen für eine Blase vorhanden», sagte der oberste Anlagechef der UBS vor kurzem zum «Tages-Anzeiger». Dazu zählten tiefe Finanzierungskosten, neue Personengruppen, die am Markt mitmischen, sowie eine grosse Bereitschaft zum rein spekulativen Handeln. Einschlägige Kennzahlen und Indikatoren scheinen das Risiko eines baldigen Absturzes zu bestätigen. Der Shiller-Index, der das Kursniveau ins Verhältnis zu den Gewinnen der letzten zehn Jahre setzt, ist mit einem Wert von 35 für den amerikanischen Aktienmarkt so hoch wie nie mehr seit der Dotcom-Blase, und höher als vor dem Crash 1929. «Es ist eine Zeit, in der man vorsichtig sein muss», kommentierte Robert Shiller, der Urheber des Index. Der Buffett-Indikator als Verhältnis zwischen dem Börsenwert aller kotierten Unternehmen und dem Bruttoinlandprodukt ist für die USA sogar auf dem höchsten je erzielten Wert. «Wer jetzt einsteigt, muss nicht nur einen sehr langen Anlagehorizont, sondern auch extrem starke Nerven mitbringen», warnte Investment-Guru Warren Buffett. Zu beobachten ist auch, dass Händler in einem noch kaum je gesehenen Mass auf Kaufoptionen auf Aktien setzen, um von Kursanstiegen noch stärker zu profitieren. Auf eine ungezügelte Euphorie an den Märkten folgt aber oft ein Absturz. Selbst der amerikanischen Notenbank wird die Börsenhausse unheimlich. Sie verpflichtete die US-Banken, bei einem Stresstest einen Börsencrash um über 50 Prozent durchzurechnen. Der Aktienmarkt und die Wirkung tiefer Zinsen Redet man mit professionellen Börsenbeobachtern aus der Schweiz und Deutschland, sieht jedoch alles weit weniger dramatisch aus. Sie betonen vor allem, dass das gegenwärtige Tiefzinsumfeld weit höhere Bewertungen an den Aktienmärkten zulässt, als wenn die Zinsen höher wären. Denn die Renditen von Anleihen sind wegen der mageren Zinsen im Keller. Leuten, die Anlegemöglichkeiten für ihr Geld suchen, bleibt fast keine Alternative als der Einstieg in Aktien, wenn sie eine nennenswerte Rendite erzielen wollen – was die Nachfrage an den Börsen entsprechend erhöht. «Die Aktien sind sicher nicht mehr günstig, aber auch nicht überteuert», sagt Gregory Hung, Investmentchef bei der Vermögensverwaltung Singularity Group. Er rechnet vor, dass zehnjährige US-Staatsanleihen mit einer aktuellen Rendite von 1,3 Prozent ein Kurs-Rendite-Verhältnis von 75 haben. Das langfristige Kurs-Gewinn-Verhältnis beim Nasdaq-Index sei aber rund 50, womit Technologie-Aktien noch immer günstiger als Staatsanleihen seien. «Es gibt derzeit wenig Alternativen zu Aktien, wenn man Rendite generieren will», so Hung. Auch Thomas Stucki, Chief Investment Officer bei der St. Galler Kantonalbank, nennt das Tiefzinsumfeld als Hauptgrund für die hohen Aktienkurse. «Das wird auch noch mehrere Jahre anhalten», ist er überzeugt. Daneben stehe die gerechtfertigte Erwartung, dass sich die Wirtschaft nach dem Ende der Pandemie rasch erhole. «Der Vergleich der jetzigen Situation mit der Dotcom-Blase hinkt jedenfalls», sagt Stucki. Denn damals seien viele Internetfirmen hoch gehandelt worden, die weder einen Umsatz und schon gar keinen Gewinn machten. «Die grossen Tech-Firmen von heute hingegen verdienen sehr viel Geld und gehören zu den Gewinnern der Corona-Krise.» Aktienbewertungen: «Korrektur wäre angemessen» Wegen der tiefen Zinsen seien Bewertungen über den historischen Normwerten angemessen, sagt auch Adrian Daniel, Portfoliomanager beim Vermögensverwalter Mainfirst. «Die globale Aktienentwicklung folgt eins zu eins der expansiven Geldpolitik der Notenbanken.» Das werde auf absehbare Zeit so weitergehen. «Der amerikanische Notenbankchef Jerome Powell will Vollbeschäftigung sehen, bevor die lockere Geldpolitik überdacht wird», so Daniel. «Auch eine Inflationsrate über 2 Prozent wird temporär in Kauf genommen. Die Aktien bleiben so gut unterstützt.» Jetzt in Aktien einzusteigen, mache Sinn. «Man kann natürlich auch auf die nächste Korrektur warten – aber bitte nicht zu lange.» Werner Krämer, Makroökonom bei der Investmentbank Lazard, ist hingegen etwas skeptischer, was die aktuellen Aktienbewertungen angeht. Er spricht von einem überhitzten Aktienmarkt. «Wir laufen seit fast einem Jahr fast nur nach oben.» Das sei eine kritische Entwicklung. «Es wäre angemessen, wenn es wieder mal eine Korrektur geben würde. Ein Rücksetzer um 20 bis 30 Prozent wäre durchaus fällig.» Ob und wann eine Korrektur kommt, da will sich Werner Krämer allerdings nicht festlegen. «Das kann kein Mensch sagen.»