Zugegeben: Der erste Blick auf die Chesa Madalena, eingeklemmt in einer Häuserzeile im Dorfkern von Zuoz, macht Betrachter nicht gezwungenermassen neugierig – Traumhäuser sehen anders aus. Meint man. Das Haus des Glarner Galeristen Ruedi Tschudi ist über die letzten paar Jahre aufwändig restauriert und umgebaut worden, mit viel Gespür für die Bedeutung des Ortes, vom St. Moritzer Architekten Hans-Jörg Ruch, zu dessen bekanntesten Werken das Hotel Saratz in Pontresina gehört. Von aussen wirkt die Chesa Madalena verschlossen, wenig gesprächig – nicht alle Geheimnisse wollen gleich ausgeplaudert sein. Wahrnehmbar wird die Kraft des Hauses erst im Innern, mit dem Staunen über immer noch mehr Türen, die sich wie im Märchen auftun, und immer neuen Geschichten, die sich dahinter verbergen. Gefunden hat Ruedi Tschudi das Haus, in dem eine Bäuerin mit 27 Kälbern und Kühen lebte und über das kaum jemand etwas weiss, eher zufällig, über eine Liegenschaftsanzeige in der «Neuen Zürcher Zeitung». Hans-Jörg Ruch, der in seinem Privathaus wie im Büro von zeitgenössischer Kunst umgeben ist, setzt sich erst mal mit der Geschichte des historischen Gebäudes auseinander. Auf Grund des Zuozer Siedlungsplans wird klar, dass es innerhalb des Hauses Nr. 115 einen mittelalterlichen Wohnturm geben muss.

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Balken aus dem Jahr 1304
Es folgen lange Monate der Planung. Hans-Jörg Ruch lässt das Tschudi-Haus vermessen, baut ein Modell im Masstab 1:20; die kantonale Denkmalpflege nimmt alles minutiös auf und macht eine baugeschichtliche Voruntersuchung, «etwas, das nicht mit jedem Bauherrn und nicht unter spekulativem Druck möglich ist». Festgestellt wird, dass der Wohnturm im Innern (Grundriss: 10 auf 10 Meter) zu den Brandüberresten des Schwabenkrieges im Jahr 1499 gehört. Obwohl der oberste Teil, der Abschluss, fehlt, gilt er mit seinen 16 Metern als höchster erhaltener Turm von Zuoz. Gefunden wird ein verkohlter Balkenstumpf, der sich dank dendrochronologischer Untersuchung sehr genau datieren lässt: Der Baum für den Balken ist im Herbst/Winter 1304 gefällt und ein Jahr später im Neubau des Turmes verbaut worden.

Nicht zementiert, sondern wie ursprünglich in einem Sandbett verlegt wird das Kopfsteinpflaster im untersten Raum, der Cuort und frühere Durchgang zum Viehstall. Die alten, schweren Deckenbalken, der Sulér-Boden vom ersten Stock, sind laut baugeschichtlichem Bericht «neu». Denn bis 1593 gab es zwischen dem benachbarten, angebauten Haus und dem Wohnturm im Tschudi-Haus eine Gasse, erst später, mit dem Verändern, ist das Haus Nr. 115 um Sulér, Cuort, Vieh- und Heustall vergrössert worden. Womit sich eine Frage stellt, die bei Restaurierungen immer auftaucht: In welchen «ursprünglichen» Zustand soll ein Gebäude zurückgeführt werden? Häuser sind schliesslich keine Museen, sondern lebendige Organismen.

Vor der eigentlichen Baueingabe werden mit gesonderten Bewilligungen kleinere und grössere Abbrucharbeiten vorgenommen für die Projektierung, um zu sehen, wie das Haus gewachsen ist, damit vernünftig weitergebaut werden kann. Mehrere in den letzten 50 Jahren eingebaute Kammern werden entfernt, und der Wohnturm praktisch freigelegt, «wir haben ihm den Mantel abgezogen». In einer Stube sind Architekt und Bauherr hin- und hergerissen, ob das wunderbare Täfer aus dem 17. Jahrhundert belassen oder eine weitere Schicht abgetragen werden soll. Schliesslich entscheiden sie sich für das darunter liegende, noch ältere Täfer: Es stammt aus dem Jahr 1511.

Permanent habe man abgewogen, erinnert sich der Architekt, was geflickt, was neu werden, was bestehen bleiben soll. Entscheidend sei das Verhältnis von alt und neu, eine Durchdringung von beidem dürfe es nicht geben, höchstens Berührungen, kein Ineinanderwursteln. «Gegensätze müssen sichtbar sein, damit ein Spannungsverhältnis entsteht, damit es zu vibrieren beginnt.»

Hans-Jörg Ruch spricht gerne von Blöcken und Schalen, mit denen er arbeitet, die er in alte Häuser «hineinstellt». Das ganze Oberengadin mit seinen Seen und Bergen empfindet er als Gefäss, als Schale mit flachem Boden und unterschiedlich wie unregelmässig geformte Ränder. Was er in der Natur spürt, findet sich in seinen Bauten wieder: Um den Wohnturm legt er einen L-förmigen Raum, «eine Schale», welche die alte Substanz hervorhebt und gleichzeitig einen neuen Nutzen zulässt; in eine seitliche Erweiterung der Cuort stellt er einen von den Mauern losgelösten, die Haustechnik und Toiletten beinhaltenden Block; mit einem Block, einer von «Strato» für das Tschudi-Haus angefertigten Kochinsel, arbeitet er auch in der neuen, in der früheren Speisekammer untergebrachten Küche.

«Das Haus ist immer Grösser geworden»
Bei der Wahl der Materialien beschränkt sich Hans-Jörg Ruch auf rohen Beton und Eisen, auf ein Holz und einen Stein. Weniger sei besser, mehr bereits zu viel. Materialvielfalt («Baumusterzentrale») oder Gekünsteltes sind ihm ein Gräuel. Als Holz für die neuen Böden verwendet er unterschiedlich breite, handgehobelte Bretter aus Lärchen, acht Zentimeter dick, konisch geschnitten, wie früher und versetzt verlegt; als Stein lässt er Bergeller Quarzit spalten, nicht sägen – beim Berühren von Oberflächen sollen die handwerklichen Prozesse spürbar bleiben.

Erstaunlicherweise wird die Chesa Madalena mit jeder Treppe, die man hinaufsteigt, noch etwas heller. Letzteres mag vielleicht am vergleichsweise grossen Fenster liegen, welches zuoberst die ehemalige Gasse thematisiert. Schon während des Umbaus wundert sich Ruedi Tschudi über eine ähnliches Phänomen: «Das Haus ist immer grösser geworden.» Langsam wird ihm klar, dass die Chesa Madalena nicht einfach nur ein Ferienhaus sein soll, auf der Baustelle überrascht er Ruch mit der Idee, dass er sein neues Haus auch als Galerie nutzen will.

Immer schon ist in alten Engadiner Häusern nur etwa 20 bis 25 Prozent des Volumens zum Wohnen gebraucht worden. Die restlichen, kalten Räume waren dem Heu, dem Vieh, den Vorräten und Geräten vorbehalten. Wie beim Gegensatz von alt und neu spielt bei Hans-Jörg Ruch auch der Übergang von warm zu kalt eine wichtige Rolle. Entrümpelt und kalt belässt er den haushohen Heustall («eine Kathedrale»), auch den obersten Teil des mittelalterlichen Wohnturms – an beiden Orten sind später, bei der ersten Vernissage monumentale Skulpturen von Richard Long ausgestellt, die eine im Heustall ist von jeder Etage des neuen Lifts einsehbar.

Die Magie des Hauses bewahrt
Etwas unerwartet kommt die Chesa Madalena auf Ruedi Tschudis Betreiben zum Türmchen des Gemeindehauses Zuoz. Einst für das Trocknen der Feuerwehrschläuche genutzt und später vermauert, gelangt man heute über eine Tür – «das ist keine Türe», korrigiert der Architekt, «sondern ein Stück Wand, das man öffnet» – ins benachbarte Haus Nr. 113 und über eine neue, schmale Holztreppe zum einzigen Ort des Hauses mit Aussicht auf den Dorfplatz von Zuoz und in die Berge.

Während des Umbaus fährt Ruedi Tschudi viel ins Engadin, immer freut er sich auf die Diskussionen mit dem Architekten, ist froh, dass für die Bäuerin eine Lösung gefunden werden kann – sie bewirtschaftet jetzt den benachbarten Bauernhof – und staunt jedesmal, wie gut die Stimmung auf dem Bau ist, wie professionell die Handwerker arbeiten. Für den Zimmermann, der seit Jahren zum Team gehört, erfährt er, hat Hans-Jörg Ruch in St. Moritz ein kleines, modernes Holzhaus gebaut.

Alte, starke Bauten, davon ist der Architekt überzeugt, verzeihen einem nichts. Genauso wie er sagt, dass man ständig auf der Hut sein müsse, dass einem die Berge nicht auslachen. Er gehe deshalb gerne auf seine Baustellen, betrachte die unfertigen Werke und versuche wie vor einem Bild zu verstehen, ob es die richtige Form annehme. Hunderte Male sei er auf der Baustelle in Zuoz gewesen, um sich dem Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert und seiner fast unglaublichen Präsenz zu stellen. Nur schwer lässt sich erklären, was einen Ort beseelt und formt. Jedenfalls hat Hans-Jörg Ruch die Magie des Hauses Nr. 115 auf wunderbare Weise bewahrt.

Wolfram Meister ist Journalist und Herausgeber des Newsletters «WeinWisser».