Jahrhundertchance oder Komplettausstieg aus Aktien: Zwischen diesen Polen bewegen sich derzeit die Einschätzungen zur Börsensituation. Seit Mitte März 2009 haben die Optimisten recht bekommen. Der Swiss Market Index (SMI) ist in dieser Zeitspanne rasant gestiegen und hat rund ein Drittel zugelegt. Trotz der rasanten Fahrt nach Norden ist er freilich noch weit weg von seinem Allzeithöchst bei 9531 Punkten im Juni 2007. Soll man jetzt also noch auf den fahrenden Börsenzug aufspringen? Oder ist die Erholung zu schnell vonstatten gegangen, und es wird bald der grosse Dämpfer folgen?
Jetzt Aktien zu kaufen, empfiehlt der legendäre Investor Warren Buffett, unter anderem Grossinvestor bei Swiss Re. Seine Empfehlung richtet sich allerdings nicht auf den schnellen Gewinn. Er sieht die Aktienkurse derzeit auf einem Niveau, das sich langfristig als günstig erweisen wird.
Das sieht der Kölner Vermögensverwalter Markus Zschaber diametral anders. Er rät jetzt zum Komplettausstieg aus Aktien. Zschaber, der fast vier Milliarden Franken verwaltet, ist als Börsenexperte regelmässiger Gast beim deutschen Nachrichtensender N-TV. Im Februar 2000 stieg er schon einmal ganz aus Aktien aus, nachdem er dies öffentlich angekündigt hatte. Damals zu Recht, wie sich bald zeigte: Die Börse strebte zwar bis August 2000 in noch luftigere Höhen, aber der Fall danach war umso tiefer. Alle Anleger, die Zschabers Rat befolgt hatten, konnten sich glücklich schätzen. Seinen Aufruf zum Komplettausstieg begründet er heute so: «Das jüngste Aktienkursrally ist durch Fundamentaldaten nicht gedeckt.» Er verweist darauf, dass die Wirtschaft viel schlechter dastehe, als es die Aktienkursentwicklung der vergangenen Monate impliziere, und rechnet deswegen «mit einer deutlichen Kurskorrektur».
Zeit. Warren Buffett, das Orakel von Omaha, sieht zwar ebenfalls keine Aufhellung am Konjunkturhimmel. In einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CNBC sagte er: «Die Geschäfte laufen flach.» Trotzdem rät er jetzt zu Investitionen. «Die Anleger können nicht warten, bis sich die Konjunktur wieder bessert, weil die Aktienmärkte schon viel früher anziehen.» Er investiere jetzt viel lieber in Aktien, als Liquidität zu halten oder Staatsanleihen zu kaufen.
Buffett und Zschaber schätzen die wirtschaftliche Lage also ähnlich ein – und kommen dennoch zu einander entgegenlaufenden Folgerungen. Aus ihren unterschiedlichen Situationen ist das logisch.
Warren Buffett ist einer der reichsten Menschen der Welt. Er hat sein Vermögen an der Börse nicht zuletzt deshalb verdient, weil er Zeit hat und auch längere Baissen durchstehen kann. Seine Anlagefirma Berkshire Hathaway ist als Aktiengesellschaft organisiert, das heisst, die Anleger können Buffett das Kapital wegen einiger Monate mit schlechter Performance nicht einfach entziehen. Und seine Gesellschaft verfügt über ein riesiges Polster: Per Ende März hatte Berkshire Hathaway flüssige Mittel in Höhe von rund 23 Milliarden Franken. Damit steht sie selbst eine lange andauernde Baissephase problemlos durch.
Anders verhält es sich bei Zschaber. Als Vermögensverwalter muss er sich monatlich für seine Leistungen verantworten. Er kann es sich weniger leisten, über Monate hinweg das Geld seiner Kunden zu verlieren. Diese könnten ihm dann schnell das Vertrauen und das Geld entziehen.
Konsum. Sollen Privatanleger nun einsteigen oder zuwarten? Wer genügend Risikobereitschaft mitbringt, um Verluste oder zumindest eine längere Durststrecke – möglicherweise deutlich länger als ein Jahr – durchzustehen, wird in Zukunft dafür wohl belohnt werden. Denn langfristig betrachtet, sind die Aktienmärkte eher günstig (siehe Grafiken unten). In der kürzeren Frist kann es an der Börse freilich zu herben Enttäuschungen kommen, weil sich die Wirtschaft viel langsamer erholen wird, als sich das die meisten Anleger aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre vorstellen können.
Hauptgrund dafür ist, dass die Konsumenten fehlen. Damit sind hauptsächlich die Amerikaner, aber auch die Briten und Australier gemeint, die sich in den vergangenen Jahren hoffnungslos überschuldet haben. Das zeigen die jüngsten Zahlen von American Express und von J.P. Morgan: American Express musste im zweiten Quartal jeden zehnten Franken bei den Kreditkartenschulden abschreiben, und J.P. Morgan verlor in derselben Zeit rund eine Milliarde Franken mit Konsumkrediten. Die US-Konsumenten können nicht mehr auf Einkaufstour gehen, sie müssen sparen. «Der Schuldenabbau wird Jahre dauern», sagt Venkatraman Anantha-Nageswaran, der «Dr. Van» genannte Investmentchef bei Julius Bär.
Das Hoffnungsargument, dass die Schwellenmärkte, insbesondere China, die Rolle der Vereinigten Staaten immer mehr übernehmen könnten, ist zu bezweifeln. Als Produzenten vielleicht schon, aber noch lange nicht als Konsumenten. Gemäss dem National Bureau of Statistics of China verfügen städtische Haushalte im Reich der Mitte derzeit über ein verfügbares Monatseinkommen von 130, die Landbevölkerung sogar von nur rund 40 Franken. Welche Güter, die im Westen produziert werden, können chinesische Konsumenten damit kaufen? Es dürfte noch eine Weile dauern, bis die Konsumenten in China auf dem Niveau der Amerikaner angelangt sein werden.
Gewinne. Wenn die Konsumenten die Konjunktur in den nächsten Jahren also eher nicht antreiben können – dann vielleicht die Unternehmen? Normalerweise sind es ja die Firmeninvestitionen, die eine Wachstumsphase initiieren. Just in diesem Bereich ist derzeit wenig zu erwarten. Die Kapazitätsauslastungen der Firmen sind noch immer am Fallen. Deshalb dürfte es noch dauern, bis die Firmen wieder bereit sind zu investieren.
Aber was ist mit den überraschend guten Unternehmensgewinnen der vergangenen Wochen? Es waren vor allem Banken, die mit ihren Gewinnen positiv überraschten. Für diese sind die Bedingungen derzeit nicht schlecht. Ihr traditionelles Hauptgeschäft ist die Fristentransformation: kurzfristig Gelder aufnehmen und langfristig ausleihen. Und die kurzfristigen Zinsen sind derzeit sehr tief (der Monats-Libor-Satz in Dollars steht bei 0,28 Prozent).
Das sind die Zinsen, welche die Banken bezahlen müssen. Gleichzeitig sind die langfristigen Zinsen für Ausleihungen relativ hoch (der 10-Jahres-Swap-Satz in Dollars steht bei 4,37 Prozent). Und die Investmentbanken müssen wegen der Wirtschaftskrise zwar Abschreiber vornehmen, aber sie profitieren auch davon: Im ersten Halbjahr 2009 konnten sie 173 Deals im Zusammenhang mit angeschlagenen oder bankrotten Firmen abwickeln. Gemäss Thomson Reuters ist das die höchste Aktivität seit 2004. Zudem sind die Dienstleistungen der Investmentbanken auch bei Emissionen von Schuldverschreibungen gefragt wie schon lange nicht mehr. Denn Unternehmen und Staaten brauchen Geld und haben im ersten Halbjahr weltweit 3375 Milliarden Dollar über neue Schuldverschreibungen aufgenommen, 14 Prozent mehr als vor einem Jahr.
Die guten Geschäftsergebnisse der Banken sind also mit Vorsicht zu geniessen, weil sie teilweise nicht Anzeichen einer Wirtschaftserholung, sondern Krisengeburten sind.
Defizite. Was die Wirtschaft derzeit vor dem Absturz bewahrt, sind die weltweiten Konjunkturprogramme. Doch diese können nicht auf ewig weitergeführt werden, denn die Ausgaben der Staaten müssen auch irgendwie finanziert werden. Das US-Anlageunternehmen Hayden Capital schätzt die Ausgaben, die allein dieses Jahr nötig sein werden, um Staaten zu finanzieren, global auf 5300 Milliarden Dollar. Dies entspricht neun Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts. Mehr als die Hälfte davon benötigen die USA: Ihr Staatsdefizit für das Jahr 2009 beträgt fast zwei Billionen Franken oder 13 Prozent des US-BIP. Das wird früher oder später jemand bezahlen müssen – höchstwahrscheinlich die Steuerzahler.
Trotz allen schlechten Nachrichten zur Wirtschaftslage bleibt Warren Buffett optimistisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien die USA noch viel schlechter dagestanden, ein Defizit von 120 Prozent des Bruttosozialproduktes habe das Land damals eingefahren, so Buffett. Die USA hätten auch das geschafft, überhaupt hätten sie es immer geschafft. «Wir werden da wieder herauskommen, und es wird besser sein als jemals zuvor.» Der Langfristinvestor hat gesprochen. Amen.