Sie sind jetzt 75. Was ist das Wichtigste, das Sie über Geldpolitik gelernt haben?
Ernst Baltensperger*: Glaubwürdigkeit und Stetigkeit sind entscheidend für den Erfolg der Geldpolitik. Und: Man darf die Geldpolitik nicht überfordern.

Nicht überfordern womit?
Indem man sie etwa als Ersatz für Fiskal und Arbeitsmarktpolitik missbraucht oder ihr die zusätzliche Aufgabe der Bankenüberwachung aufbürdet, wie es bei der Europäischen Zentralbank der Fall ist.

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Warum ist diese Aufgabe ein Problem?
Zentralbanken müssen Geschäftsbanken in einer systemischen Krise als Lender of Last Resort beistehen und sie mit Liquidität versorgen. Für die allgemeine Bankenregulierung und -überwachung sollte aber eine andere Behörde zuständig sein.

Eine Behörde wie die Finma?
Genau. In der Schweiz sind Nationalbank und Finma getrennt. In Europa sind beide Behörden unter einem Dach: jenem der EZB. Das birgt Interessenkonflikte. Versäumt es der Aufsichts-Arm, marode Banken abzuwickeln, so gerät der Geldpolitik-Arm unter Druck, die Zinsen nicht zu erhöhen. Das ist problematisch und in der Euro-Zone aus der Not geboren.

Hat sich das Notenbanking nicht schon immer aus der Not heraus entwickelt?
Notenbanken sind im Idealfall langfristig orientiert. Aber natürlich gab es historisch immer wieder Situationen, in denen sie improvisieren mussten. Zum Beispiel beim Kollaps des Bretton-Woods-Systems 1973, als man zu flexiblen Wechselkursen überging. Anfangs war man etwas hilflos. Die Notenbanken mussten lernen, wie Geldpolitik in der neuen Welt funktioniert.

Datieren Ihre Einsichten aus dieser Zeit?
Die Phase war entscheidend für mich. Ich kam als junger Professor aus den Vereinigten Staaten zur Schweizerischen Nationalbank. Es galt, sich nach dem Epochenwechsel an neue globale Rahmenbedingungen heranzutasten.

Epochenwechsel sind ja gar nicht so selten. Notenbanken gingen 1990 von der Geldmengen- zur Zinssteuerung über, ab 2008 kamen unkonventionelle Massnahmen hinzu. Muss man Geldpolitik alle zehn bis zwanzig Jahre neu denken?
Kann sein. Oft pendelt sich ein Modus ein; nach einer Weile passiert etwas und dann muss man einen neuen Modus erfinden. In Bezug auf die Schweiz sehe ich diese Wechsel aber nicht als Zäsur. Die hiesige Geldpolitik wollte im Grunde genommen stets dasselbe: eine Politik der monetären Stabilität führen. Geldmengen- oder Inflationsziele hatten die Funktion, diese grundlegende Idee dem Publikum zu kommunizieren.

Gibt es so etwas wie eine SNB-Doktrin?
Ich denke schon. Mit der Idee, man könne die Konjunktur geldpolitisch feinsteuern, hat man sich hierzulande nie angefreundet. Neben der Stetigkeit gibt es aber noch ein zweites Element der SNB-Philosophie.

Und zwar?
Das Bewusstsein, dass man als kleines Land mit einer internationalen Währung abhängig vom Ausland ist. Dieser Umstand zwingt einen manchmal, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht gerne macht: etwa einen Mindestkurs einzuführen.

Der ehemalige SNB-Volkswirt Ulrich Kohli bezeichnet ihn als «historischen Fehler».
Da bin ich anderer Meinung. Falsch war der Versuch, den Euro im Verlauf von 2009 bei 1,50 Franken zu stabilisieren. Man hat damals zu wenig realisiert, dass der Franken eigentlich unterbewertet war. 2011 war die Situation aber ganz anders. Der Franken war drastisch überbewertet. Ohne Mindestkurs wäre es zu massiven Verwertungen in der Volkswirtschaft gekommen.

War auch die Aufhebung 2015 richtig?
Ja. Kohli und andere Kritiker glaubten, die SNB könnte sich nie mehr vom Mindestkurs lösen und würde schliesslich den Franken dauerhaft an den Euro anbinden. Das Urteil hat sich als falsch erwiesen.

Wie viel geistige Flexibilität hat Ihnen die Finanzkrise als Ökonom abverlangt?
Viel. Die intellektuelle Herausforderung wurde nicht zuletzt gross, als Zentralbanken wie die Federal Reserve allzu lange an einer expansiven Geldpolitik festhielten.

War die Fed-Politik nicht sehr erfolgreich?
Die Fed-Interventionen in der Krise waren richtig. Doch Nullzinspolitik und Quantitative Easing (QE), also die Wertpapierkäufe in den Folgejahren, wurden zu lange fortgesetzt. Die USA sind angesichts ihrer hohen Staatsverschuldung abhängig von tiefen Zinsen. Es ist politisch unklar, ob die Fed die riesige Liquidität, die sie geschaffen hat, rechtzeitig abbauen kann. Überhitzung und Inflation wären dann die Folge.

Davor warnen Ökonomen seit Jahren. Doch die Inflation blieb ein Gespenst.
Ein Gespenst, das noch nicht gebannt ist. Der Aufbau von Inflation ist ein Prozess, der sich über zehn oder zwanzig Jahre hinziehen kann. Die «grosse Inflation» der 1970er Jahre hatte ihren Ursprung in der Politik der 1950er und 1960er Jahre. Ob die superexpansive Politik unserer Zeit ähnliche Folgen haben wird, wird die Zukunft zeigen. Wir haben erst die Hälfte dieses Experiments erlebt. Jetzt folgt der zweite, unangenehmere Teil: der Ausstieg. Er könnte schwieriger ausfallen, als viele sich das vorstellen.

Warum? Die Inflationserwartungen sind weltweit auf niedrigen Werten verankert.
Zum Glück, dank der Glaubwürdigkeit, welche die Notenbanken vor der Krise aufgebaut haben. Man sollte diese Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen und sich über die niedrige Inflation nicht beklagen.

Wer beklagt sich denn?
Die EZB etwa sieht in einer Inflation von rund 1,5 Prozent eine drastische Verletzung ihres Inflationsziels von (knapp unter) 2 Prozent. Das ist unsinnig. Es suggeriert eine Steuerbarkeit der Inflation, die es historisch noch nie gegeben hat und auch nie geben wird. Die Inflation kann man nicht punktgenau steuern.

Was ist ein besserer Ansatz?
Die SNB assoziiert Preisstabilität mit einer Teuerungsrate zwischen 0 und 2 Prozent. Unter- und Überschiessungen dieser Werte werden in Kauf genommen, sofern sich kein dauerhaftes Abdriften abzeichnet.

Vor zwei Jahren lag die Teuerung zeitweise bei –1,4 Prozent. Würde die SNB umgekehrt auch 3,4 Prozent Inflation tolerieren?
Bei einem kurzen Ausschlag, verursacht durch temporäre Faktoren wie Wechselkurs oder Ölpreis, bestünde kein Grund zur Panik.

Zurück zu Europa. Wäre der Aufschwung auch ohne Hilfe der EZB gekommen?
Das QE-Programm hat sicher einen positiven Impuls ausgeübt. Daneben hat Europa von der anziehenden globalen Konjunktur profitiert. Das Problem an diesem Programm ist nicht, dass es gewirkt hat. Sondern, dass es eine Hypothek für die Zukunft schafft. In einer neuen Wirtschaftskrise wäre die EZB heute machtlos.

Hätten Sie die Euro-Zone anstelle von EZB-Chef Mario Draghi fallen gelassen?
Streng genommen hat er das Mandat der EZB überdehnt, als er sagte, er würde alles tun, um die Euro-Zone intakt zu halten. Ein solcher Entscheid obliegt der Politik, nicht der Notenbank. Doch die Politik hat damals versagt. So habe ich Verständnis für sein Handeln. Unverständlich ist aber, dass Draghi das QE-Programm nicht stoppt. Die Deflationsgefahren, mit denen es begründet ist, sind ein Hirngespinst.

Auch die SNB hat beim Mindestkurs stets Deflationsgefahren heraufbeschworen.
Auch sie hat das Wort missbraucht. Man sprach von Deflationsrisiken, aber meinte eigentlich Rezessionsrisiken. Eine echte Deflationsspirale drohte nie. Das einzige Beispiel für eine solche Spirale bleibt die Grosse Depression in den 1930er Jahren.

Zweck der unkonventionellen Geldpolitik ist, der Wirtschaft die Angst vor einer Abwärtsspirale zu nehmen. Leute wie der ehemalige SNB-Chefökonom Kurt Schiltknecht sagen dagegen, dass die Politik selbst Verunsicherung stifte. Was stimmt?
Ich bin da eher bei Schiltknecht. Die Fed und die EZB haben immense Liquidität geschaffen, ohne ein Programm für den Exit aus dieser Politik zu vermitteln.

Die Fed hat letztes Jahr einen Fahrplan zum Abbau der Bilanz vorgelegt.
Ein Schönwetterprogramm. Der Bilanzabbau wird gemäss diesem Plan zehn bis zwanzig Jahre dauern. Rezessionen sind nicht vorgesehen. Das ist unrealistisch.

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Quelle: Bloomberg

Ist die grosse SNB-Bilanz ein Problem?
Eine kleinere Bilanz wäre weniger riskant. Die SNB hätte mehr Manövrierraum im Fall einer Krise. Und sie könnte die potenzielle Unannehmlichkeit vermeiden, dereinst hohe Zinsen zahlen zu müssen, damit die vielen Franken nicht in Umlauf gelangen.

Wo sollten die Prioritäten liegen: bei einer Zinserhöhung oder beim Bilanzabbau?
Vielleicht ergeben sich Gelegenheiten, da und dort ein paar Euros loszuwerden. Man muss sich aber bewusst sein, dass der Aktionsradius von der EZB abgesteckt wird: Wenn sie die Zinsen erhöht, kann die SNB nachziehen – wenn sie ihre Bilanz abbaut, wird es auch für die SNB leichter.

Klingt nach einer Scheinselbstständigkeit.
Eine Politik ohne Abhängigkeiten gibt es in einer globalen Welt nicht. Trotzdem ist die SNB im Lauf der Geschichte immer ihren eigenen Weg gegangen. Sie war über die Zeit stets um einen Tick restriktiver als andere Zentralbanken.

Bringt es das wirklich? Jan-Egbert Sturm von der ETH-Konjunkturforschungsstelle meint, die SNB solle sich an den anderen Notenbanken orientieren und 2 Prozent statt 1 Prozent Inflation zulassen.
Die Schweiz sollte in diesem Punkt andere Notenbanken nicht imitieren. Für die Inflation ist ein Zielband sinnvoller als ein Punktziel. Leider hat sich auch die Fed seit Bernanke mehr und mehr auf ein Punktziel ausgerichtet.

Wie wichtig sind Notenbankgouverneure als Figuren für die Geldpolitik?
Wichtig. Personen wie der einstige Fed-Chef Paul Volcker oder Fritz Leutwiler in der Schweiz sind Legenden geworden.

Wie wichtig ist Präsident Thomas Jordan als Person für die Nationalbank?
Sehr wichtig. Formal haben die drei Direktoriumsmitglieder dieselben Befugnisse. Aber ein Präsident kann kraft seiner Persönlichkeit grosses Gewicht bekommen.

Zu grosses Gewicht?
Wenn Einfluss auf Überzeugungskraft und Erfahrung beruht, darf es auch gross sein.

Jordan war an der Uni Bern Ihr Assistent. Hat er sich als Person verändert?
Ich habe ihn als intelligenten Gesprächspartner kennengelernt, der interessante Fragen stellt und nicht locker lässt, wenn ihm etwas nicht klar erscheint. Im Amt hat er natürlich an Statur gewonnen. Als Person ist er aber derselbe geblieben.

Braucht es ein Gegengewicht zu ihm?
Das gibt es bereits. Auch die anderen Mitglieder des Direktoriums und des erweiterten Direktoriums und zahlreiche andere Ökonomen in der SNB, die regelmässig beigezogen werden, sind markante und unabhängig denkende Persönlichkeiten.

Welche Gedanken müssen sich die SNB-Forscher zu Kryptowährungen machen?
Sie müssen natürlich verstehen, wie diese Währungen funktionieren. Darüber hinaus sehe ich keinen akuten Handlungsbedarf. Ich glaube nicht, dass Bitcoin oder eine andere Währung über kurz oder lang eine bestehende Landeswährung ersetzt.

Warum nicht?
Bitcoin wird kaum zum Zahlen eingesetzt und nicht als Recheneinheit verwendet. Sogar die Bitcoin-Fans selber rechnen nicht in Bitcoin, sondern in Dollar und Franken. Bedarf gibt es allenfalls in einem Land wie Venezuela, wo die Zentralbank komplett versagt. Aber selbst dort dürfte man eher auf offizielle Währungen wie den Dollar ausweichen.

Wie wichtig ist es, dass eine Währung eine offizielle Zentralbank im Rücken hat?
Eine Währung braucht nicht zwingend eine Zentralbank. Man denke an die früheren Metallwährungen. Trotzdem haben im Lauf der Zeit alle Länder eine Zentralbank eingeführt. Nicht per Zufall: Zentralbanken erlaubten es, Aufgaben wie die Liquiditätsversorgung im Krisenfall oder das Clearing im Zahlungsverkehr wahrzunehmen. Ein Nachteil der Metallgeldsysteme war auch, dass sie zu wenig flexibel auf eine schwankende Nachfrage nach Geld reagieren konnten.

Warum kann die Nachfrage nach Geld überhaupt schwanken?
Am deutlichsten wird dies während einer Finanzkrise, wie sie die Schweiz etwa während des deutsch-französischen Krieges von 1870 erlebte. Die Menschen wollten damals aus Sicherheitsgründen plötzlich viel mehr Geld in liquider Form halten als in normalen Zeiten. Damals gab es aber noch keine Zentralbank, die dieses Geld gegen die Annahme von Wertschriften zur Verfügung stellen konnte. So kam es zur Krise. Die Zinsen schossen in die Höhe, der Zahlungsverkehr war blockiert.

In Kryptokreisen heisst es: Wenn alle Leute Bitcoin verwenden würden, gäbe es das Bankensystem in dieser Form gar nicht mehr und so käme es auch nicht zu Krisen.
Das ist Wunschdenken. Es ist eine Illusion zu glauben, mit Kryptowährungen wäre die Welt krisenfrei. Gerade bei Bitcoin wäre die Krisengefahr gross. Die maximale Anzahl der Geldeinheiten ist bei Bitcoin auf 20 Millionen begrenzt. Das ist, wie wenn die SNB eine fixe Obergrenze von Franken hätte, die sie schaffen kann. Ein solches System könnte den Bedürfnissen der Wirtschaft niemals gerecht werden. Selbst der Goldstandard war nicht so rigid.

Wäre eine Kryptowährung mit einem anderen Mengen-Algorithmus besser?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man je einen Algorithmus finden wird, der den komplexen und wechselnden Erfordernissen der Geldpolitik gerecht wird. Da geht man von zu einfachen Vorstellungen aus.

Der Altmeister
Name: Ernst Baltensperger
Funktion: Emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bern
Alter: 75
Familie: verheiratet
Ausbildung: Lizenziat an der Universität Zürich, Doktorat an der Johns Hopkins University
Professuren:
1968–79: Ohio State University
1979–82: Universität Heidelberg
1981–84: Universität St. Gallen
1984–2007: Universität Bern
Sonstige Tätigkeiten:
1977, 1998, 2005: Berater bei der Schweizerischen Nationalbank
1981–94: Mitglied und Präsident der Eigenössischen Kommission für Konjunkturfragen
2008–12: Direktor und Berater am Studienzentrum Gerzensee