BILANZ: Herr Carey, seit 20 Jahren managen Sie den Pioneer Fund. Was können Anleger von Ihnen lernen?

John Carey: Ich möchte mich selbst nicht zum Vorbild emporheben. Aber meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass man kurzfristigen Wertentwicklungen nicht zu viel Beachtung schenken darf. Die Investmentstrategie darf davon nicht beeinflusst werden. Wer eine gute Strategie gefunden hat, der sollte daran festhalten. Ich bin ein wahrer Glückspilz, dass ich einen sehr guten Investmentansatz vom Gründer der Firma geerbt habe. Von kurzfristigen Trends, wie damals bei der Dotcom-Blase, darf man sich nicht ablenken lassen. Auch wenn das bedeutet, dass der Fonds zeitweise schlechter abschneidet als der Markt.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Das klingt ja sehr gut. Realität ist aber doch wohl eher, dass viele Fondsmanager einen Index nachbauen, statt eine spezielle Strategie zu verfolgen.

Es wird in der Tat zu viel Wert auf Indizes und auf relative Performance gelegt. Der Kunde ist doch aber nur daran interessiert, Geld zu verdienen – egal ob die Erträge besser oder schlechter sind als die der Wettbewerber oder eines Index. Als der Pioneer Fund 1928 aufgelegt wurde, gab es noch keine Ratingagenturen und nur wenige Fonds. Damals hatte man nur die langfristigen Anlageziele der Kunden im Auge. Diese wollen einen positiven Return. Die Branche hat etwas den Blick für dieses Grundbedürfnis der Kunden verloren.

Wozu braucht man dann überhaupt noch eine Benchmark?

Für die Kunden ist es wichtig, dass sie wissen, was sie kaufen. Wer in einen allgemeinen Aktienfonds investiert, will, dass dieser Ähnlichkeit mit dem allgemeinen Aktienmarkt hat. Wir verwenden den S&P 500 als Benchmark, weil er in den USA der prominenteste Index für den gesamten Markt ist. Aber es gibt keine Vorschrift, dass alle unsere Investments aus dem Index kommen müssen. Wir müssen uns auch nicht nach der Gewichtung des S&P richten.

Phasenweise schlechter abzuschneiden als der Index, macht Ihnen also nichts aus?

Man darf die Arbeit als Fondsmanager nicht persönlich nehmen. Wer jedes Mal euphorisch wird, wenn der Markt hochgeht, oder deprimiert ist, wenn der Markt fällt, wird diesen Job nicht lange machen können. Fondsmanager müssen sich von ihrer Arbeit distanzieren können und sie sehr objektiv behandeln, ebenso wie beim Schach oder beim Tennis. Man ist kein schlechterer Mensch, nur weil man zeitweise eine schwache Performance erlebt.

Sie scheinen ja sehr locker an Ihre Arbeit zu gehen.

Überhaupt nicht. Dieser Job ist extrem zeitintensiv. Und es gibt keine Möglichkeit, das abzukürzen. Zwar haben wir heute eine Menge Technik, die uns Daten liefert. Schliesslich muss man die Anlageentscheidungen aber selbst treffen, und das ist immer noch eine Menge Arbeit. Ich muss die Firmen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und die Branche analysieren. Einige Leute glauben aber, an der Wall Street gehe es darum, in Limousinen herumzufahren, Wein zu 300 Dollar pro Flasche zu trinken, auf ein paar Knöpfe zu drücken und am Telefon zu hängen. Tatsächlich sitzt man aber die meiste Zeit ruhig am Schreibtisch und liest irgendwelche Studien und analysiert Zahlen. Es ist kein glamouröser Job. Es ist ein schwieriger Job.

Beschreiben Sie Ihren spezifischen Investmentprozess.

Ich bin immer auf der Suche nach einer «speziellen Situation», die zu einer attraktiven Bewertung einer Aktie führt. Das können ganz verschiedene Umstände sein. Dann lege ich einen Zielpreis fest. Das ist ganz wichtig für die Verkaufsdisziplin. Wenn ich alle Fakten richtig analysiert habe, dann wird sich der Aktienkurs in Richtung Zielpreis bewegen. Ich werde unseren Zielpreis dann noch einmal überprüfen. Wenn ich nach wie vor der Meinung bin, dass dies der faire Wert ist, dann verkaufe ich den Titel.

Läuft es immer so reibungslos?

Leider nicht. Managementfehler führen manchmal dazu, dass Firmen ihr Ertragspotenzial schwächen und sich ihre Kapitalstruktur verschlechtert. Wenn ich das feststelle, muss ich sofort verkaufen – ob der Kurs nun in der Nähe des Zielpreises ist oder nicht.

Kommt das oft vor?

Öfter, als mir lieb ist. Der Wettbewerb ist in fast jeder Branche sehr stark. Neue Konkurrenten oder ein Wandel in der Wirtschaft können dazu führen, dass die Firma für längere Zeit negativ beeinflusst wird. Es können auch neue Gesetze, Steuern oder andere staatliche Interventionen sein, die den Wert einer Firma beeinträchtigen. Veränderungen in einer Branche können dazu führen, dass einzelne Produkte gar nicht mehr nachgefragt werden. Alle technologischen, regulatorischen, wirtschaftlichen und wettbewerbsbedingten Veränderungen beobachte ich daher sehr genau.

Wie lange halten Sie eine Aktie?

Im Durchschnitt sechs bis sieben Jahre. Das ist eine moderate Umschlagsrate. Es können auch mal 20 Jahre und mehr werden. Wenn wir aber feststellen, dass der Wert nicht mehr da ist, dann verkaufen wir auch nach kürzester Zeit.

Haben Ihre Anleger einen ebenso langen Atem wie Sie?

Wir tun, was wir können, um unsere Investoren davon zu überzeugen, dass ein langfristiger Ansatz der beste ist. Inzwischen haben wir viele Anleger mit diesem Zeithorizont. Ich sage den Kunden immer, dass dies kein Fonds für kurzfristige Spekulationen ist. Er ist nicht geeignet für Leute, die erwarten, jedes Quartal besser als der Markt abzuschneiden. Es ist eher ein Fonds für Investoren, die ihr Geld für zehn oder mehr Jahre anlegen wollen.

Warum sollte ein Schweizer Anleger in US-Aktien investieren?

Die Bewertungen sind besser, das Gewinnwachstum höher, das Wirtschaftswachstum stärker, und die Währungssituation stabilisiert sich. Zudem sind die internationalen Geschäftsbeziehungen vieler US-Unternehmen vorteilhaft. Zurzeit stecken die attraktivsten Wachstumschancen in Ländern wie China, Indien und in Südamerika. Hinzu kommt, dass viele Anleger seit einiger Zeit unterinvestiert sind. Viele US-Anleger haben ihr Geld in Immobilen und Anleihen gesteckt. Aktien werden als Assetklasse für Investoren wieder interessanter werden.

Bisher hat die Wall Street aber schwächer abgeschnitten als die europäischen Börsen.

In Dollars ist der Performance-Unterschied nicht so gross, denn 2005 ist der Dollar viel stärker geworden. Aber es ist schon richtig, dass sich europäische Titel tendenziell besser entwickelt haben als US-Aktien.

Gibt es denn keine Korrelation zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung an den Aktienmärkten?

Es gibt immer eine Verzögerung beim Anlageverhalten. In Europa erwarten die Anleger offenbar eine Genesung der Wirtschaft und investieren auf dieser Grundlage. Vielleicht ziehen sie ihr Geld aus den USA wegen des starken Euro ab. Dabei haben sie aber nicht im Hinterkopf, dass die Währungssituation sich geändert hat. US-Investoren sind vermutlich wegen der Zinsen, des Kriegs im Irak und des hohen Ölpreises verunsichert. Der Aktienmarkt kann tatsächlich einige Zeit von der Wirtschaftslage abgekoppelt sein. So eine Situation hält aber nicht über einen längeren Zeitraum an.

Glauben Sie, dass die Aktienmärkte in Amerika bald aufholen werden?

Davon gehe ich aus. Ich wünsche den europäischen Märkten natürlich nichts Schlechtes. Am liebsten würde ich alle Märkte wachsen sehen. Viele Firmen, in die ich investiere, haben erhebliche Wirtschaftsbeziehungen mit Europa. Es ist sehr wichtig für Firmen wie Hewlett-Packard oder Johnson & Johnson, dass die europäische Wirtschaft stark ist. Aber im Moment hat sich die US-Wirtschaft besser entwickelt als die europäische, und die Aktienmärkte honorieren das nicht. Dieses Missverhältnis wird sich bald auflösen.

Welches Investment hat Ihnen bisher besonders viel Freude bereitet?

Da sind beispielsweise zwei Aktien, die schon seit Mitte der achtziger Jahre im Fonds sind: jene der Drogeriekette Walgreens und des Verlags John Wiley & Sons. Ich mag Drogeriemärkte, da sie innerhalb der Einzelhandelsbranche sehr schnell wachsen. Und Walgreens hat sich über die Jahre sehr sehr gut entwickelt. Die Firma wächst, eröffnet neue Geschäfte und zahlt jedes Jahr eine Dividende. Natürlich hat sich die Branche mit der Zeit verändert. Einige schwächere Wettbewerber sind vom Markt verschwunden. Seit wir die Aktien gekauft haben, hat sich der Kurs mehr als verzwanzigfacht. Über kürzere Zeit geht der Kurs auf und ab, aber die langfristige Trendlinie steigt. Und wir sehen immer noch Aufwärtspotenzial.

Und was ist mit Wiley & Sons? Das Unternehmen dürfte den wenigsten ein Begriff sein.

Wiley & Sons war eine ziemlich unbekannte kleine Verlagsgesellschaft. Sie verlegt Wissenschafts- und Medizinbücher für Universitäten und Schulen. Die Firma ist heute eines der wenigen unabhängigen Verlagshäuser in den USA. Als ich die Aktie Mitte der achtziger Jahre kaufte, gab es noch eine ganze Reihe von Verlagsfirmen. Sie wurden alle von anderen Firmen gekauft und verschwanden von der Börse. Wiley & Sons gibt es bereits seit 200 Jahren und ist trotzdem immer noch sehr unbekannt. Die Aktie hat sich dennoch ganz hervorragend entwickelt.

Erinnern Sie sich auch an eine besonders schlechte Anlageentscheidung?

Ich habe oft Aktien gekauft, die mich enttäuscht haben. Firmen, die ein schlechtes Management haben und keine Erträge generieren, erkennt man schnell, denn das ist meist sehr offensichtlich. Für Value-Investoren sind aber vor allem diejenigen Aktien gefährlich, die sich nicht weiterentwickeln. Solche, die immer billig aussehen und nie ihr Potenzial ausschöpfen. Manchmal merke ich nach Jahren, dass ich mit einem Titel immer noch kein Geld verdient habe. Dann ärgere ich mich über die Opportunitätskosten. Manchmal sind die Bilanz, die Dividenden, das Management und die Produkte sehr gut. Aber es fehlt an Dynamik. Wenn ich sehe, dass eine Aktie nach drei Jahren noch keinen Ertrag gebracht hat, dann gehe ich mal davon aus, dass es da ein Problem gibt. Auch wenn ich nicht sagen kann, welches das ist. Ich kaufe dann lieber eine andere Aktie, bei der ich verstehe, warum sie erfolgreich sein wird.

Wurden Sie auch schon Opfer eines Betrugs?

Ich hatte immer Glück. Wahrscheinlich weil ich sehr viel Arbeit darauf verwende, die Firmen zu analysieren. Ich hatte keine Titel von Enron, Tyco oder WorldCom im Fonds. Sobald ich die Ehrlichkeit des Managements anzweifle, verkaufe ich – ganz egal wie hoch der Kurs gerade ist. Bei meiner Arbeit muss ich den Zahlen und der Geschäftsführung vertrauen können.

Versuchen Sie, auf Managemententscheidungen Einfluss zu nehmen? Melden Sie sich zum Beispiel an Generalversammlungen zu Wort?

Nein, niemals. Ich bin aus Prinzip absolut passiv. Aus der Strategie halte ich mich raus. Wenn ich eine Strategie schlecht finde, dann verkaufe ich eben die Aktie. Wenn ich nach meiner Meinung gefragt werde, dann äussere ich diese natürlich gegenüber dem Management. Aber ich versuche, keinen Einfluss zu nehmen. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich will nicht viele Aktien kaufen, um dann in den Verwaltungsrat zu gelangen. Oder an der Generalversammlung aufstehen und schimpfen, um dann meinen Namen in der Zeitung zu lesen. Diesen Weg gehe ich nicht. Ich bin ein Investor.