BILANZ: Professor Krugman, Sie sind nicht nur Ökonomieprofessor und Nobelpreisträger, sondern mit Ihren Kommentaren in der «New York Times» auch der bekannteste Kolumnist Amerikas. Ihr Credo lautet: niemals eine Kolumne zu schreiben, die nicht eine grosse Zahl der Leser richtig ärgert. Was war der grösste Ärger, den Sie bewirkten?

Paul Krugman: Da gab es einige Fälle. Aber den grössten Aufschrei gab es nach den Anschlägen vom 11.  September 2001. Ich schrieb, dass die Bush-Regierung diese Katastrophe nutzen werde, um politisch daraus Kapital zu schlagen. So kam es auch, aber ich bekam zahllose hasserfüllte Reaktionen. Jemand schrieb mir: «Wie soll ich eine solche Haltung meinem kleinen Sohn erklären?»

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Und welchen Ärger bereiten Sie gerade für die nächste Kolumne vor?

Heute stehe ich nicht mehr in grundsätzlicher Opposition zur Regierung, wie das unter Bush der Fall war. Dennoch kritisiere ich manches. Ich werde wegen der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko über die Energiepolitik von Präsident Obama schreiben. Er änderte die Richtung gegenüber der Vorgängerregierung nicht radikal genug, und das war ein grosser Fehler.

Wir dachten, Sie schreiben über Griechenland. Oder regt das keinen Amerikaner auf?

Ich schreibe natürlich darüber, doch mit dem Euro können Sie in den USA niemand wirklich aufregen. Er galt schon immer als Fehlkonstrukt, und jetzt sehen sich die Leute bestätigt. Die Folgen der Krise für die US-Wirtschaft sind zudem gering. Wir haben nur sehr wenig Exporte in die Eurozone.

Die Eurostaaten und der IWF pumpen 750 Milliarden Euro nach Griechenland. Ist die Krise damit ausgestanden?

Nein. Die Kreditlinie kauft nur Zeit, ich schätze, etwa ein bis zwei Jahre. Griechenland wurden extreme Sparmassnahmen bei einer schrumpfenden Wirtschaft verordnet, und deshalb wird die Schuldenlast in zwei Jahren wahrscheinlich grösser sein als heute.

Gab es eine Alternative zu dem Paket?

Angesichts der akuten Bedrohung gab es keine Alternative. Die Europäer haben sich Zeit gekauft, um über das weitere Vorgehen nachzudenken.

Würde ein Staatsbankrott Griechenlands die gleichen Schockwellen auslösen wie die Lehman-Pleite?

Es wäre meines Erachtens weniger dramatisch, denn Lehman hatte alle diese Kontrakte mit anderen Banken. Dies führte zu einer weltweiten Lähmung. Mit Griechenland wäre das wohl nicht passiert. Die grösste Gefahr ist die Ansteckung der Nachbarländer. Sie könnte letztlich zum Bruch der Eurozone führen.

Die amerikanische Ökonomenzunft fühlt sich bestätigt: Sie war schon immer sehr skeptisch gegenüber dem Euro.

Leider ist jetzt genau das passiert, wovor die Skeptiker immer warnten. Es wurde keine zentrale Fiskalhoheit eingeführt, und die Arbeitsmobilität zwischen den Mitgliedsstaaten ist zu tief. Wenn dann besonders schwache Teile des Systems einen Schock erleiden, gibt es keinen Anpassungsmechanismus. Was sich jetzt abspielt, ist, als ob jemand ein Experiment gemacht hätte, um zu beweisen, dass der Euro nicht funktioniert.

Sollte man den Euro wieder abschaffen?

Der Euro hat Fakten geschaffen, die einen Rückschritt verunmöglichen. Es wäre besser gewesen, den Euro nie einzuführen – aber ihn wieder abzuschaffen, hätte extrem negative Folgen. Das ist das Dilemma dieser Krise: Es gibt keine wirklich guten Antworten.

Was wäre denn die am wenigsten schlechte Lösung?

Am besten erscheint mir noch die Schaffung eines europäischen Stabilitätsfonds, der aber nicht Kredite vorsieht, sondern Transferzahlungen für Länder in Not. Das ist eben der Unterschied zwischen den USA und der Eurozone: Hier werden die Gelder für Rente, Gesundheit oder Verteidigung von einer zentralen Stelle vergeben. Aber ein solches Vorgehen würde eine deutlich höhere Integration und mehr Zahlungen der wohlhabenderen Länder im Norden bedeuten. Versuchen Sie mal, das den deutschen Wählern zu verkaufen.

Was halten Sie von dem Vorschlag einer Hartwährungszone im Norden und einer Weichwährungszone im Süden?

Das würde das Problem nicht lösen. Das Schreckensszenario der Euro-Abschaffung bliebe. Zudem sind die Länder sehr verschieden: Ein Schock ist für Spanien anders als für Griechenland.

Regierungsvertreter geben dem Wolfsrudel der Spekulanten die Schuld an der Krise. Zu Recht?

Das ist in diesem Fall ungerechtfertigt. Die Fundamentaldaten Griechenlands sind miserabel, das ist die Ursache der Krise.

Jedes Land, das nicht in der Eurozone dabei ist, muss derzeit froh sein – auch die Schweiz.

Ja, die Schweizer können froh sein. Eine eigene Währung ist ein grosser Vorteil. Nehmen Sie England. Betrachtet man die nüchternen Zahlen, wäre ebenfalls eine Schuldenkrise wie in Griechenland möglich gewesen. Dass die Briten nicht im Euro sind, war ein Segen.

Wie weit kann ein kleines Land wie die Schweiz im Herzen der Eurozone eine eigenständige Geldpolitik umsetzen?

Auch ein kleines Land kann sehr eigenständig handeln. Die Euroländer waren gar nicht erfreut über die Engländer, als diese ihre Wettbewerbskraft durch Abwertungen erhöhten. Die Schweizer machten schon das Gleiche – nur merkte es fast niemand.

Sind Sie in Bezug auf einen Schweizer EU-Beitritt genauso skeptisch?

Nein. Transparente und einfach zugängliche Märkte sind gut, deswegen sind die Zollunion und das Schengen-Abkommen richtig. Allerdings ist mein Gefühl, dass die Schweizer Wirtschaft heute schon so stark in die europäische Wirtschaft integriert ist, dass ein Beitritt nicht viel Zusatznutzen brächte.

Der Schweizer Finanzplatz stand mehr als zwei Jahre im Banne der UBS-Krise. Wie wurde das Debakel in den USA wahrgenommen?

Es war erstaunlich unsichtbar. Es geht hier vor allem um New York und London. Wenn schon ausländische Banken, dann waren die isländischen Institute spannender.

Die UBS hat immerhin fast 25  000 Mitarbeiter in den USA.

Ja, aber die Leute nehmen sie nicht wirklich als Schweizer Bank wahr. Die Krisenbanken hier waren vor allem Citibank und Bank of America – die anderen Banken flogen unter dem Radarschirm.

Ökonomen bemühen gern Grossbuchstaben für ihre Wirtschaftsszenarien: U, L oder W. Wo steht die US-Wirtschaft?

Es sieht derzeit wie ein flaches U aus, es geht langsam hoch. Das W macht mir aber immer noch Sorgen, denn der Stimulus läuft Ende des Jahres aus.

Macht Obama das Richtige?

Er könnte mutiger sein. Obama selbst ist vorsichtig, sein Finanzminister Timothy Geithner ebenfalls. Es wäre besser gewesen, zu Beginn der Amtszeit die Wirtschaft noch aggressiver zu stützen, Dass das nicht gemacht wurde, bedauern wir jetzt. Das Konjunkturpaket hätte mindestens 50 Prozent höher sein können.

Aber es war doch das grösste in der Geschichte der USA.

Ja, es war das grösste, aber es ist auch die grösste Rezession seit den dreissiger Jahren. Die Lücke zwischen unserem Bruttoinlandprodukt und dem möglichen Output beträgt acht Prozent. Unser Stimulus brachte aber nur zwei Prozent. Wir haben noch immer zehn Prozent Arbeitslosigkeit. Ohne weiteren Stimulus droht der Aufschwung zu scheitern. Das wäre für Obama gefährlich. Wenn wir so weitermachen, schrieb ich jüngst, werden wir Vollbeschäftigung erst spät in Sarah Palins erster Amtszseit sehen.

Haben Sie nicht Angst vor der Verschuldung? Die amerikanische Staatsschuld beträgt heute 13 Billionen Dollar, die Eurozone bringt es nur auf 9 Billionen. Ein weiteres Konjunkturpaket würde die Schuldenquote weiter dramatisch erhöhen.

Die Sorge ist berechtigt, aber sie wird stark übertrieben. Wir sind nicht Griechenland. Grosse Länder mit starkem Wachstum hatten oft Verschuldungsraten von mehr als 100 Prozent des BIP und lösten das Problem durch den Aufschwung. Ich sehe das Problem nicht bei den Schulden, sondern bei der Aufgabe des Stimulus.

Für den langjährigen US-Notenbankchef Alan Greenspan ist die Verschuldung das grösste Problem Amerikas.

Können wir uns darauf einigen, dass Greenspan heute eher als Kontraindikator gelten kann? 2006 sagte er voraus, dass die Krise im Immobilienmarkt hinter uns liege. Warum er als weiser Mann gelten soll, erschliesst sich mir nicht.

Dann sehen Sie auch keine Inflationsgefahr durch die gigantische Aufblähung der Geldmenge?

Wir sind weit entfernt von einer Inflation. Die Volkswirtschaften sind noch immer in schwierigem Zustand, und zudem scheinen die Leute nicht zu verstehen, dass in einer Liquiditätsfalle monetäre Massnahmen nicht helfen. In Japan verdoppelte die Notenbank die Geldmenge, doch die Deflation ging weiter. Wir leben derzeit eben nicht in normalen Zeiten, und solange das so ist, brauchen wir aussergewöhnliche Massnahmen.

Sie sprechen Anfang Juni am Swiss Economic Forum in Interlaken. Sonst sieht man Sie eher selten an grossen Konferenzen wie etwa dem Weltwirtschaftsforum in Davos.

Ich gehe etwa alle fünf Jahre nach Davos – wenn ich vergessen habe, wie wenig mir solche Veranstaltungen bedeuten. Mir ist das zu viel Show, zu viel Aufregung, zu viel Selbstdarstellung. Aber auf Interlaken freue ich mich. Ich werde meine Frau mitnehmen – und meine Wanderschuhe.

Selbst nach der Nobelpreis-Verleihung kamen Sie nicht nach Davos.

Da war ich in der Karibik, das war besser als Davos.

Viele führende amerikanische Ökonomen arbeiten irgendwann einmal für die Regierung. Hat man Sie schon einmal gefragt?

Nein.

Warum nicht?

Das wäre nichts für mich. Jeder muss herausfinden, was sein komparativer Vorteil ist. Ich bin nicht diplomatisch. Und ich bin ein schlechter Organisator, das sehen Sie schon an meinem chaotischen Büro. Ich bin ein guter Schreiber und Analyst und arbeite für die «New York Times», die grossartigste Zeitung der Welt. Kein Posten in der Regierung könnte mir eine bessere Plattform geben.

Starkolumnist

Als der Professor für Volkswirtschaft an der Princeton University im Herbst 2008 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise den Nobelpreis für Ökonomie erhielt, galt das als Signal: Krugman gilt als pointiertester Keynesianer Amerikas und forderte vom Staat in Krisenzeiten stets ein entschiedenes Eingreifen. Den Preis erhielt er für seine Arbeiten zur Handelstheorie. Der 57-Jährige schreibt an jedem Arbeitstag 90 Minuten an seinem Blog und verfasst zwei Kolumnen pro Woche für die «New York Times». In seinem engen Büro in Princeton herrscht Chaos. «Sie hätten es vor meiner grossen Aufräumaktion sehen sollen», sagt er beim Empfang des Besuchers.

Paul Krugman tritt am 3.  Juni als Key Note Speaker am Swiss Economic Forum auf.

Dirk Schütz
Dirk SchützMehr erfahren