BILANZ: Woran krankt die Schweiz?

Rudolf Ramsauer: Sie krankt am Fehlen von Risikofreude und am Verteidigen der errungenen Position.

Früher war die Schweiz in vielen Bereichen Weltspitze, beispielsweise im Maschinenbau oder in der Textilindustrie. Warum ging dieser Platz verloren?

Es ist nicht alles verloren gegangen. Aber ich stelle eine Stagnation fest. Diese Entwicklung muss man in einem langen Zeitraum sehen. Die Schweiz ist mit einem intakten Produktionsapparat aus dem Zweiten Weltkrieg herausgekommen. Ich bin überzeugt, wir profitierten lange davon, dass wir uns in einer politischen Sondersituation befanden. Ich spreche damit die Ost-West-Spaltung an. Das ist Geschichte. Die Schweiz muss sich nun als ganz normales Land und als ganz normaler Wirtschaftsstandort in der internationalen Konkurrenz bewähren. Das ist das eine. Das andere sind die Globalisierung und die technologischen Entwicklungen, die bisher völlig zusammenhanglose Wirtschaftsstandorte in direkte Konkurrenz zueinander treten lässt. Es ist ein völlig neues Kampffeld entstanden, das heute global ist. Die Paarung zwischen dem Verlust einer geschichtlichen Ausnahmesituation und der Tatsache, dass die Globalisierung wirklich Realität ist, erklärt vieles.

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Folgt man Ihrer Argumentation, so sind unsere Schwächen lange Zeit überdeckt worden. Haben sie ihre Wurzeln in einer weit zurückliegenden Vergangenheit?

Durchaus. Der Problemdruck hat sich über die Jahrzehnte aufgebaut.

Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?

Früher konnte man Probleme in der Schweiz bedenkenlos wegfinanzieren. Die Möglichkeiten waren da. Im Sozialbereich und im Infrastrukturbereich war praktisch alles finanzierbar. Das hat sich verändert. Wir befinden uns heute in einer Situation, in der die Ressourcen nicht mehr als unendlich erkannt sind. Sie waren es nie, aber sie schienen, es zu sein. Wir alle sind in einer Periode aufgewachsen, in der es jedes Jahr etwas besser ging. Das Auto des Vaters wurde immer ein bisschen grösser. Es kamen die Waschmaschinen ins Haus. Es war völlig normal, dass die Dinge einfach immer leichter, besser gingen. Das ist vorbei. Wir müssen heute darum kämpfen, dass wir das Niveau halten können, und wir wollen es nicht nur halten, sondern auch verbessern. Heute stehen wir vor der harten Realität, dass die Möglichkeit des Wegfinanzierens nicht mehr besteht. Sie kennen die Kennziffern: Verdreifachung der Verschuldung des Bundes seit 1990. Die gesamten Staatsschulden sind von etwa 100 Milliarden Franken auf etwa 240 Milliarden gestiegen. Dies, obwohl gleichzeitig die Einnahmen, sprich die Steuern und Abgabenlast für den Bürger, explosiv zugenommen haben. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Jetzt muss man strukturelle Anpassungen machen.

Zur Person
Rudolf Ramsauer (52) ist seit 2000 Geschäftsleitungsvorsitzender der Economiesuisse, des Verbands der Schweizer Unternehmen. Ab 1998 war das FDP-Mitglied beim Vorort tätig, einer der beiden Vorgängerorganisationen von Economiesuisse. Seit 1981 hat er als Diplomat gearbeitet. Ramsauer erwarb 1976 an der Universität Bern das Lizenziat in Philosophie und am Institut des Hautes Etudes Internationales in Genf das Doktorat in Entwicklungsökonomie (1982). Rudolf Ramsauer ist verheiratet und lebt in Zürich.

In der Schweiz sind einige Wachstumsfelder verschwunden. Setzt die Schweiz auf die falschen Branchen?

Wir haben auch unsere kleinen Apples. Nehmen Sie den Medizinaltechnikbereich, nehmen Sie die Spin-offs im Biotechnikbereich. Erstens entscheidet der Markt. Es ist nicht eine politische Entscheidung, welche Branchen prosperieren. Zweitens besitzt die Schweiz eine gute Chance im Weltmarkt, weil sie eine für unser kleines Land breit diversifizierte Branchenstruktur hat. Finnland wäre dazu das Kontrastprogramm: Es rangiert immer zuoberst in den Hitparaden der Wettbewerbsfähigkeit. Aber was ist Finnland? Nokia-Land. Eine derartig grosse Abhängigkeit kennt die Schweiz nicht. Wir haben wichtige Branchen mit Potenzial. Wir haben den Finanzplatz, wir haben die chemisch-pharmazeutische Industrie. Alle mit einer gewaltigen Wertschöpfung. Vergessen Sie nicht unsere Maschinenindustrie. Viele unserer kleineren Maschinenbauer sind hyperkonkurrenzfähig. Als Letztes nenne ich einen Bereich, den wir wieder stärken sollten: den Tourismus. Diese starke Branchenvielfalt ist ein Grund meiner Zuversicht für die Schweiz.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf und welches sind Ihre Lösungsvorschläge?

Ich nenne Ihnen die Problemfelder. Erstens die Finanz- und Steuerpolitik, zweitens die Sozialpolitik, drittens die Bildungs- und Forschungspolitik, viertens unsere Aussenbeziehungen und fünftens die Liberalisierung der noch verkrusteten Innenwirtschaft. Bei Letztgenanntem bin ich ein bisschen desillusioniert.

Was hat Sie desillusioniert?

Die verlorene Abstimmung über die Strommarkt-Liberalisierung beispielsweise. Aber auch das hauchdünne Resultat der Postinitiative, die zum Glück abgelehnt worden ist.

Verstehen Sie die Antiliberalisierungs-Stimmung, die herrscht?

Ja. Die Menschen befürchten, dass die Zukunft weniger gut sein wird als die Gegenwart. Was geschieht? Man verteidigt mit Krallen und Klauen die Gegenwart und den Besitzstand. Dies ist letzten Endes eines der Hauptprobleme in der Schweiz. Wir müssen eine Mehrheit der Bürger davon überzeugen können, dass die Chancen von Reformen grösser sind als die Risiken. Das klingt zwar furchtbar banal, aber das ist es nicht, denn die Konsequenzen eines Verharrens und Besitzstandwahrens sind politisch und wirtschaftlich enorm.

Wir stehen mitten in einem Verteilungskampf. Jeder, der etwas für die Zukunft beitragen müsste, muss zuerst einmal Abstriche bei sich vornehmen. Wie wollen Sie die Menschen davon überzeugen?

Die kürzlich klar gewonnene NFA-Abstimmung hat mir persönlich neuen Optimismus geschenkt. Aber die Frage bleibt: Ist ein System, eine Bevölkerung fähig, freiwillig Veränderungen herbeizuführen, oder tut sie das erst unter dem Druck der Probleme und der Verhältnisse? Ich bleibe optimistisch, dass es möglich ist, in kleinen Schritten diese Schweiz weiterzubewegen. Es ist ganz wichtig, dass man für die kleinen Schritte, zumindest in der politischen Führung, eine Einheit hat. Eine Unité de Doctrine. Es ist letzten Endes eine Führungsaufgabe der politischen Elite, der Bevölkerung zu vermitteln, dass diese kleinen Schritte notwendig sind, damit wir nicht letzten Endes unser Land gegen eine Wand fahren und dann dramatische, grosse Schritte tun müssten.

Sehen Sie eine Wende zum Besseren nach den Bundesratswahlen 2003?

Die Bundesratswahl war die Folge der Parlamentswahlen. Was wirklich wichtig war, waren die Parlamentswahlen. Ich meine, im Oktober 2003 wurden bei den Wahlen die SVP sowie die SP und die Grünen gestärkt. CVP und FDP verloren. Die Polarisierung verstärkte sich, mit einer Verschiebung des Gravitationspunktes nach links. Die Parlamentswahlen brachten keinen Rechtsrutsch, sondern eine Verschiebung nach links. Aus der Konstellation der SVP heraus ist dann die neue Zusammensetzung des Bundesrates entstanden.

Tut diese parlamentarische Polarisierung der geforderten Reformfreudigkeit gut?

Es war notwendig, dass eine gewisse Polarisierung der Meinungen eintrat. Zuvor sahen wir ein mehr oder minder undefinierbares Zentrum der politischen Kräfte. Doch die Probleme sind nun so massiv zu Tage getreten – die Finanzpolitik ist das klassische Beispiel –, dass man mal die Positionen auseinander reissen musste, um auch klare Stellungsbezüge zu erzwingen. Die Positionen sind nun bezogen. Die hochinteressante Frage wird nun sein: Was macht das Zentrum? Was tun die CVP und die FDP?

Gehen wir einen Schritt zurück: Wenn die Schweiz 1993 dem EWR beigetreten wäre, hätten wir die wirtschaftliche Öffnung viel geschwinder vorantreiben müssen. Ich kann mich erinnern, dass der Verband – damals hiess er noch Vorort – diese Abstimmung zurückhaltend begleitet hat. Wie beurteilen Sie diese Haltung im Rückblick?

Ich war damals noch beim Bund. Ich war selbstverständlich für den EWR. Als in der Folge die erste Generation der bilateralen Verträge auf dem Tisch lag, war ich der Meinung, dass diese ein durchaus valables Substitut für den EWR sind. Der EWR ist heute ein Auslaufmodell. Wir haben jedoch einige Jahre verloren. Die Strommarktliberalisierung hätten wir übernommen, die Postliberalisierung auch. Aber die anderen wichtigen Problembereiche, die ich aufgezählt habe, wären nicht dabei.

Der Liberalisierungsdruck auf dem Personalmarkt wäre früher eingetreten.

Ja, das stimmt.

EU-Sprache
Das Glossar


Bilaterale I


Mit den am 1. Juni 2002 in Kraft getretenen sektoriellen Verträgen nimmt die Schweiz an der
wirtschaftlichen EU-Integration teil.


Bilaterale II


Die Fortführung der Bilateralen I. Sie umfassen Dossiers über Betrugsbekämpfung, Zinsbesteuerung, verarbeitete Landwirtschaftsprodukte und anderes mehr. Schengen/Dublin inklusive.


Schengen


Das Abkommen regelt und fördert die justizielle und die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen EU-Staaten.


Dublin


Das Übereinkommen enthält asylrechtliche Bestimmungen. Es verhindert das wiederholte Stellen von Zweit-Asylgesuchen in der EU.

Das wiederum hätte den Druck auf die Binnenwirtschaft erhöht und die Kartelle wahrscheinlich angegriffen.

Ja, ganz bestimmt. Insofern hätte uns der EWR gezwungen, rascher zu liberalisieren, als das jetzt der Fall ist. Wir sind immer davon ausgegangen, dass wir eine liberale Wirtschaftspolitik hätten. Aber es existieren Sektoren in der Schweiz, bei denen wir der EU hinterherhinken.

Man hört immer wieder, dass wir auf hohem Niveau stagnieren. Wie bricht man diese psychologische Barriere?

Wir platzieren bewusst Themen. Finanzpolitisch sind wir in einer schwierigen Situation und können keine grossen Sprünge mehr machen. Das ist etwas, was langsam bei allen durchgesickert ist. Es hat aber rund zwei, drei Jahre gebraucht, bis die Bevölkerung gemerkt hat: Jetzt ist es wirklich ernst, jetzt müssen wir sparen. Das ist das eine. Zweitens müssen wir wenn immer möglich Lösungen präsentieren können. Ich denke hier an unser Ausgabenkonzept vor zwei Jahren, in dem wir einen langen Katalog von Massnahmen aufgelistet haben, wie man das Ausgabenwachstum unter Kontrolle bringen könnte. Ich denke aber auch an eine Anfang Dezember veröffentlichte Economiesuisse-Studie über den internationalen Steuervergleich. Uns liegt die Unternehmenssteuerreform am Herzen. Ich stelle fest, dass auf parlamentarischer Seite ein Bedürfnis nach Lösungen existiert. Diese Empfänglichkeit sollten wir ausnützen.

Sie haben am Abend der Neuwahl der Bundesräte Blocher und Merz bei sich zu Hause eine gute Flasche Wein geöffnet. Würden Sie das wieder tun?

Sicherlich. Denken Sie an die Alternativen. Aber es ist noch zu früh, um hier über den Bundesrat zu urteilen. Mein Gefühl sagt mir aber, dass wir bei Economiesuisse sehr stark mit dem Parlament arbeiten müssen. Was nützt es dem Bundesrat, wenn er eine Lösung bringt und diese dann im Parlament zerzaust wird. Das strategisch wichtigste Gremium ist das Parlament.

Wohin muss der Weg Ihrer Partei, der FDP, führen?

Sie fragen mich als FDP-Mitglied. Für mich ist es relativ simpel. Der leider zurückgetretene FDP-Präsident Rolf Schweiger hat die Definition bereits gegeben: Die FDP muss eine Partei sein, die einen wirtschaftsliberalen Kurs fährt, das bedeutet, sie muss finanzpolitisch rigide, auch gegen aussen hin wirtschaftspolitisch liberal und offen und gesellschaftspolitisch fortschrittlich sein. Das könnte diese Partei von allen anderen unterschieden.

Und trotzdem ist das Schuldenwachstum unter einem FDP-Bundesrat explodiert.

Nun gut, er war auch nicht ganz allein! Wir sollten ja nicht immer nur Schweiss, Blut und Tränen predigen. Man kann sich auch masochistisch gebärden. Es ist nicht alles schlecht in diesem Land. Im Gegenteil, man hat ein phänomenales Potenzial. Schauen Sie sich unsere Universitätslandschaft an. Die ETHs findet man nicht so leicht in der Welt. Ausserdem ist die Schweiz ein Land, das mit verschiedenen Sprachen umgehen kann. Wir haben ein riesiges Potenzial, und man sollte nicht nur schlecht sprechen. Aber man muss die Probleme jetzt anpacken.

Wie wollen Sie Unternehmertum im Lande fördern?

Wir benötigen eine massive Entlastung bei der fiskalischen Doppelbelastung von Unternehmen. Man sollte die steuerliche Belastung der Dividenden auf 50 Prozent reduzieren. Das entspricht etwa dem deutschen System. Eigentlich müssten wir die Doppelbelastung voll eliminieren. Das wäre der wichtigste Schritt. Dann wäre da noch eine Fülle von fiskalischen Ärgernissen, zum Beispiel bei der Nachfolgeregelung, die wir aus der Welt schaffen sollten. Es ist wichtig, dass bei diesen Themen im nächsten Jahr ein Zeichen gesetzt wird, denn wir sind im internationalen Vergleich inzwischen ins Mittelfeld abgeglitten. Man muss nicht einmal nach Irland blicken. Österreich hat eine Körperschaftssteuer von 25 Prozent, unter dem Druck seiner Nachbarn. In der Slowakei steht der Zeiger bei 19 Prozent. Um Investoren zu zeigen, dass es sich auch in Zukunft lohnen wird, hier zu investieren, braucht es jetzt diese Zeichen des Willens: Ja, wir wollen fiskalisch in der obersten Liga bleiben.

Ist dies politisch durchsetzbar?

Das werden wir sehen. Der Bundesrat wird seine Vorschläge Anfang 2005 präsentieren. Die Kantone sind auch bereit, etwas zu tun. Wir haben die Auslegeordnung gemacht. Jetzt muss man schnell handeln.

Wie soll dieser kommende Steuerausfall finanziert werden?

Der Ausfall ist um einiges kleiner als gedacht. Kleiner als beim Steuerpaket. Ausserdem sollten wir uns von der statischen Sicht lösen, dass hier Steuereinnahmen zurückgehen werden, die irgendwie kompensiert werden müssten. Das ist eine falsche Sichtweise. Steuererleichterungen finanzieren sich selber, weil sie letzten Endes zu höherem Wachstum führen und mehr Steuersubstrat generieren.

Das wird man nicht verstehen. Kurzfristig obsiegt die Angst vor dem Verlust.

Ich hoffe nicht. Aber ich gebe Ihnen Recht: Es ist sehr, sehr anspruchsvoll, eine Massnahme politisch durchzusetzen, die erst langfristig, vielleicht in zehn Jahren, Wirkung zeigen wird. Ich bin guten Mutes. Gerade in letzter Zeit treffe ich viele Menschen, die einer Steuerverminderung das Wort reden und der Meinung sind, dass es vital wichtig ist, etwas für die Unternehmen in der Schweiz zu tun. Sie sehen die Bedeutung für die Arbeitsplätze und den Standort Schweiz ein. Diese Leute stammen nicht immer, wie man annehmen könnte, aus einer wirtschaftspolitisch aktiven Klasse.

Ist Ihre Beobachtung nicht nur auf eine in der Mitte-rechts-Position stehende Bevölkerung beschränkt?

Das mag sein. Aber ich hoffe, dass auch vernünftige Linke die Notwendigkeit einsehen, fiskalische Entlastung zu unterstützen. Wenn rund um uns herum alle die Steuern senken, kann man nicht einfach die Augen verschliessen.

In welchem Zeitraum könnten wir konkurrenzfähige Unternehmenssteuern politisch beschlossen haben?

Realistisch ist, dass der Bundesrat Anfang Jahr seine Vorschläge unterbreiten wird. Dann dürfen wir 2005 mit der Debatte im Parlament rechnen. Das ist für mich eines der grossen Themen im nächsten Jahr. Das andere ist die Regelung unserer Aussenbeziehungen mit der Europäischen Union, die bilateralen Verträge.

Ausgerechnet hier hat Economiesuisse in den letzten zwei Jahren eine Richtungsänderung vollzogen.

Was sprechen Sie damit an?

Economiesuisse hat im März 2002 und noch einmal vor 18 Monaten in einem Schreiben an Bundesrat Deiss eine besorgte Haltung gegenüber den vorgeschlagenen Bilateralen II eingenommen. Inzwischen sind Sie glühender Befürworter. Was hat Sie zu einer Neubeurteilung geführt?

Sie sprechen eine Situation im letzten Herbst an. Man hatte das Zinsbesteuerungsabkommen unter Dach. Das war neben dem Vertrag über den Nahrungsmittelhandel das wichtigste Abkommen für die Wirtschaft. Wir hegten in diesem Moment die Befürchtung, dass bei einer Weiterverhandlung die EU bei Schengen/Dublin und bei der Betrugsbekämpfung die Latte beständig höher legen würde. Wir befürchteten am Ende ein schlechteres Resultat. In diesem Moment haben wir zusammen mit der Bankiervereinigung die Meinung zur Diskussion gestellt, die fertig ausgehandelten Verträge sofort abzuschliessen. Das ist nicht geschehen. Die Verhandlungen sind weitergeführt worden. Und ich muss rückblickend sagen, dass das Endresultat sehr gut ist.

Welches war der Wendepunkt für Economiesuisse?

Der Wendepunkt waren die Verhandlungsresultate in den Dossiers Schengen/Dublin und Betrug, die wir als sehr schwierige Dossiers betrachteten und deshalb dachten, dass man diese in die Zukunft verschieben müsste. Aber gegen die Konzeption der Bilateralen II hatten wir von Anfang an nichts. Wir sind immer dazu gestanden. Es gibt für uns keine Alternative. Deshalb stehen wir auch heute dahinter – gerade auf Grund der ausgezeichneten Resultate, welche die Unterhändler erwirkt haben.

Sind Sie enttäuscht, dass sich die SVP neu gegen Schengen/Dublin wendet?

Ja. Die SVP muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie wirklich die Interessen der Wirtschaft vertritt oder nicht. Bei den bilateralen Verträgen steht nun Ausserordentliches auf dem Spiel. Diese Abkommen bringen der Wirtschaft konkrete Vorteile. Nicht nur das: Es geht letztlich auch um die Frage, ob wir den bilateralen Weg verfolgen wollen oder nicht. Wir dürfen uns diesen Weg nicht verbauen. So wie wir verlangen, dass die EU pfleglich mit uns umgeht, so sollten wir klug mit der EU umgehen.

Welches sind die grössten Risiken im Umgang der Schweiz mit der EU?

Ganz klar die Personenfreizügigkeit. Wenn wir die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten ablehnen, dann haben wir ein riesiges Problem. Die EU wird niemals akzeptieren, dass es zwei Regimes innerhalb ihres Gebietes geben soll. Die Polen, die Tschechen und die Ungarn werden zu Recht nie hinnehmen, Second-Class-Citizens zu sein. Es ist doch Unsinn: Die EU würde mit uns auch nie einen Vertrag definieren, der Graubünden, das Wallis und das Tessin ausklammern würde. Wir würden dies nie akzeptieren. An diesem Punkt muss die Parteitaktik und das politische Spiel ein Ende haben. Wir können das Abkommen über die Personenfreizügigkeit in seiner Bedeutung nicht hoch genug einschätzen. Es ist eng verknüpft mit sämtlichen Punkten der Bilateralen I. Wenn die EU das Personenfreizügigkeitsabkommen kündigen müsste, dann wäre alles dahin. Alles! Das kann man sich gar nicht vorstellen.

Nehmen wir an, dass die Personenfreizügigkeit in der Schweiz durchfällt. Welche Antworten auf dieses Worst-Case-Szenario haben Sie parat?

Es wird kein Nein geben.

Die Antwort kann doch nur sein: Wenn das Unwahrscheinliche eintritt, dann würde das die sofortige Aufnahme von Beitrittsgesprächen der Schweiz mit der EU bedeuten.

(Lacht) Es gibt kein Nein.

Ist dieser Weg des Bilateralismus zwischen EU und Schweiz endlos gangbar?

Das weiss ich nicht. Das hängt mehr von der Entwicklung innerhalb der EU ab als von der Schweiz. Der bilaterale Weg ist aber länger gangbar, als ich je gedacht habe. Ich habe eine sehr pragmatische Sicht der Dinge. Wenn Wirtschafts- und Handelspartner so eng miteinander zusammenarbeiten und verwoben sind, dann fallen immer wieder neue Probleme an. Wenn das Interesse für Lösungen beiderseits vorhanden ist, dann werden diese Probleme bereinigt. Die Alternative zum bilateralen Weg kann nur der EU-Beitritt sein, da haben Sie recht …

Und bei einem Nein zur Personenfreizügigkeit würde uns ausgerechnet die SVP in die EU führen.

(Lacht) Jetzt habe ich den Faden verloren.

Sie waren bei der Alternative zu den Bilateralen.

Die Frage des EU-Beitritts ist letztlich eine politische Frage. Es gibt keine zwingenden wirtschaftlichen Gründe für den Beitritt, solange wir die Probleme bilateral lösen können.

Kennen Sie genaue Zahlen über Schengen? Was bedeutet dieses Dossier pekuniär für die Schweiz?

Nein, ich kenne keine Zahlen. Das wäre schwierig zu berechnen. Aber es wäre vielleicht sinnvoll, weil es die Menschen überzeugen könnte. Denn auch für Schengen gilt: Wir müssen heute politische Massnahmen verkaufen und treffen können, die ihre Effekte erst langfristig haben werden. Wirtschaftlich gesehen müssen wir jetzt alles vorkehren, dass wir uns nicht an der Schengen-Aussengrenze befinden, dass wir nie eine Mauer, quer durch regionale Wirtschaftsräume hindurch, zwischen uns und beispielsweise Baden-Württemberg haben werden. Das Diskriminierungspotenzial wäre sehr gefährlich, auch wenn heute noch nicht greifbar. Die Vorkommnisse an der deutschen Grenze im letzten Frühjahr haben gezeigt, wie schnell es gehen kann.