BILANZ: Wie viele Stunden pro Woche arbeiten Sie? Thomas Schmidheiny: Gute Frage. Das habe ich mir so noch nie überlegt: Was ist Arbeit, was ist Weiterbildung, und was beschäftigt mich darüber hinaus – Dinge, für die ich früher keine Zeit hatte? Vieles geht bei mir heute ineinander über. Klar ist eins: Ich stehe heute nicht mehr um sieben Uhr in der Früh im Büro, sondern komme gewöhnlich erst gegen neun Uhr. Ich geniesse es, das zu tun, was ich tun will, und nicht mehr das, was ich tun muss. Das ist der grösste Unterschied zu früheren Jahren. Wie viele Stunden pro Woche beschäftigt Sie Ihr Verwaltungsratsmandat bei Holcim? Auch das habe ich noch nie zusammengezählt. Im Schnitt sind es heute deutlich mehr Stunden als noch vor fünf, sechs Jahren. Dieser Mehraufwand hat wohl mit Ihren Pflichten im dreiköpfigen Nominierungs- und Kompensationsausschuss zu tun? Ja, die Mitarbeit in einem solchen Ausschuss ist aufwendig. Zu Recht, denn es gilt wichtige Fragen zu behandeln. Zudem gibt es heute mehr ordentliche VR-Sitzungen als früher – jeweils vor den Quartalsabschlüssen – sowie spezielle Strategiesitzungen. Wenn ein Konzern schnell wächst, gibt es mehr zu diskutieren. An wie vielen Sitzungen nehmen Sie als VR und Ausschussmitglied über das ganze Jahr gesehen insgesamt teil? Im Minimum an zwanzig Sitzungen. Sie selbst bezeichnen sich als «langfristig orientierten Kernaktionär». Was heisst das genau? Ich bin ein Investor, der das Zementgeschäft aus eigener Anschauung kennt. Meine Aufgabe sehe ich heute vor allem darin, die langfristige Wertsteigerung des Konzerns zu unterstützen und zu sichern. Trotz laufender Modernisierung und der Erschliessung neuer Absatzmärkte stehe ich für Kontinuität und versuche, meinen Beitrag dazu zu leisten, dass es nicht zu strategischen Zickzack-Bewegungen kommt, die in diesem Business fatal wären. Nach Einführung der Einheitsaktie vor sechs Jahren verfügten Sie noch über annähernd ein Viertel aller Holcim-Stimmen. Infolge diverser Kapitalerhöhungen ist Ihre Stimmquote in der Zwischenzeit auf rund 18 Prozent gesunken. Wo liegt die Untergrenze für einen «Kernaktionär»? Mir ist in dieser Hinsicht kein Gesetz und auch keine bindende Verordnung bekannt. Aber ich würde meinen, dass man bei einer Beteiligung in Höhe von plus/minus 20 Prozent von einem massgeblichen Aktionär sprechen kann. Diese Zahl ist nicht willkürlich gewählt, sondern hat damit zu tun, dass gemäss internationalen Buchhaltungsregeln (IFS) Firmenbeteiligungen erst ab dieser Schwelle von einem potenziellen Käufer Equity-konsolidiert werden können. Unter 20 Prozent ist das nicht möglich. Um sich sämtliche Optionen offenzuhalten, können Sie kein Interesse daran haben, dass Ihre Beteiligung weiter sinkt. Nein. Die Kapitalerhöhungen der letzten Jahre waren durch einen raschen Ausbau des Geschäfts bedingt. Infolgedessen ist meine Quote gesunken. Die Abwägung, die ich in solchen Phasen vornehmen muss, ist im Grunde genommen einfach: die Sicherheit meines privaten Investments gegen das Wachstum von Holcim. In diesem Spannungsfeld sah ich mich in den letzten paar Jahren des Öfteren gezwungen, den Spagat zu üben. Immerhin habe ich aber im Rahmen der letzten Kapitalerhöhungen rund 500 Millionen Franken in Holcim investiert. Bei der letzten Kapitalbeschaffungsrunde zwecks Finanzierung der Zukäufe in Australien und China hätten Sie sich hoch verschulden müssen, um Ihre Beteiligungsquote zu halten. Fehlte Ihnen dazu am Ende schlicht das Geld? Dass Holcim die benötigten Mittel für einmal ausschliesslich bei den Aktionären einsammelte und nicht am Kapitalmarkt aufnahm, war eine Novität. Dieses Vorgehen lässt sich mit der Krise auf den internationalen Finanzmärkten begründen. Früher galt bei Holcim eher das Prinzip fifty-fifty: fünfzig Prozent via Kapitalerhöhung, fünfzig Prozent über den Kapitalmarkt. Zurück zu Ihrer Frage: Wir als Familie haben unsere interne Verschuldungslimite. Diese wollten wir nicht überschreiten. Sollten Sie Ihre Holcim-Aktien eines Tages möglichst gewinnbringend verkaufen wollen, müsste Ihre Beteiligung bis dahin wieder auf mindestens 20 Prozent steigen. Richtig? Ich kann jederzeit – morgen, übermorgen oder im nächsten Jahr – wieder Holcim-Aktien dazukaufen und so die Familienquote wieder erhöhen. Das ist der Vorteil, wenn man an einer börsenkotierten Gesellschaft beteiligt ist. Derzeit müssten wir 400 Millionen aufwenden, um erneut 20 Prozent zu erreichen. Bei der Kapitalerhöhung mitzumachen, wäre aufgrund des vorteilhaften Bezugspreises für Altaktionäre billiger gewesen. Für erstklassige Schuldner befinden sich derzeit die Kreditzinsen im Keller. Kann es einen besseren Zeitpunkt geben? In diesem Fall war uns die finanzielle Sicherheit wichtiger. Was nützt es einem Konzern wie Holcim, wenn sein Hauptaktionär in Schwierigkeiten gerät, weil er sich privat überschuldet hat? Das tragische Schicksal des Hauptaktionärs von Heidelberg Cement war in dieser Hinsicht Abschreckung genug und hat letztlich auch uns – nebst diversen weiteren Überlegungen – zu einer vorsichtigen Gangart bewogen. Sie haben es zugelassen, dass Ihre Beteiligungsquote unter 20 Prozent gefallen ist, weil Ihnen das Risiko, das im jetzigen Umfeld mit einer entsprechenden Kreditaufnahme verbunden gewesen wäre, zu hoch erschien? Wir verfolgen das Ziel, in Zukunft wieder eine Beteiligungshöhe von 20 Prozent zu erreichen. Was meine langfristigen Absichten angeht, gilt heute noch, was ich schon vor fünfzehn Jahren sagte: Als Investor bin ich lieber an einer grösseren, solide finanzierten und effizient geführten Gesellschaft beteiligt, als dass ich die Kontrollmehrheit an einem Unternehmen besitze, das in den wesentlichen Märkten nicht präsent ist. Genauso habe ich immer betont, dass ich mich nicht gegen eine Fusion sperren würde, die auf beiden Seiten einen wertsteigernden Effekt hätte. Unter dieser Voraussetzung würde es mich auch nicht stören, wenn meine Beteiligung vorübergehend auf 10 oder 12 Prozent sänke. Allein um der Grösse willen täte ich einen solchen Schritt hingegen nicht. Offenbar hat es konkrete Übernahmeangebote gegeben. Können Sie dies bestätigen? 2007 schwammen viele Private-Equity-Firmen im Geld und befanden sich deshalb in einem Anlagenotstand. Nicht wenige dieser Firmen waren damals auf der Suche nach einer Art von Investment, das Holcim idealtypisch verkörpert: einen hohen, relativ zuverlässigen, stetig darstellbaren Cashflow. Schliesslich müssen auch solche Private-Equity-Vehikel ihren Anteilseignern und Kreditgebern das geliehene Geld irgendwann zurückzahlen. Angenommen, jemand übernähme Holcim und investierte in den Folgejahren nur noch das absolute Minimum in den Erhalt der bestehenden Anlagen, dann ist offenkundig, dass dieser Weg enorm viel freie Mittel generieren würde. Holcim ist eine Cash-Maschine. Mit welcher Private-Equity-Gesellschaft haben Sie konkret verhandelt? Erstens ist es gar nie zu Verhandlungen gekommen, und zweitens will ich keine Namen nennen. Ich kann Ihnen aber versichern, dass es nicht nur einen, sondern mehrere Kaufinteressenten gab. Vor zwei Jahren war der Konzern mit 40 Milliarden Franken bewertet. Dieses Geld hätten die Private-Equity-Investoren in wenigen Jahren wieder hereinholen müssen. Stellen Sie sich vor, unter welchen Druck das Holcim-Management geraten wäre. Um dies zu verhindern, haben Sie einen Deal abgelehnt, obschon Holcim damals viel höher bewertet war als heute. Ich habe gesagt: «Kommt nicht in Frage!», obwohl ich damals einen substanziellen Schnitt hätte machen können. In solchen Situationen zeigt sich eben die Stärke eines langfristig orientierten, mit der Firma synchron verdrahteten Kernaktionärs. Klingt nicht besonders kapitalistisch. Sind Sie ein Altruist? Gemäss den mir vorgelegten Plänen wäre der Konzern mit Schulden von 30 Milliarden Franken belastet worden. Und das Management hätte gnadenlos Cash liefern müssen. Zu Geschichte und Kultur von Holcim wäre dies in krassem Gegensatz gestanden. Statt auf kurzfristige Gewinnmaximierung aus zu sein, sind wir es seit langem gewohnt, unsere Hausaufgaben pflichtgetreu und stetig zu erfüllen – in Sachen Betriebssicherheit, Umweltschutz, Personalausbildung. So gesehen, könnte mir die Belegschaft dankbar sein, dass ich meine Anteile nicht verkauft habe. Mit Filaret Galtschew ist ein neuer Grossaktionär aufgetreten. Wie werten Sie den Einstieg des russischen Industriellen? Herr Galtschew wird sich das Unternehmen vorgängig sehr genau angeschaut haben. Sein Investment in Holcim beträgt immerhin rund 1,5 Milliarden Franken. Das Ganze ist auch für ihn kein Spaziergang. Grundsätzlich finde ich es super, dass jemand den Mut hat, in diesem Ausmass bei Holcim einzusteigen, denn es bestätigt das Potenzial, das auch wir in der Firma sehen. Der russische Investor gilt als überaus zurückhaltend. Hatten Sie als Kernaktionär schon Kontakt zu ihm? Nein. Mit persönlichen Kontakten zu anderen Grossaktionären halte ich mich grundsätzlich zurück. Zu leicht gerät man dabei in den Verdacht der Gruppenbildung mit den entsprechenden rechtlichen Verwicklungen. Filaret Galtschew stammt aus derselben Branche. Seine Eurocement könnte zu einem Fusionspartner von Holcim werden. Insofern müssten Sie ein Interesse daran haben, den neuen Grossaktionär baldmöglichst kennen zu lernen. Eine Fusion ist kaum vorstellbar, weil die russische Zementindustrie auf veralteten Anlagen basiert. Tatsache ist, dass Holcim unabhängig geblieben ist und es nie zu einer wertsteigernden Grossfusion kam. Ich denke, zu Recht, denn der Konzern ist in all den Jahren gleichwohl massiv gewachsen und hat es dabei immer geschafft, die nötigen Mittel in Eigenregie zu generieren, um neue, strategisch wichtige Positionen zu besetzen. Das Management lässt akquisitorisch wenig anbrennen. Auf welchen Expansionsschritt sind Sie besonders stolz? Hervorzuheben gilt es sicher den Eintritt in den indischen Markt. Mit zwei geschickten Akquisitionen hat es Holcim dort geschafft, sich einen Marktanteil in der Grössenordnung von 25 Prozent zu sichern – notabene in einem Land mit mehr als einer Milliarde Bewohnern, wo der Zementverbrauch pro Kopf gegenwärtig erst rund ein Fünftel desjenigen in China ausmacht. Auch in China, dem zweiten asiatischen Zukunftsmarkt, ist Holcim nach Zukäufen aussichtsreich positioniert. Ja, auch die jüngsten Expansionsschritte in Australien und China sind eine Superleistung des Managements. Was Indien betrifft, so habe ich in meiner Zeit als Vorsitzender der Konzernleitung selbst während fünfzehn Jahren vergeblich versucht, einen Fuss in diesen schwierigen Markt zu bekommen. Sie sind im Nominations- und Vergütungsausschuss. Zu den Kernaufgaben dieses Gremiums zählt die Planung der Nachfolge an der Konzernspitze. Angesichts des hohen Durchschnittsalters der Führungsequipe scheint es, als sei diese Aufgabe vernachlässigt worden. Wenn Sie sich vor Augen führen, was in den letzten anderthalb Jahren weltweit passiert ist und wie Holcim darauf reagiert hat, muss ich sagen: Gott sei Dank haben wir heute eine kriegserprobte Mannschaft auf der Kommandobrücke! Diese Leute haben auch Erfahrung, was in einer Baisse zu tun ist. Mit dieser Mannschaft können Sie auch als Investor relativ entspannt zusehen, in der Gewissheit, dass adäquat auf die Krise reagiert wird. Vorhersehbar war die Krise aber nicht. Nach dem starken Wachstum der letzten Jahren wurde es nötig, die Nachfolgeprozesse neu aufzugleisen und zunächst einmal zu schauen, welche potenziellen Führungskräfte in welchen Regionen vorhanden sind. Allein der Talentpool, der durch den Einstieg in Indien für die Gruppe verfügbar wurde, ist substanziell. Kommt der nächste CEO von Holcim vielleicht aus Indien? Ich schliesse nichts aus. Warum nicht? Womit beschäftigen Sie sich, wenn nicht Holcim das Thema ist? Mit meinem Family Office. Die Struktur, die ich mit Spectrum geschaffen habe, bedingt einigen Input – speziell auch von meiner Seite. Ursprünglich hatte ich vor, meinen Arbeitsaufwand rascher zu reduzieren. Doch in der gegenwärtigen Phase, die für jeden Investor sehr anspruchsvoll ist, habe ich diesen Plan nochmals zurückgestellt. Als grösster Holcim-Einzelaktionär sitzt Thomas Schmidheiny (63) nach wie vor im VR des Zementriesen. Er besitzt Weingüter in Kalifornien, Australien und Argentinien, sammelt Schweizer Kunst und kümmert sich um das Schmidheiny-Family-Office Spectrum und sein Grandhotel in Bad Ragaz.
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