Die Menschen im Mittleren Westen von Amerika ticken ähnlich wie die Schweizer. Sie arbeiten hart und pflegen nach dem Job ein Hobby, das ihnen ebenso wichtig ist: Bergsteigen oder Ski fahren, Baseball spielen oder Bier trinken. Keine schlechte Voraussetzung, fand Nestlé-Chef Peter Brabeck-Letmathe. Ralston Purina, die Spezialfirma für Tiernahrung aus dem amerikanischen Saint Louis, Missouri, würde Nestlés Geschäft mit dem Tierfutter nicht nur perfekt ergänzen. Das Unternehmen liesse sich auch leicht integrieren. Da hat Brabeck Recht behalten. Im Dezember 2001 kaufte Nestlé Ralston Purina. Sechs Monate später, im Sommer 2002, hatte der Schweizer Konzern den Tierfutterhersteller mit 5,04 Milliarden Franken Jahresumsatz (2001) absorbiert. Das ist sehr wenig Zeit für ein solches Unterfangen – sogar für die Manager von Nestlé, Experten im Übernehmen von Firmen (siehe: «Aufs Tier gekommen»). Wie machen die das? Im Geschäft mit dem Tierfutter arbeiten spezielle Menschen. In Saint Louis, dem Hauptsitz der Nestlé Purina Pet Care Company, besitzen fast alle Mitarbeiter ein Haustier. Das dürfen sie mit zur Arbeit bringen. Ein Schlaraffenland für Hunde: Zwar steht in Saint Louis keine Fabrik, aber die Versuchslabors und der Test-Supermarkt mit Regalreihen ausschliesslich voller Katzen- und Hundefutter genügen. In jedem Flur hängen Tierbilder: glückliche Besitzer von niedlichen Welpen, schnurrende Katzen vor Menschenhänden. Hundefiguren aus Plastik zieren die Gänge. Man will nicht vergessen, für wen man arbeitet. Diese Welt hat das Berufsleben von Patrick McGinnis geprägt. Vor dreissig Jahren ist er bei Ralston Purina eingetreten und hat das Unternehmen seither nie verlassen. Eine Karriere, wie sie auch viele Mitarbeiter bei Nestlé durchlaufen. 1997 wurde er zum Konzernchef ernannt, vier Jahre später übernahm Nestlé Ralston Purina, taufte die Firma um in Nestlé Purina Pet Care und unterstellte der neuen Einheit das gesamte Nordamerika-Geschäft mit dem Tierfutter. McGinnis blieb Chef. Einer der klugen Schachzüge von Nestlé in diesem Spiel. Wenn McGinnis bleibt, bleibe ich auch, sagten sich viele. So eine Übernahme ist für alle Beteiligten eine aufregende Sache: Wie wird es weitergehen? Behalte ich meinen Job? Was bringt die Zukunft? Ein Rest von Konstanz tut gut in einer solchen Zeit. Leicht gefallen ist das Pat McGinnis nicht. Auf die mehr als hundert Jahre alte Ralston Purina war man stolz in Saint Louis. «In gewisser Weise hasst man es, derjenige zu sein, der dafür sorgt, dass diese Firma ihre Unabhängigkeit verliert», sagt McGinnis. Hätte Ralston Purina ihm gehört, wäre das nicht passiert. Ein seltsames Gefühl, plötzlich um Erlaubnis fragen zu müssen, wenn man investieren oder Leute einstellen will. So ungewohnt, dass es McGinnis oft fast vergisst. Andererseits wusste er, dass der Zusammenschluss für beide Unternehmen Sinn machte. Ralston Purina hatte sich auf Trockenfutter für Hunde spezialisiert, Nestlé mit der führenden Marke Friskies auf Dosenfutter für Katzen. Die beiden ergänzten sich gut. Gemeinsam haben sie dem grössten Konkurrenten Mars (Whiskas, Pedigree) die Marktführerschaft weggenommen. Und Nestlé war bereit, sehr viel Geld für Ralston Purina auszugeben, rund 17 Milliarden Franken, die höchste Summe, die Nestlé je für ein Unternehmen gezahlt hat. Besser so, als irgendwann gegen eine feindliche Übernahme kämpfen zu müssen. Was Nestlé anbot, klang nicht schlecht: Von Saint Louis aus sollte McGinnis das gesamte nordamerikanische Tierfuttergeschäft führen. Anfang 2003 verlegt Nestlé die für die Strategie im Tierfuttergeschäft zuständige Geschäftseinheit (Strategic Business Unit) in den Mittleren Westen. Sonst werden Strategien im Nestlé-Hauptsitz in Vevey festgelegt – mit einer weiteren Ausnahme: Seit dem Kauf von Perrier kümmert man sich in Paris ums Wassergeschäft. McGinnis’ Macht vergrösserte sich damit. An der Nestlé-Purina-Spitze stehen ihm mit Finanzchef Kevin Berryman ein ehemaliger Nestlé-Mann und mit Terence Block ein alter Ralston-Purina-Kollege zur Seite. 60 Nestlé-Mitarbeiter, ehemals tätig am US-Hauptsitz in Glendale bei Los Angeles, zogen ins kleinstädtische Saint Louis um, weg von der kalifornischen Sonne und dem Pazifischen Ozean dorthin, wo rund um die Städte vor allem Mais wächst. Das sieht fast so aus, als hätte Ralston Purina das Tierfuttergeschäft von Nestlé übernommen. Und nicht umgekehrt. «Die Kulturen von Nestlé und Purina haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede», sagt McGinnis. Deshalb kann so eine umgekehrte Übernahme funktionieren. Im November 2000, rund zwei Monate bevor Nestlé den geplanten Kauf von Ralston Purina ankündigte, trafen sich Nestlé-Chef Peter Brabeck und William Stiritz, Ex-Chef und Verwaltungsratspräsident von Ralston Purina, in New York. Ein erstes Beschnuppern. Passen wir überhaupt zusammen? Das Finanzielle war erst mal zweitrangig. Es ging um Kulturen, Unternehmensphilosophien. Denn Nestlé lässt auch mal eine Akquisition sausen, wenn Brabeck das Gefühl hat, die Kulturen klafften zu weit auseinander. Unterschiede existierten natürlich. Zum Beispiel bei Sitzungen: Das Purina-Management traf sich gewöhnlich in einem x-beliebigen Konferenzraum, man setzte sich hemdsärmelig um den Tisch, zum Lunch brachte die Sekretärin ein paar Sandwiches. Heute bedeuten Sitzungen für Pat McGinnis: feinen Zwirn anlegen. Sich zum Mittagessen in den sechsten Stock im Viviser Nestlé-Hauptsitz begeben, Blick durch die riesige Fensterfront auf den Genfersee und schneebedeckte Alpengipfel auf der einen, die Waadtländer Weinberge auf der anderen Seite. Sich nicht irgendwo hinsetzen, sondern dort, wo die Platzkarte ihn hinweist. Aber das sind Kleinigkeiten; im Grossen und Ganzen ähnelt sich das Denken bei Nestlé und früher bei Ralston Purina. Passen die Kulturen, dann fällt es leicht, wie Nestlé die neuen Mitarbeiter um den Finger wickelt – indem man ihnen sagt: Wir haben euch gekauft, weil wir euch mögen. Weil ihr etwas besser könnt als wir. Als Joe Weller, der Chef des US-Geschäftes von Nestlé, zum ersten Mal nach Saint Louis fuhr und in der Eingangshalle, unter den Augen der Plakathunde und -katzen, der Purina-Belegschaft genau das sagte, konnte man förmlich ein Aufseufzen durch die Reihen gehen hören. Diese Worte glaubt man Joe Weller, denn er ist selbst ein «Übernommener». 1985 kaufte Nestlé den Milchverarbeiter Carnation, der auch Tiernahrung produzierte, bekannt durch die Marke Friskies. Weller war dort Mitglied der Geschäftsleitung. Ihm hat sich der damalige Nestlé-Chef Helmut Maucher mit genau diesen Worten ins Gedächtnis gebrannt. Es ist Gold wert, die Integration in die Hände von jemandem wie Weller legen zu können. «Das Schöne ist: Ich weiss, was die Purina-Leute denken, bevor sie es selbst wissen», sagt Weller. «Wenn Pat ein Problem hat, kann ich antworten: Ich weiss genau, wovon du sprichst.» Weller ist ein lebendes Beispiel dafür, dass Nestlé in übernommenen Firmen nicht mit brachialer Gewalt Nestlé-Leute, Nestlé-Denken und Nestlé-Kultur durchsetzt. Man ist sich einig, dass nicht der klingende Name eine Firma ausmacht, sondern die Menschen, die der Marke zum Wohlklang verholfen haben. Stellen fielen trotzdem weg, bislang rund 200 in Saint Louis und 100 in Glendale. Doch eigentlich will man bei Nestlé, dass möglichst viele Leute bleiben und ihr Wissen einbringen. So wie Joe Weller, dessen Karriere richtig in Schwung kam, nachdem ihn Nestlé gemeinsam mit Carnation übernommen hatte. «Das ist doch so, als ob ein Footballteam plötzlich die Stars einer anderen Mannschaft dazubekommt», sagt McGinnis. Klingt nach gesundem Menschenverstand. Doch bei Fusionen und Übernahmen ist es üblich, dass das alte Management gefeuert wird. Die Nestlé-Kultur wird trotzdem Einzug halten, allmählich, behutsam. Die Nestlé-Kultur: «Eine Kombination», sagt Weller, «jede übernommene Firma bringt eine Denkweise ein, die Teil von Nestlé wird. Carnation ist Teil der Kultur, Stouffers, Buitoni, Maggi.» Das Purina-Gefühl soll irgendwann weg. Die Mitarbeiter werden auf die Nestlé-Welt eingeschworen, indem man Leute aus Saint Louis in die Niederlassungen auf der ganzen Welt schickt und später zurückholt, beseelt von Nestlé. Ähnlich lief es bei Joe Weller, den Helmut Maucher 1989 als Länderchef nach Australien schickte. Drei Jahre später kehrte er mit einem selbst gebastelten Pass mit Nestlé-Aufdruck in den Händen zurück. «Ich will, dass ihr alle so einen tragt», sagte er den ehemaligen Carnation-Leuten, die noch zu sehr an den alten Zeiten hingen. Wer für die Firma in der Welt herumgereist ist, hat das Nestlé-Gefühl intus. Und wer Karriere machen will bei Nestlé, muss reisen. Reden und zuhören hilft, die Leute von einer Übernahme zu überzeugen. Weller kommt siebenmal im Jahr mit dem Nestlé-Nachwuchs zusammen und hört zu. «Warum sitzt ihr vom Vorstand da oben im 21. Stock und nicht bei euren Teams – nur für die tollen Sonnenuntergänge über dem Pazifik?», fragten sie ihn. Richtig, dachte er. Und zog um in die achte Etage. Direkt nach dem Kauf von Ralston Purina traf sich Weller mit Mitarbeitern beider Unternehmen: Was läuft gut? Was müssen wir ändern? Er stellte fest, dass sich die alten Nestlé-Leute plötzlich in der eigenen Firma fremd fühlten; alles drehte sich um Purina, und sie sollten auch noch nach Saint Louis umziehen. Weller holte die dreiköpfige Nestlé-Purina-Geschäftsleitung nach Glendale und liess sie vom Mittleren Westen und der Arbeit bei Purina erzählen. «Man kann nicht genug reden», sagt McGinnis. Im Gegenteil, der schlimmste Fehler wäre, wenn die Leute aus der Zeitung erführen, was passiert. Falls etwas schlecht gelaufen ist bei dieser Integration, dann, dass immer noch zu wenig geredet wurde. Der Draht zum Chef darf nicht zu lang sein. Der Kauf von Ralston Purina war Peter Brabecks Deal, er hatte die Übernahme eingefädelt und die Verhandlungen geführt. Noch im November 2000 holte Brabeck John Harris an seine Seite. Der Mann vereinte zwei wichtige Fähigkeiten: Als Leiter des Nestlé-Tierfuttergeschäftes in den USA kannte er die Branche, durch seine Mitarbeit bei den Übernahmen von Alpo 1994 und Spillers 1998 wusste er, wie man Firmen integriert. Jetzt sollte Harris als Integrationschef überlegen, wie man die beiden Unternehmen verschmilzt und dabei jährlich 440 Millionen Franken einspart. Neben Brabeck, der die Übernahme zur Chefsache erklärt hatte, war er der wichtigste Mann. Monat für Monat berichtete er an Brabeck. Die Sache hatte nur einen Haken: Nestlé gab im Januar 2001 bekannt, Ralston Purina übernehmen zu wollen. Doch die US-Wettbewerbsbehörde Federal Trade Commission (FTC) liess mit der Einwilligung fast ein Jahr auf sich warten, bis Mitte Dezember 2001. In diesem Jahr durften Nestlé- und Ralston-Purina-Leute nicht miteinander sprechen, keine Daten austauschen. Tote Zeit, wenn man nur abwartet und hofft. Peter Brabeck heuerte die Unternehmensberater von KPMG an, sie rechneten nach, verglichen Daten, analysierten Strukturen und Prozesse, um herauszufinden, ob Nestlés oder Ralston Purinas Arbeitsweise besser funktionierte. Im Dezember, pünktlich zur FTC-Genehmigung, war alles fertig. «KPMG hat uns sicher ein Jahr Arbeit abgenommen», sagt Harris. Es folgte ein detaillierter Plan, «ein grosses, dickes Buch mit einer ganzen Menge Zahlen, Namen und Daten». Die gesamte Integration, schwarz auf weiss. Kosten in Höhe von 418 Millionen Franken hat Nestlé für die Integrationsarbeit insgesamt einkalkuliert. Im Integrationsplan geht es um Dinge wie Gehaltsabrechnungen, den Kauf von Firmenwagen oder die Regeln für Geschäftsreisen – Kleinigkeiten, aber es kostet Mühe und Zeit, sich darüber Gedanken zu machen und sie zu vereinheitlichen. «Das Wichtigste war, gegenüber dem Kunden mit einem Gesicht aufzutreten», sagt Harris, «eine Bestellung, eine Lieferung, eine Rechnung, eine Zahlung.» Arbeitsschritt für Arbeitsschritt wurde analysiert. Ein Haufen mühevoller Kleinarbeit. Im Frühsommer 2002 war es so weit: In Saint Louis verschickte man zum ersten Mal sowohl Mighty Dog, bis zur Übernahme ein Hundefutter des Konkurrenten Nestlé, als auch Purina Dog Chow. Die erste gemeinsame Lieferung ging an die Supermarktkette Wal-Mart. Und in Saint Louis feierte man eine grosse Party mit allen Mitarbeitern. Es war geschafft. Leichter als erwartet, ist man sich bei Nestlé einig. Es wird dauern, bis sich in Saint Louis alle Nestlé zugehörig fühlen. Noch nach der Ankündigung der Übernahme richtete man sich in der Eingangshalle von Ralston Purina ein kleines Café ein. Und verkaufte dort Kaffee, der nicht von Nestlé stammte. Heute prangen dort allerdings grosse Nescafé-Reklamen, man trinkt Nespresso und isst Toll House Chocolate Chip Cookies oder Butterfinger-Schokoriegel.
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