Thorsten Hens (40) ist Professor für Finanzmarktökonomie an der Universität Zürich. Als Anhänger der Behavioural-Finance-Theorie versucht er, Kursveränderungen an der Börse vor allem mit psychologischen Ansätzen zu erklären. Demnach extrapolieren Anleger die unmittelbare Vergangenheit direkt in die Zukunft und neigen zu starker Überzeichnung bei extremen Ereignissen. Der gebürtige Deutsche hält zudem Vorträge an der Europäischen Zentralbank, bei der UBS oder bei Merrill Lynch.
BILANZ: 2002 mussten die Ökonomen jedes Quartal ihre Prognosen weiter nach unten revidieren. Vor drei Jahren hat kein Volkswirt vor dem Technologie-Crash gewarnt. Wo ist der Leistungsausweis der Ökonomen? Thorsten Hens: (Lacht) Manche haben eben ein besseres Gespür dafür, wie sich die Sachen entwickeln, manche ein schlechteres. Meine Konjunkturprognose lautete: minus ein Prozent BIP-Wachstum. Aber ich bin froh, dass es nicht ganz so schlimm gekommen ist. Ausserdem haben vor drei Jahren auch manche Volkswirte wie etwa Robert Shiller aus Yale vor dem Technologie-Crash gewarnt. John Maynard Keynes hat einmal gesagt, dass Märkte viel länger irrational bleiben können als Anleger zahlungsfähig. Wie lange müssen wir noch durchhalten, bis der Markt aufhört, irrational zu sein? Also im Moment glaube ich, dass wir auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt sind. Sie gehen also von steigenden Kursen im Jahr 2003 aus? Das nicht, nein. Wir werden über die nächsten paar Jahre eine Seitwärtsbewegung erleben. Mit Aktien wird man etwa zwei bis drei Prozent mehr verdienen als mit festverzinslichen Wertpapieren. Hier kommt es auf die persönliche Risikobereitschaft an, ob die Anleger bereit sind, diesen täglichen Tanz mit dem Auf und Ab der Kurse zu ertragen. Die Kurse haben sich teilweise immer mehr von den Fundamentalwerten entfernt. Wie lange hält dieser Zustand noch an? Ende 1999 waren wir weit von den Fundamentalwerten entfernt. Jetzt sind wir schon ziemlich nahe dran. In Deutschland liegen die Kurse unter den Fundamentalwerten. Das heisst nicht, dass die Börse nicht noch lange unter den Fundamentalwerten liegen kann. Sie glauben nicht wie viele andere Ökonomen daran, dass die Börse die künftige wirtschaftliche Entwicklung vorwegnimmt? Nein. Früher hiess es immer, dass die Aktienmärkte das beste Konjunkturbarometer für das nächste halbe Jahr seien. Aber wenn man sich die Jahre 1997 bis 2000 ansieht, hätte sich das Bruttosozialprodukt verdoppeln müssen. Bei den heutigen Börsenzahlen müsste es sich um die Hälfte reduzieren. In Wirklichkeit wird die Börse viel mehr von der Psychologie beherrscht als angenommen. Was sollte ein Kleinanleger nun tun? Da gibt es keine allgemeine Empfehlung. Das hängt davon ab, wie viel der Einzelne bereits in Aktien, Immobilien oder sonstigen Anlagen investiert ist. Ich würde auf jeden Fall Produkte mit Kapitalschutz vorschlagen. Wo sehen Sie den SMI Ende 2003? Den SMI sehe ich bei 5000 Punkten. Prognostiker wie Robert Shiller oder Fredmund Malik rechnen mit einem kompletten Zusammenbruch. Kann es noch zu so einem totalen Crash kommen? Die wesentliche Frage ist, ob das internationale Finanzsystem die Belastungen aushält. Wenn wir schauen, wo die Fundamentalwerte heute im Vergleich zu 1929 sind, dann war die Übertreibung 1999 zwar doppelt so hoch wie 1929. Nur war damals das Finanzsystem viel fragiler. So brachen etwa Banken und Versicherungen zusammen, und schliesslich kam die ganze Wirtschaft ins Stottern. Selbst wenn heute die eine oder andere Versicherung zusammenbrechen wird, glaube ich nicht, dass es so schlimm kommen wird, wie dies manche prophezeien. Erst kürzlich prognostizierte Merrill Lynch für Deutschland das gleiche Schicksal wie für Japan: jahrelange Deflation. In Deutschland sehe ich die grösste Gefahr, dass es so kommen wird wie in Japan. Die deutsche Fiskalpolitik ist am Ende. Diese wird im Moment von der europäischen Gemeinschaft diktiert. Und gerade in dieser Phase gibt es keine Impulse vom Staat. Zudem ist die Notenbank sehr restriktiv. Und die USA? In Amerika sieht es da ganz anders aus. Die USA befinden sich in der Kriegsvorbereitung, und trotzdem konsumieren die Leute fleissig. Aber das ist ja die Gefahr. Die Amerikaner konsumieren, als ob es keinen Bullenmarkt gegeben hätte. Genau. Die Amerikaner sind alle ziemlich überschuldet. Jeder Haushalt sitzt auf einem Schuldenberg, weil er Immobilien oder Konsumkredite abzahlen muss. Einerseits sind die Werte auf den Depots, andererseits die Zinsen stark gesunken. Daher haben die Amerikaner weniger Belastungen abzutragen. Und ihr natürlicher Impuls ist, dass sie mehr Kredite aufnehmen und mehr konsumieren, wenn sie geringe Belastungen abzutragen haben. Obwohl der Aktienmarkt in den USA Werte vernichtet hat, ist das Vermögen der Amerikaner gestiegen, weil die meisten Investoren den Grossteil in Immobilien investiert haben. Doch spätestens wenn die Immobilienpreise fallen beziehungsweise die Zinsen erhöht werden, platzt diese Idylle? Das stimmt, denn dann würde die Immobilien-Bubble platzen. Aber die Reihenfolge ist anders. Zuerst wird die Wirtschaft anziehen, dann die Börsenkurse, und erst danach werden die Zinsen erhöht. Dennoch mache ich mir Sorgen, was einen Totalcrash angeht. Denn Greenspan hat die Zinsen bereits so weit gesenkt, dass es kein Potenzial mehr gibt, einen Totalcrash zu verhindern. Wie weit kann er die Zinsen von dem derzeitigen Satz von 1,25 Prozent denn noch senken? Ich meine, wir bewegen uns am Rande des Abgrunds. Kommt ein Irak-Krieg, sind die Risiken hinsichtlich des Ölpreises und eines Einbruchs des Konsumentenvertrauens gross. In der Schweiz wird einerseits Deflation, andererseits Inflation prognostiziert. Was kommt nun tatsächlich? Ganz klar Deflation. Zumal das Bruttosozialprodukt nicht gestiegen ist, die Konsumentenpreise nicht gestiegen sind, dafür die Arbeitslosigkeit. Das hört die Schweizerische Nationalbank wahrscheinlich nicht gerne, aber ich denke, dass eine Inflation von zwei Prozent der Schweiz ganz gut tun würde. Es ist psychologisch besser, wenn ich eine Inflationsrate von zwei Prozent im Land habe und dadurch eine Lohnerhöhung von einem Prozent, als eine Inflationsrate von einem Prozent und eine Lohnkürzung von einem Prozent. Also ist es ein Politikum? Ein Politikum nicht gerade. Eher eine Sache des schweizerischen Bankwesens. Denn Private Banking ist das Kernstück des Schweizer Bankenwesens, und dazu gehört ein starker Aussenwert des Schweizerfrankens. Wenn wir einkaufen gehen, fragen wir uns oft, ob die niedrige Inflationsrate, die ausgewiesen wird, überhaupt stimmen kann. Mich wundert das auch immer wieder. Ich hoffe, die Experten machen dies vernünftig. Meine persönliche Beobachtung ist, dass die Güter, die ich kaufe, überproportional teurer werden. Aber es gibt vermutlich Güter, die man nicht immer kauft, wie Computer oder Fernseher, und die günstig sind. Wieso gibt es in der Schweiz seit zehn Jahren kein richtiges Wirtschaftswachstum mehr? Wachstum hin oder her. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Schweizer trotz dem mangelnden Wachstum viel zufriedener sind als die Deutschen oder zum Beispiel die Italiener.
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