Risiken abschätzen ist ein Teil des Versicherungsgeschäfts. Die jüngste Akkumulation von globalen Risiken und die Inflation hatte kein Versicherer wirklich auf dem Radar. Taugen bisherige Analyseinstrumente nicht ausreichend?

Die Frage ist absolut berechtigt. Ich denke, man kann hier unterscheiden: Es gibt Themen wie Klimawandel und Naturkatastrophen. Das haben die Rückversicherer auf dem Schirm. Da sie mit grossen Portfolien global agieren, werden sie aktuell allerdings massiv gefordert. Dagegen haben Risikothemen wie die Pandemie, Lieferkettenausfälle und die Inflation viele Akteure im Markt auf dem falschen Fuss erwischt, auch Versicherer.
 

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Bei Lebensversicherungen wird mittelfristig mit steigenden Zinsen das Neugeschäft interessanter und wir werden dort voraussichtlich wieder steigende Abschlüsse sehen.

Claudio Stadelmann

Grundsätzlich sind Versicherer nach meiner Einschätzung sehr gut aufgestellt, um unerwartete Krisen zu meistern. Auch die Anforderungen an Kapitalreserven, gemessen durch SST/Solvency II Ratios werden von den hiesigen Gesellschaften sehr gut erfüllt. Es können allerdings auch - wie zuletzt - Ereignisse auftreten, die auch über die Versicherungsbranche hinaus kaum jemand prognostiziert hat. Kaum eine Grossbank hat zum Beispiel Ende 2021 mit steigenden Zinsen gerechnet.

Was bewirken die steigenden Zinsen für Versicherer?

Kurzfristig haben steigende Zinsen einen Einfluss bei Schadensfällen. Sie kommen Versicherern zum Beispiel bei Motorfahrzeugversicherungen teuer zu stehen, weil die Beschaffungskosten für Ersatzteile enorm gestiegen sind. 

Bei Lebensversicherungen wird mittelfristig mit steigenden Zinsen das Neugeschäft interessanter und wir werden dort voraussichtlich wieder steigende Abschlüsse sehen. Bei laufenden Verträgen wirkt sich allerdings die Verunsicherung durch die volatilen Kapitalmärkte massiv aus, wenn es darum geht, fixe Zusagen bei Auszahlungen zu realisieren. Inwiefern sich der Return on Invest auf der Anlageseite wieder steigern wird, wird sich weisen müssen.

Schwerpunkt Digitale Transformation

Claudio Stadelmann ist seit 2017 Partner bei der Management- und Technologieberatung BearingPoint mit Fokus auf die Versicherungs- und Rückversicherungsbranche. Einer seiner Schwerpunkte bei BearingPoint ist die Digitalisierung und damit verbunden die Unterstützung bei der digitalen Transformation von Versicherern.

Was zeichnet sich für 2023 an Trends ab?

Es ist davon auszugehen, dass Lebensversicherer höhere Zinsen mittelfristig auch an ihre Kunden weitergeben. Die Inflation minimiert allerdings die Kaufkraft der Konsumenten und das kann in der Folge dazu führen, dass zumindest kurzfristig auch weniger Verträge abgeschlossen werden. Im Bereich Geschäftskunden profitieren die Industrieversicherer gemäss aktuellen Research Daten allerdings am stärksten von steigenden Preisen bei Prämien.

Generell spielen Versicherer eine absolut zentrale Rolle für die Widerstandskraft der Wirtschaft und Gesellschaft. Wichtig ist, dass sie in der Lage sind, auch im Spannungsfeld schwierige Entscheidungen zu treffen - mit Blick auf Strategie und Kapitaleinsatz ebenso wie in punkto Technologie und Innovationen.

Wie lassen sich heute Risiken besser abschätzen mit neuer Technologie?

Rückversicherer nutzen schon länger Analyseinstrumente auf Basis moderner Technologien, um die Wahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen abzuschätzen - bis hin zu umfassenden Simulationen auf Basis vorhandener und angenommener Daten. Zum Beispiel kann man heute bereits berechnen, welche Schäden ein Wirbelsturm mit grossen Wassermengen auf versicherte Gebäude in New York-Manhattan anrichtet, wenn die Flut gewisse Pegelstände erreicht. Das ist essenziell, um das Pricing für konkrete Risiken besser bestimmen zu können.

Grosse Industrieanlagen werden im Rahmen von Unternehmensversicherungen zunehmend in Echtzeit durch umfangreiche Sensorik im Rahmen von «Predictive Maintenance» überwacht.

Claudio Stadelmann

Also wird Prävention für Versicherer zunehmend wichtiger?

Ja. Grosse Industrieanlagen werden im Rahmen von Unternehmensversicherungen zunehmend in Echtzeit durch umfangreiche Sensorik im Rahmen von «Predictive Maintenance» überwacht. So lassen sich auch kleinste Unregelmässigkeiten feststellen und signifikante Schäden werden verhindert, bevor sie überhaupt eintreten. Versicherungen beraten zur Ausstattung mit entsprechender Sensorik und dessen Umgang, damit Ereignisse erst gar nicht eintreten. Prävention wird im Bereich von Geschäftskunden, teils auch bei Privatkunden, zunehmend ein wichtiger Teil des Versicherungsgeschäfts.

Was sind 2023 die grössten Herausforderungen für Erst- und Rückversicherer?

Ein zentrales Thema bleibt die anspruchsvolle makroökonomische Situation. Ob die Inflation schon ihren Höhepunkt erreicht hat, wissen wir nicht. Es herrscht keine einfache Lage, auch wenn wir in der Schweiz solide wirtschaften und oft etwas besser wegkommen als unsere europäischen Nachbarn. Versicherer müssen auch 2023 mit weiter steigenden Zinsen rechnen und diese einpreisen. 

Die Unsicherheit wird weiter dominieren. Das betrifft sowohl die Auswirkungen der Energiekrise als auch die negativen Folgen der Inflation. Ersten Schätzungen zufolge wird das Wachstum der Prämienvolumen unter dem langjährigen Schnitt abschneiden. Das heisst, Versicherer müssen sich mehr mit neuen Wachstumsfelder beschäftigen, um passende Produkte anbieten zu können und ihre Geschäfte ertragreich zu gestalten.

Cyberschäden und ihre Auswirkungen sind die grosse Unbekannte für 2023.

Claudio Stadelmann

Wie steht es mit Cyberversicherungen als Wachstumsfeld?

Cyberschäden und ihre Auswirkungen sind die grosse Unbekannte für 2023. Profitieren werden nur diejenigen Versicherer, die wirklich in der Lage sind, Eintrittswahrscheinlichkeiten und Schadenpotenziale im Cyberbereich möglichst genau zu antizipieren und entsprechende Verträge anzubieten.

Für 2023 haben Versicherer bereits höhere Prämien angekündigt: Hilft das weiter? 

Höhere Preise lassen sich durchsetzen und müssen durchgesetzt werden. Für die Resilienz von Versicherern ist es enorm wichtig, den Fokus auf ein solides Kapitalmanagement zu legen und mit einem vorausschauenden Risikomanagement die Bilanzen zu stärken.

Parametrische Versicherungen sind Vorreiter, wenn es darum geht, Versicherungslücken zu schliessen.

Claudio Stadelmann

Wo sehen Sie Wachstumsfelder für Rückversicherer?

Um eine höhere Risikoabdeckung im Bereich Naturkatastrophen zu erreichen, bieten zum Beispiel parametrische Versicherungen viel Potenzial. Solche innovativen Retail-Produkte mit einem einfachen, transparenten und schnellen Auszahlungsprozessen werden benötigt, um potenzielle Versicherungsnehmer besonders in unterversicherten Regionen mit vielen wetterbedingten Risiken zu Abschlüssen zu bewegen. Parametrische Versicherungen sind Vorreiter, wenn es darum geht, Versicherungslücken zu schliessen. Davon werden wir 2023 sicherlich mehr sehen, auch von Rückversicherern.

Was wären weitere innovative Ansätze für das Versicherungsgeschäft?

Steigende Preise erhöhen den Druck auf Versicherer, zusätzliche neue Services für Kunden anzubieten, da verstärkt auch alternative Versicherungslösungen zum Einsatz kommen könnten. Ihre Kompetenz, mit Risiken umzugehen, können Versicherer zum Beispiel im Rahmen von Captives anbieten, indem sie Inhouse-Versicherern grosser Unternehmen beratend zur Seite stehen.

Innovativ sind zudem Ansätze wie die Magnum Go-Plattform von Swiss Re - eine automatisierte Underwriting-Lösung, welche die Risikoprüfung und somit den Antragsprozess beschleunigt und somit das Potenzial hat, die Verkaufszahlen von Versicherern zu steigern und die Kosteneffizienz zu erhöhen.