Nach geltendem Obligationenrecht müssen am Kapitalmarkt aktive oder der Finma unterstellte Unternehmen für das Geschäftsjahr 2023 erstmals einen separaten Bericht über nicht finanzielle Belange erstellen. Es geht dabei um verschiedene ESG-Aspekte wie Umwelt- und CO2-Ziele, soziale Themen, Achtung der Menschenrechte sowie Korruptionsbekämpfung. Welche Auswirkungen hat diese Berichtspflicht für Versicherer? «HZ Insurance» fragte nach bei Daniel Bühr, Partner bei der Anwaltskanzlei Lalive.
 

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Daniel Bühr

ist Partner bei der Anwaltskanzlei Lalive (Genf, Zürich, London) und verfügt über langjährige Erfahrung in der Beratung und Vertretung von Unternehmen in komplexen nationalen und internationalen Regulierungsprojekten und Rechtsstreitigkeiten. Er ist unter anderem Mitglied des ISO-Expertenkomitees für «Governance of organizations», ESG-Rechtsexperte beim Center for Corporate Reporting und Gründungsmitglied der International Academy of Financial Crime Litigators.
 

Über neue Regeln für ESG-Standards wird ja schon länger diskutiert. Was kommt jetzt auf Unternehmen im Bereich nicht finanzielle Berichterstattung zu?

Daniel Bühr: Grosse Schweizer Unternehmen müssen im nächsten Frühjahr erstmals einen nicht finanziellen Bericht für 2023 gemäss dem revidierten Schweizerischen Obligationenrecht (Art. 964a ff. OR) verfassen. Alle Verwaltungsratsmitglieder müssen diesen Bericht genehmigen und unterzeichnen und dann den Aktionären an der Generalversammlung zur Genehmigung vorlegen. Das Ganze wird dann während zehn Jahren transparent für die Öffentlichkeit publiziert.

Welche Auswirkungen hat das für Unternehmen?

Es wird massiv unterschätzt, was das für die Unternehmen bedeutet. Mit der Berichterstattungspflicht kommt in sehr kurzer Zeit ein äusserst umfassendes Regelwerk in einem Bereich, in dem Unternehmen noch relativ wenig Erfahrung haben. Mein Eindruck ist, dass viele noch nicht realisiert haben, dass hier enorm viel zu leisten ist, um die unglaublich hohen Messlatten des Gesetzgebers zu erfüllen.

Der gesetzgeberische Druck ist sehr hoch, die Fristen sehr kurz.

Daniel Bühr, Partner bei der Anwaltskanzlei Lalive

Es gibt auch nicht Tausende von Fachleuten, die hier über das erforderliche Wissen verfügen. Der gesetzgeberische Druck ist sehr hoch, die Fristen sehr kurz. Daher wird es sehr anspruchsvoll, das umzusetzen.

Inwieweit sind Schweizer Versicherer von dieser Regelung betroffen?

Die Berichtspflicht gilt für alle grossen kapitalmarktorientierten Unternehmen – börsenkotierte und Emittenten von Unternehmensanleihen – sowie Finma-Beaufsichtigte in der Schweiz. Bei Versicherern sind dies im Wesentlichen die grossen Gesellschaften, also zum Beispiel Zurich Insurance, Visana, Swiss Re, Swiss Life, Vaudoise, Helvetia und Baloise und so weiter. Bei den von der Finma beaufsichtigten Unternehmen zählen auch Genossenschaften mit mehr als 500 Vollzeitangestellten, mehr als 20 Millionen Franken Umsatz und einer Bilanzsumme von mehr als 40 Millionen Franken pro Jahr dazu.

Was wäre ein Beispiel für eine Berichterstattung?

Grundsätzlich geht es darum, konkret nachzuweisen, dass man sich bemüht, seine Geschäfte mit dem erforderlichen Verantwortungsbewusstsein und angemessener Sorgfalt zu führen. Nehmen wir das Beispiel Umweltbelange und konkret die CO2-Ziele: Diese gilt es nicht nur zu kommunizieren, sondern man muss auch ein Konzept dafür im Rahmen aller Umweltbelange (Luft, Boden, Wasser, Biodiversität) nennen. 

Sodann sind die Auswirkungen des Unternehmens auf die Umwelt (sogenannte einfache Materialität beziehungsweise der «Impact» des Unternehmens auf die nicht finanziellen Belange) darzustellen, es sind die wesentlichen Risiken offenzulegen und konkrete Massnahmen zur Bewältigung der Risiken zu beschreiben. Schliesslich sind die Leistungsindikatoren zur Messung der Wirksamkeit der Massnahmen im Bericht zu nennen.

Ab 2025 müssen – im Sinne der sogenannten doppelten Materialität – auch die Auswirkungen, zum Beispiel des Klimawandels, auf das Unternehmen dargestellt werden. Wer also als Versicherung mit Blick auf den Klimawandel falsch oder risikoreich investiert ist und wenn potenziell Vermögensverluste drohen, muss in Rechnung und Bilanz Anpassungen machen.

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Was steckt hinter der Neuregelung zur ESG-Berichterstattung?

Grundsätzlich ist der Treiber die Nachhaltigkeit. Im Wissen um negative Folgen des Klimawandels, von sozialer Ungerechtigkeit oder von Korruption – zusammengefasst unter dem Begriff ESG – werden fundamentale Nachhaltigkeitsforderungen formuliert. Einfach ausgedrückt geht es um die Bedürfnisse künftiger Generationen. Und noch einfacher ausgedrückt geht es um die Sicherung der Lebensgrundlage für alle Menschen.

Was bezweckt der Gesetzgeber mit diesen neuen Pflichten?

Den Gesetzgeber interessieren beim ESG-Reporting die Auswirkungen des Unternehmens auf die Umwelt, Menschenrechte, Bekämpfung der Korruption und so weiter sowie die Auswirkungen des Klimawandels auf die Finanzlage des Unternehmens. Ein anderer Aspekt ist das Greenwashing, das alle Behörden vermeiden wollen, da es schlichtweg gesetzeswidrig ist. Im Finanzsektor kommt hinzu, dass die Regulatoren einen sauberen Finanzplatz erhalten wollen.

Also ist erheblich mehr Transparenz das Ziel?

Ja, Unternehmen werden messerscharf an dem gemessen, was sie publizieren. Seitens Gesellschaft und Politik steigt der Druck auf die Versicherungen und generell auf die Unternehmenl, Transparenz und Nachhaltigkeit in der Wirtschaft zu verankern. Damit wird die Regulatorik sicherlich zunehmen. 

Berichte müssen zehn Jahre öffentlich zugänglich sein. Belohnt werden Unternehmen, die schon bisher sauber und ordentlich gearbeitet haben, und künftig generell solche, die ESG ernst nehmen und es als Jahrhundertchance nutzen.

Alle Verwaltungsratsmitglieder von meldepflichtigen Unternehmen können sich künftig strafbar machen.

Daniel Bühr

Neu sind auch erhebliche Sanktionen vorgesehen – wie sehen die aus?

Die Mitglieder des Verwaltungsrats müssen die nicht finanziellen Berichte genehmigen und unterzeichnen. Wer das versäumt oder falsche Angaben macht oder der Pflicht zur Aufbewahrung und Dokumentation der Berichte nicht nachkommt, kann persönlich mit einer Busse von bis zu 100’000 Franken belegt werden. Bei Fahrlässigkeit beträgt die maximale Busse maximal 50’000 Franken. Alle Verwaltungsratsmitglieder von meldepflichtigen Unternehmen können sich künftig strafbar machen.

Was steckt hinter der Androhung von hohen Geldstrafen?

Die strafrechtliche Bewehrung einer Rechtspflicht soll dem Willen des Gesetzgebers Nachdruck verleihen. Auch die ordnungsgemässe finanzielle Führung der Geschäftsbücher ist strafbewehrt. Diese Systematik wurde jetzt auf die nicht finanzielle Berichterstattung übertragen. Also ist die korrekte Berichterstattung des Verwaltungsrats eine knallharte Pflicht.

Was ist das Besondere daran?

Dass die Einhaltung von relativ ungenauen Bestimmungen eines ESG-Reportings unter Strafandrohung steht, ist in dieser Breite international bisher einmalig. Das Besondere an dieser rechtlichen Gestaltung ist, dass es ausschliesslich und direkt die Mitglieder des Verwaltungsrates trifft.

100’000 Franken Strafe sind per se nicht hoch, aber für die Mitglieder eines Verwaltungsrats ist das eine sehr hohe Strafandrohung und ein enormes Reputationsrisiko.

Daniel Bühr

100’000 Franken Strafe sind per se nicht hoch, aber für die Mitglieder eines Verwaltungsrats ist das eine sehr hohe Strafandrohung und ein enormes Reputationsrisiko. Wenn sich jetzt Verwaltungsräte um ein Thema kümmern sollten, dann ist das ihr nicht finanzieller Bericht und allenfalls auch ihr Bericht zu Kinderarbeit und Konfliktmineralien, den sie 2024 den Aktionärinnen und Aktionären und der Öffentlichkeit präsentieren müssen.

Wie kommt die Neuregelung bei den Unternehmen an?

Bei der ESG-Berichterstattung nach international abgestimmter Gesetzgebung kämpfen die Unternehmen mit der Komplexität der vorgegebenen Standards. Die verlässliche und dokumentierte Identifizierung, Analyse und Bewertung von ESG-Belangen und wesentlichen Risiken stellen eine grosse Herausforderung dar. Viele Unternehmen sind noch damit beschäftigt, ihre Berichterstattungspflicht für 2023 abzuklären und zu dokumentieren.

Woran liegt das?

Die Unternehmen verfügen möglicherweise noch nicht über die erforderlichen Managementsysteme, und es fehlen ihnen die Daten, die die Grundlage für eine wirksame Sorgfaltsprüfung, Leistungsmessung und Risikobewältigung sind. Auch die Einführung von Managementsystemen für  die Belange Konfliktmineralien und Kinderarbeit ist Neuland für viele Unternehmen.

Die neue Strafvorschrift, die auch für die Berichte zu Konfliktmineralien und Kinderarbeit gilt, übt zusätzlichen Druck auf die Unternehmen und ihre oberste Führungsebene aus, verlässliche, vollständige und genaue sowie – im Sinne der Assurance des Verwaltungsrats – von unabhängiger Seite verifizierte Berichte zu veröffentlichen.

Wie gross ist das Risiko, für Fehler in einem nicht finanziellen Bericht eine Strafanzeige zu erhalten?

Es ist anzunehmen, dass Unternehmen, auch Versicherer, unter sehr aufmerksamer und sehr enger Kontrolle durch die Öffentlichkeit stehen werden. Verstösse gegen Umweltauflagen, systemisch unfaire Behandlung von Arbeitnehmenden, Verletzung von Menschenrechten oder Korruptionsfälle können von Whistleblowern ebenso angezeigt werden wie von Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen. Wem nachzuweisen ist, dass er bewusst etwas verschwiegen hat oder fahrlässig gehandelt hat, hat ein Problem.

Aus meiner Sicht besteht allerdings weniger ein Risiko, Strafen zahlen zu müssen, als ein grosses Reputationsrisiko für Unternehmen und Verwaltungratsmitglieder, wenn eine Strafanzeige eingereicht wird.

Schweizer Versicherer sind in der Regel vorne dabei bei Rankings.

Daniel Bühr

Worum geht es im Kern?

Es geht dabei um die Glaubwürdigkeit als Unternehmen. Wer bei internationalen Rankings gut abschneiden will, braucht eine gute Reputation. Schweizer Versicherer sind in der Regel vorne dabei bei Rankings. Gute Bewertungen durch Rating-Agenturen haben Vorteile: Es senkt die Finanzierungskosten, erleichtert den Zugang zum Kapitalmarkt und stärkt das Vertrauen in der Beziehung zu den Kundinnen und Kunden.

Macht die Schweiz mit der Neuregelung mehr, als international verlangt wird?

Die Schweiz richtet sich mit den neuen Regeln an internationalen und den aktuell geltenden EU-Standards aus. Die EU hat hier aber bereits für die Zukunft vorgespurt. Konkret heisst das: Wer als Drittlandunternehmen mit Tochterunternehmen in der EU mehr als 150 Millionen Euro Nettoumsatzerlös pro Jahr erwirtschaftet, muss spätestens ab dem Geschäftsjahr 2028 die EU-Standards zur nicht finanziellen Berichterstattung einhalten. Daher macht es für in der EU tätige grosse Schweizer Versicherungen Sinn, sich ab jetzt graduell nach den EU-Standards auszurichten.

Sind die Regeln in der Schweiz strenger als andernorts?

Die Schweizer Messlatte ist aktuell etwa gleich hoch wie die der EU. In der Schweiz wird die nicht finanzielle Berichterstattung jedoch ein Jahr früher Pflicht als im Rest Europas. Die Strafbestimmung geht dann allerdings über die EU-Bestimmungen hinaus. Ab dem Geschäftsjahr 2024 ist aber die EU-Regelung aufgrund der europäischen Nachhaltigkeitsstandards deutlich detaillierter und generell umfassender, indem nicht mehr nur – wie in der Schweiz – die vorgelagerte Lieferkette, sondern umfassend die ganze Wertschöpfungskette erfasst wird.

Was sagt die neue Regelung über die Beziehung zwischen Unternehmen und Staat aus?

Generell haben Unternehmen hohe Ansprüche an den Staat. Der Staat hat auf der anderen Seite einen zentralen Anspruch an Unternehmen: Haltet die Gesetze ein. Das Beispiel der nicht finanziellen Berichterstattung zeigt allerdings auch: Einfacher wird es in Zukunft nicht.