Der Schweiz-Sitz des Grossfirmen-Versicherers XL an der Limmatstrasse in Zürich. Axa-Chef Thomas Buberl ist zu einem seiner regelmässigen Besuche aus Paris in die Schweiz gekommen, der Kauf von XL vor zwei Jahren war sein Werk. Noch ist die Ausgangssperre in Frankreich zwei Wochen entfernt und die Wucht des Coronavirus nicht voll erkennbar. Doch Buberl hat schon alle Reisen abgesagt.

Am WEF in Davos Mitte Januar warnten Sie noch vor einer Zunahme der Virengefahr. Doch damals nahm die Konzernwelt die Gefahr nicht wirklich ernst. Hat die westliche Welt die Risiken unterschätzt?

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Mitte Januar war das noch ein Problem im fernen Wuhan, und wir hatten das Gefühl, dass die Chinesen klar und diszipliniert reagiert hatten.

Es gab Warnungen vor einer globalen Verbreitung.

Die Wucht, mit der das Virus Italien erreicht hat, war überraschend. Vor allem können wir in Europa nicht die gleiche umfassende Kontrolle ausüben wie in China, weil wir allein in der EU 27 Länder haben, die sehr autonom agieren. Italien ging dann sehr radikal vor, andere Staaten zogen teilweise und schrittweise nach. Doch es gibt in Europa aufgrund unseres offenen Systems keine einheitliche Strategie. Längerfristig lautet die Frage auch: Wie können wir unabhängiger werden von China, ohne das weltweite Wirtschaftswachstum zu drosseln und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu schwächen? Und wie schaffen wir es, dass sich die verschiedenen Gesundheitssysteme besser koordinieren, etwa beim Informationsaustausch zur Prävention und zu Behandlungen? Was bedeutet diese Krise für die Wertschöpfungsketten?

«Durch das Virus stellt sich die Frage: Wie können wir unabhängiger werden von China?»

Aber bei allen berechtigten Ängsten: Sehen wir an der Börse nicht eine Überreaktion?

Wir stehen am Ende eines Zyklus, der schon sehr lange gedauert hat, vielleicht zu lange. Da ist jede negative News potenziell ein Schock. Die Reaktionsmöglichkeiten für Zentralbanken und Regierungen sind viel geringer als vor zwölf Jahren: Die Fiskaldefizite sind vielerorts sehr hoch, die Zinsen extrem tief.

Der Börseneinbruch war also überfällig?

Die Rückkehr der extremen Volatilität musste irgendwann kommen. Ich hatte sie bislang erst nach den Präsidentschaftswahlen in den USA erwartet.

Wie stark ist die Versicherungsindustrie betroffen?

Es ist zu früh, dazu eine Aussage zu machen. Wir sind weniger direkt betroffen als andere Industrien wie die Reisebranche oder der Tourismus. Aber die massive Volatilität der Märkte und die Verlangsamung der Wirtschaft treffen natürlich auch uns. Umgekehrt entsteht langfristig der Bedarf nach neuen Versicherungsprodukten.

Die Banken leiden deutlich stärker als die Versicherungen. Sind die Assekuranz-Chefs die neuen Stars der Finanzbranche?

Die Banken wurden deutlich stärker durch die Finanzkrise getroffen, und sie sind deutlich stärker den Kapitalmarktrisiken ausgesetzt. Versicherungen haben gerade auch durch neuartige Bedrohungen grosses Wachstumspotenzial. Pandemien, Terror, Cyber: Das sind alles neue Risikoklassen. Bei den Banken geht es vor allem um die Frage: Wie kann man das bestehende System deutlich schlanker und digitaler gestalten? Und wie kann man die Frage der Strukturkosten lösen? Zudem ist auch die Regulierung in der Bankenwelt deutlich stärker.

Bei den Banken scheitert die überfällige Konsolidierung in Europa an nationalen Egoismen und Regulatoren. Auch da ist die Versicherungsindustrie weiter.

Die Konsolidierung ist bei uns sicher weiter fortgeschritten. Wir haben etwa vor zwei Jahren den grossen Schadensversicherer XL übernommen. Diese Firma können wir jetzt mit einem Viertel weniger Kapital betreiben, zudem ist die Axa nun stärker diversifiziert. Früher hatten wir beispielsweise zu viele Risiken bei europäischen Winterstürmen, jetzt versichern wir auch US-Naturgefahren, und die sind nicht korreliert mit Europa. Auch im Neugeschäft gibt es eine Konsolidierung, es fliesst zu deutlich weniger Wettbewerbern. Für die Versicherung von globalen Grossunternehmen gibt es nicht mehr als fünf Player.

Kommt es zu einer Fusion unter den «Big Four» Allianz, Axa, Generali, Zurich?

Unter den grossen vier passiert sicher einmal etwas, aber nicht gerade im Moment.

Als schwächstes Glied gilt Generali.

Die Situation der Axa ist jedenfalls klar: Wir haben mit XL gerade eine grosse Akquisition getätigt, die müssen wir nun erst verdauen. Und wir haben von allen Versicherungen die breiteste geografische Diversifikation mit den meisten Top-Positionen in den Schlüsselmärkten.

Die XL-Übernahme hat die Börsianer verschreckt, weil Sie grosse Zukäufe ausgeschlossen hatten.

Wir haben immer betont, dass wir im Firmengeschäft wachsen wollen. Aber rückblickend hätte ich wohl tatsächlich klarer kommunizieren müssen, auch wenn man natürlich nicht im Einzelnen über mögliche Deals sprechen kann.

Ist die Zurich-Aktie deshalb so viel besser gelaufen?

Der Markt schätzt Unternehmen, die wie ein Uhrwerk ticken. Wenig Überraschung, wenig Volatilität, starke Delivery. Wir hingegen haben einen starken Umbruch gemacht: Statt 80 Prozent der Risiken im Lebensgeschäft haben wir nun 80 Prozent in den Schadensdisziplinen. Aber jetzt gehen auch wir in den Modus der konstanten Delivery. Zentral für uns war, dass wir die Abhängigkeit vom Zinsgeschäft massiv reduziert haben. Ich bin überzeugt, dass das der richtige Schritt war.

Ihre Prognose lautete schon vor der Corona-Krise: Die Zinsen bleiben noch lange tief.

Nehmen wir den deutschen Bundeshaushalt, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein Bollwerk der Solidität. Die niedrigen Zinsen bringen etwa 50 Milliarden Euro Einsparungen. 38 Milliarden davon werden aber reinvestiert in längerfristige soziale Verbindlichkeiten wie etwa die Mütterrente. Das Grundprinzip der Versicherung, der Asset-Liability Match, wird dabei verletzt: Langfristige Ausgaben werden durch kurzfristige Einsparungen finanziert. Würden diese Einsparungen wegfallen, gäbe es ein grosses Problem auf der Verbindlichkeitsseite. Wenn sich also schon die Deutschen keine Zinserhöhung leisten können, dann kann das wahrscheinlich kein Land in Europa – ausser die Schweiz natürlich (lacht).

Die tiefen Zinsen werden also durch die Staatshaushalte getrieben – ist die Autonomie der Europäischen Zentralbank dann doch nicht so gross?

Die Idee nach der Finanzkrise war: Die Notenbanken schaffen Zeit, damit Strukturreformen stattfinden und die Staaten wieder wettbewerbsfähiger werden. Doch leider haben nur die wenigsten Länder diese Chance genutzt – vor allem die damaligen Krisenstaaten Spanien, Portugal, Irland. Jetzt sehen wir eine zunehmende Radikalisierung. Wenn ich nachts schlecht schlafe, dann deswegen: Kommt es zu sozialen Konflikten in Europa? Wir sehen in Europa keine physischen Auseinandersetzungen mehr zwischen Ländern – aber vielleicht bald innerhalb von Ländern.

Ihre Wahlheimat Frankreich ist da ein schlagendes Beispiel. Wie steht es um Macron?

Er hat genau die richtigen Reformen angepackt und damit so viel riskiert wie kein Präsident vor ihm. Doch was mich besorgt: Er wurde mit absoluter Mehrheit gewählt und hat dennoch massive Probleme, seine Reformen umzusetzen. Das Thema Rentenreform etwa: Es ist absolut richtig, an dem Thema Lebensarbeitszeit zu arbeiten. Doch geblieben ist nur ein aufgeweichter Kompromiss.

Ist das nicht vor allem ein französisches Problem?

Da bin ich mir nicht so sicher. Auch in Deutschland gibt es sehr starke Bewegungen in der Wählerschaft. Die Pendelbewegungen sind derzeit in vielen Ländern Europas extrem.

Macron bleibt der einzige Präsident seit langer Zeit, der der Strasse die Stirn bietet.

Er macht die richtigen Schritte. Aber die grosse Frage ist dieselbe wie in der Unternehmenswelt: Wie schafft es ein Chef, selbst wenn er ein noch so intelligenter und strategischer Charakter ist, die Mitarbeiter zu motivieren? Nur zehn Prozent des Weges finden im Kopf statt, neunzig Prozent sind Emotionen.

Wie haben Sie es als gebürtiger Deutscher mit Schweizer Pass geschafft, sich in die sehr spezielle französische Grossfirmen-Kultur zu integrieren?

Der Anfang war nicht einfach, doch jetzt bin ich sehr zufrieden. Ich war in Frankreich der erste Ausländer in einer solchen Position und wurde deshalb natürlich auch von den etablierten Kreisen getestet. Ich habe von Beginn weg nur Französisch gesprochen, anfangs war das noch grauenhaft, aber man schätzte es. Durch meine Funktion habe ich mich zudem stark in sozialpolitischen Fragen einbringen können, das hat die Nähe zusätzlich gefördert. Letztes Jahr wurde ich nun sogar in die «Légion d’honneur» aufgenommen.

Sie waren Chef der Zurich Schweiz. Wo liegen die grossen Unterschiede zwischen Zürich und Paris?

Beide konzentrieren das Hauptgeschäft des Landes in ihrer Stadt. Doch Zürich ist viel heterogener. In Paris kennen sich 90 Prozent der Verantwortlichen seit Jahren, sie haben alle eine ähnliche Ausbildung und Sozialisierung. In der Schweiz stammen viele CEOs aus dem Ausland, die Vielfalt ist deutlich grösser.
Das Salär ist auch deutlich besser: Sie liegen bei der Axa bei 5 Millionen Euro im Jahr, Zurich-Chef Mario Greco bezieht 9 Millionen Franken.

Ich bin mit meinem Salär zufrieden. Wichtiger ist, dass man etwas macht, das einen begeistert. Mein Vorgänger Henri de Castries hat mir immer gesagt: «Life is a journey and not a sprint.»

Ist das Aus von Tidjane Thiam bei der CS ein Signal, dass Versicherung-CEOs keine Bank führen können?

Ich glaube, dass jeder gute CEO viele Unternehmungen leiten kann. Es kommt immer darauf an, was für Leadership-Fähigkeiten man hat. Der cleverste Kopf ist deshalb nicht automatisch auch der beste eine Mannschaft und hole das Beste aus ihr heraus? Als CEO von Axa kann ich kein Atomkraftwerk versichern. Das muss ich auch nicht, dafür haben wir unsere Spezialisten. Meine Aufgabe ist es, mir mit unseren Mitarbeitern zusammen zu überlegen: Wo gehen wir hin?

«Ein guter CEO ist in erster Linie ein Chief Excitement Officer und Chief Engagement Officer.»

Sie sind mit vergleichsweise zarten 42 Jahren an die Spitze eines Weltkonzerns gekommen. Heutzutage fast ungewöhnlich – das durchschnittliche Antrittsalter für CEOs in den USA liegt derzeit bei 58 Jahren.

Ein jüngerer CEO ist immer ein grösseres Risiko: Ihm fehlt es an Erfahrung, er will sich vielleicht auch mehr beweisen. Aber Axa ist ein spezieller Fall: Ich bin erst der dritte CEO in der Geschichte des Unternehmens, mein Vorgänger war 17 Jahre im Amt. Das ist für mich eine grosse Verpflichtung.

Wer so früh Chef wird, könnte noch Lust auf Veränderung haben. Bleiben Sie so lange wie Ihr Vorgänger Henri de Castries?

Als ich als CEO begann, war ich 42 Jahre alt, Henri hatte im Alter von 45 Jahren begonnen. Die Rechnung war: 17 Jahre plus 3 Jahre macht 20.

Also Axa-Rente mit 62?

Die Zeiten sind extrem schnelllebig. Ich mache diese Arbeit so lange, wie der Verwaltungsrat sie mir zutraut.

Kommen Sie zurück in die Schweiz?

Unser Haus in Meilen haben wir behalten, und einmal im Monat bin ich mit meiner Familie noch hier. Und wenn ich in der Schweiz bin, freue ich mich immer über unsere Axa-Länderorganisation.

Die einstige Winterthur erzielt ein Fünftel des Konzerngewinns und ist klarer Marktführer. Was kann sie besser machen?

Nichts. Sie ist eine Perle.

Erschienen in der Bilanz, Ausgabe April 2020.

Dirk Schütz
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