Am HZ Insurance Forum '25 vom 12. Juni werden relevante Themen wie die Rahmenbedingungen durch Aufsicht und Regulierung, die ökonomische Einschätzung der exponentiellen Gefahrenentwicklung sowie die Grenzen der Versicherbarkeit von Risiken und deren Nachhaltigkeit kritisch beleuchtet.
Im Vorfeld der Veranstaltung beziehen Referentinnen und Referenten im Kurzinterview Stellung zu entscheidenden Themen ihrer Arbeit.
Frau Bütler, während Risiken wie Krankheit oder Invalidität privat versichert sind, fehlt ein breites Marktangebot zur Absicherung der Langzeitpflegekosten. Was sind die ökonomischen oder institutionellen Gründe dafür, dass dieser Bereich weitgehend ausserhalb der Privatversicherung liegt?
Es sind im Wesentlichen drei Gründe: Erstens ist es für viele Menschen schwierig, im jungen Alter die Kosten der Langzeitpflege und den Nutzen einer Versicherung, die erst Jahrzehnte später greift, abzuschätzen. Die meisten unterschätzen oder verdrängen die Wahrscheinlichkeit, im Alter Pflegeleistungen beanspruchen zu müssen – oder sie hoffen, dass sie die Partnerin oder der Partner pflegt.
Ich denke hier vor allem an die Frauen, die zuvor oft ohne Gegenleistung Angehörige gepflegt hatten.
Monika Bütler, Honorarprofessorin für Wirtschaftspolitik
Zweitens lohnt sich die Versicherung selbst für viele nicht, welche die Risiken richtig abschätzen können. Weil der Staat via Ergänzungsleistungen (EL) eine Bedarfsorientierte Pflegeversicherung anbietet. Wer wenig Vermögen hat, verliert mit jedem Franken aus der Pflegeversicherung einen Franken aus den EL.
Monika Bütler studierte Mathematik und Physik an den Universitäten Bern und Zürich. Nach ersten beruflichen Stationen in der angewandten Forschung und in der Privatindustrie studierte sie Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen, wo sie 1997 die Doktorwürde erlangte. Von 1997 bis 2001 arbeitete Monika Bütler als Assistenzprofessorin an der Universität Tilburg, Niederlande, und von 2001 bis 2004 als ordentliche Professorin an der Universität Lausanne. 2004 wechselte sie an die Universität St. Gallen, wo sie bis 2021 als ordentliche Professorin für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik sowie Direktorin des von ihr mitgegründeten Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung (SEW) tätig war. Seit Februar 2021 ist Monika Bütler selbstständig tätig und verfügt über mehrere VR-Mandate. hoh.
Plakativ ausgedrückt können sich die Armen die Pflegeversicherung nicht leisten, die Reichen brauchen sie nicht, und für den Mittelstand ist sie finanziell unattraktiv. Drittens ist das Risiko, Pflegeleistungen zu beanspruchen in der Bevölkerung sehr ungleich verteilt. So besteht die Möglichkeit, dass die Versicherung gerade für diejenigen am teuersten ist, die es sich am wenigsten leisten können. Ich denke hier vor allem an die Frauen, die zuvor oft ohne Gegenleistung Angehörige gepflegt hatten.
Staat oder Markt – wer trägt die Verantwortung für Pflegekosten im Alter? Oder anders gefragt: Sie fordern, dass die Rollenteilung zwischen Staat und Privatwirtschaft stärker thematisiert wird. Wo sehen Sie beim Thema Langzeitpflege den effizientesten Schnittpunkt zwischen öffentlicher Absicherung und privater Vorsorge?
Ganz trennen lassen sich die Rollen von Staat und Assekuranz nie, wenn es um Leistungen geht, welche die Existenz sichern. Und um die Existenzsicherung geht es gerade im hohen Alter und besonders im Pflegefall. Es ist daher zuerst einmal wichtig, die Ziele und die Wege der Finanzierung der Pflege zu diskutieren. Dabei sind auch Modelle möglich, bei denen die Privatversicherer innerhalb staatlicher Regulierungen oder sogar staatlicher Co-Finanzierung eine aktivere Rolle übernehmen können. Klar ist: ohne Staat geht die Lösung des Problems nicht. Nicht zuletzt, weil die Verfassung die Existenzsicherung garantiert.
Im heutigen System hat es Fehlanreize. Die Kosten der Pflege werden derzeit häufig durch Ergänzungsleistungen gedeckt – was insbesondere für Menschen mit mittleren Einkommen problematisch sein kann. Welche Risiken ergeben sich daraus, und wie liessen sich diese entschärfen?
Problematisch heute ist weniger das mittlere Einkommen per se, als die Kombination mit Vermögen. Die EL verlangen – ganz im Sinne einer möglichst sparsamen Verwendung ihrer knappen Mittel, – dass ein Teil des Privatvermögens zur Finanzierung der Pflegeleistungen herangezogen wird.
Wie so oft entsteht ein Zielkonflikt zwischen sozialer Gerechtigkeit und der Kosteneffizienz des Systems.
Monika Bütler, Honorarprofessorin für Wirtschaftspolitik
Dies empfinden viele Menschen als ungerecht im Vergleich zu ähnlich gestellten Leuten, die nichts gespart haben. Die Finanzierung durch EL erzeugt somit im mittleren Einkommensbereich Anreize, kein Vermögen aufzubauen, oder dieses rechtzeitig zu verbrauchen oder zu verschenken - wobei der Gesetzgeber hier klare Grenzen setzt. Wie so oft entsteht ein Zielkonflikt zwischen sozialer Gerechtigkeit und der Kosteneffizienz des Systems.
In der politischen Diskussion taucht immer wieder die Idee einer obligatorischen Pflegeversicherung auf. Wäre das ein sinnvoller Schritt – oder würden Sie eher auf gezielte staatliche Unterstützung und mehr individuelle Eigenverantwortung setzen?
Mit den Ergänzungsleistungen zur AHV hat die Schweiz bereits heute eine implizite Form einer bedarfsorientierten Pflegeversicherung. Das scheint politisch so gewollt. Ob dies die beste Lösung ist, steht auf einem anderen Blatt. Klar ist, dass eine individuelle Vorsorge nur dann funktionieren kann, wenn sie stark incentiviert wird und/oder obligatorisch ist. Ziel sollte es sein, dass diejenigen, die finanziell selbst vorsorgen könnten, dies auch tun. Eine Möglichkeit wäre, ein Teil des angesparten Kapitals in der zweiten Säule - oberhalb einer noch zu definierenden Grenze - für die Finanzierung der Pflegeleistungen zu reservieren.
Angesichts der alternden Bevölkerung drohen die Pflegekosten künftig stark zu steigen. Wie kann ein neuer Generationenvertrag aussehen, der die Lasten fair verteilt und die Finanzierung der Langzeitpflege langfristig sichert?
Ein wichtiger Teil des impliziten Generationenvertrags ist, dass Transfers von den Jungen zu den Alten vor allem denjenigen Menschen zugutekommen, die selbst weniger vorsorgen können. Die Zielgenauigkeit der Transfers leidet stark unter Leistungen mit der Giesskanne, wie zum Beispiel die 13. AHV Rente. In dieser Hinsicht schneidet die teilweise Finanzierung der Pflegeleistungen über die EL nicht schlecht ab. Idealerweise sollte diese ergänzt werden durch ein Versicherungselement für die mittleren und hohen Einkommen.
Sie betonen oft die Bedeutung der Eigenverantwortung. Halten Sie es für realistisch, dass Menschen frühzeitig und freiwillig für ein so ungewisses Risiko wie Langzeitpflege vorsorgen – oder braucht es regulatorische Anstösse?
Die Menschen sind sehr unterschiedlich, einige sorgen sich schon sehr früh um die finanzielle Situation in Alter, die meisten hingegen eher nicht. Einerseits, weil das hohe Alter sehr weit weg ist. Andererseits, weil wir uns gewohnt sind, dass der Staat die Versicherung gegen die grossen Lebensrisiken weitgehend organisiert oder mindestens reguliert. Ich halte es deswegen und wegen der verfassungsmässig garantierten Existenzsicherung als unvermeidbar, dass es regulatorische Vorgaben für die Langzeitpflege geben muss. Dennoch: diese sollten so ausgestaltet sein, dass die eigene Vorsorge incentiviert oder mindestens nicht bestraft wird. Und so sehr ich mich für eine bessere finanzielle Bildung einsetze, so wenig glaube ich, dass sie zur Lösung des Problems beitragen kann.