Herr Helbling, der SVV hat sich eine neue Strategie verpasst. Warum? Taugte die bisherige Strategie nicht mehr?

Unternehmensstrategien sind dazu da, Schwerpunkte zu setzen und Orientierung zu stiften. Rahmenbedingungen verändern sich jedoch. Strategien müssen deshalb in regelmässigen Abständen überprüft und angepasst werden. Im Vorstand des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV sind wir zum Schluss gekommen, dass dies für unsere Branche der Fall ist.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 
Es handelt sich um eine Verbandsstrategie. Wie wurden Ihre Mitgliedgesellschaften bei der Erarbeitung einbezogen?

Um die neue Strategie schon im Entstehungsprozess breit abzustützen, haben wir den Weg einer schrittweisen Annäherung an die Lösung gewählt. 

Das heisst?

Gestützt auf eine Umfeldanalyse und eine Befragung ausgewählter Stakeholder wurden auf der Geschäftsstelle unseres Verbandes erste Thesen erarbeitet und in Einzelgesprächen mit unseren Vorstandsmitgliedern weiterentwickelt. In der Folge war es an unseren Milizausschüssen, eine Beurteilung vorzunehmen, worauf die gesammelten Ergebnisse erneut dem Vorstand vorgelegt wurden.

Was sind Milizausschüsse beim SVV?

Das sind Gremien des SVV, in denen rund 600 Mitarbeitende aus den Mitgliedgesellschaften arbeiten.

Wie stark unterscheidet sich denn die neue Strategie von der bisherigen?

Die Kernaufgabe des SVV besteht nach wie vor darin, sich im Interesse seiner Mitgliedgesellschaften für optimale Rahmenbedingungen einzusetzen. Das heisst: Gute Wettbewerbsbedingungen mit nur so viel Regulierung wie nötig und so wenig wie möglich. Daran hat sich nichts geändert.

Was ist neu?

Neu ist, dass wir unserer Bedeutung für den Schweizer Finanzplatz mehr Rechnung tragen wollen. Immerhin kommt die Hälfte der dort generierten Bruttowertschöpfung aus dem Versicherungsbereich; einem Sektor, der rund 50'000 Angestellte in der Schweiz umfasst. In einer sich stark verändernden Berufs- und Arbeitswelt wollen wir uns noch mehr als bisher mit einer starken Stimme einbringen; sei es auf politischer Ebene in klassischen Arbeitgeberfragen oder bei der Entwicklung von neuen Berufsbildern. Die zwei Fokusbereiche «Nachhaltigkeit» sowie «Vorsorge für Jung und Alt» stellen grosse Herausforderungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft dar – und sind auch zentrale Themen für uns als Versicherungswirtschaft. Kein Wunder, dass wir sie in der neuen Strategie besonders gewichten.

Was hat die neue Verbandsstrategie für Folgen in der Praxis?

In den Ausschüssen, Kommissionen und Arbeitsgruppen wird ausgezeichnete Arbeit geleistet – und doch verlagern sich mit den veränderten Rahmenbedingungen auch die Aufgabengebiete und die Schwerpunkte. Die Ausrichtung und Zusammensetzung unserer Ausschüsse, Kommissionen und Arbeitsgruppen, mit denen wir innerhalb des SVV die fachliche Arbeit leisten, müssen mit den Anforderungen, die sich aus der neuen Strategie ergeben, übereinstimmen. Wir haben unsere Verbandsstruktur konsequent an die neue Verbandsstrategie angepasst. Das gilt auch für die Organisation unserer Geschäftsstelle: Das bisherige Alltagsgeschäft und die mit der neuen Strategie hinzugekommenen Aufgaben sind mit dem vorhandenen Personaletat und Budget zu bewältigen. Wir müssen uns also nach der Decke strecken und bei der Betreuung unserer Milizgremien noch effizienter werden, ohne dass die Dienstleistungen für unsere Mitglieder sinken.

Geht mit der neuen Strategie auch eine neue Positionierung der Branche nach aussen einher?

Seit jeher hat die Versicherungswirtschaft eine hohe Bedeutung für die Schweizer Wirtschaft. Diese Aufgabe wollen wir volkswirtschaftlich verantwortlich wahrnehmen. Mit der neuen Strategie zeigen wir diesen Kontext konsequenter auf. An der Positionierung hat sich jedoch nichts geändert, wir wollen sie einfach noch konkreter einfordern und glaubwürdig unterlegen.

Kernaufgabe des SVV besteht nach wie vor darin, sich für optimale Rahmenbedingungen einzusetzen.

Können Sie etwas konkreter werden?

Die volkswirtschaftliche Verantwortung schliesst die Gesamtsicht auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ein. Sie wahrzunehmen heisst, unsere Leistungsfähigkeit, sprich unsere Kompetenz und Expertise einzusetzen. Konkret heisst dies, dass wir Versicherer in der Schweiz tagtäglich rund 139 Millionen Franken für Schäden und Renten an Privat- und Unternehmenskunden auszahlen. Damit nehmen wir volkswirtschaftliche Verantwortung wahr. Weiter heisst dies jedoch auch, uns in jene gesellschaftspolitischen Diskussionen einzubringen, die uns betreffen, jedoch über unser Tagesgeschäft hinausgehen, zum Beispiel bei Fragen zur Altersvorsorge oder des Gesundheitswesens.

Ein wichtiges Ziel der Strategie sind nach wie vor optimale Rahmenbedingungen. Sind Monopole und die Vorteilsnahme durch staatsnahe Betriebe für Sie ein Thema?

Ja sicher. Immer mehr staatliche und staatsnahe Unternehmen expandieren über die Grenzen des Service Public hinaus. Sie stehen dann im Wettbewerb mit Privatunternehmen und profitieren von Privilegien wie Staatsgarantien, Datenzugang oder Vertragszwang. Das muss gegenüber der Politik und gegenüber der Öffentlichkeit adressiert werden – im Sinne unserer Industrie und im Sinne unserer ordnungspolitischen Sicht. Wir setzen uns konsequent für eine liberale Marktwirtschaft ein, das heisst gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmenden. Ergo muss die Aufgabenteilung zwischen staatlichen Institutionen und der Privatwirtschaft klar sein. Ist dies der Fall, sind zum Beispiel auch sinnvolle Partnerschaften möglich.

Wie könnte eine solche Partnerschaft aussehen?

Ein erfolgreiches Beispiel ist die «Gefährdungskarte Oberflächenabfluss». Das Bundesamt für Umwelt Bafu, die Vereinigung der Kantonalen Gebäudeversicherer VKG und der SVV haben im Rahmen einer Private-Public-Partnership diese Karte erarbeitet und damit eine wichtige Lücke in der Prävention von Naturgefahren geschlossen.

Eine angemessene Regulierung und Aufsicht zu erreichen, ist auch eines Ihrer strategischen Anliegen. Ich wage zu behaupten, dass der SVV angesichts der Verpolitisierung des Themas nicht viel bewegen kann.

Wie gesagt: Nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Das bleibt unser Credo für Regulierung und Aufsicht. Sie haben recht, Regulierungs- und Aufsichtsfragen haben mit der Finanzkrise in der Politik stark an Gewicht gewonnen. Das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass es in diesem Bereich für unsere Industrie nichts mehr zu gewinnen gibt. Wir haben die politischen Auseinandersetzungen noch nie gescheut und werden uns auch weiterhin für eine massvolle Regulierung und Aufsicht einsetzen.

Sie haben es vorher erwähnt: Die Arbeitgeberpolitik und die Berufswelten zu prägen ist ein neues strategisches Ziel. Wie beurteilen Sie die Aussicht, auch in Zukunft gute Leute und vor allem Nachwuchs für die Privatassekuranz rekrutieren zu können?

Der Ausstieg der Babyboomer aus dem Arbeitsprozess und der rasche Wandel der Arbeitswelt im Zuge der Digitalisierung stellen uns in der Tat vor Herausforderungen. Um diesen zu begegnen, sind verschiedene Massnahmen erforderlich. Wir identifizieren zum Beispiel die Anforderungen und Kompetenzen, die künftig für unsere Branche an Relevanz gewinnen – und entwickeln auf dieser Basis neue Berufsbilder und Ausbildungslehrgänge. Wir fördern durchlässige Aus- und Weiterbildungsprozesse, lebenslanges Lernen und setzen uns für den Zugang zu internationalen Fachkräften ein. Wir sind überzeugt, dass die Versicherungsbranche auch in Zukunft ein attraktiver Arbeitgeber bleibt.

Was macht Sie da so sicher?

Die Vielfalt der Karrieremöglichkeiten und die Vielfalt der Berufe sind in der Versicherungsbranche einmalig. Ausserdem bieten die Versicherer attraktive Arbeitsbedingungen.

Sie haben mit «Vorsorge» und «Nachhaltigkeit» zwei Fokusbereiche erwähnt. Sie wollen die Altersvorsorge weiterentwickeln. Was gibt es da weiterzuentwickeln?

Unser Dreisäulensystem galt weltweit immer als eines der Besten – der aktuelle Reformbedarf ist aber unbestritten. Neben der Aktualisierung der Eckwerte sehen wir Handlungsbedarf bei der Nachhaltigkeit des Dreisäulensystems. Dafür müssen die Parameter entpolitisiert werden, namentlich das Referenzrücktrittsalter, der BVG-Umwandlungssatz und der BVG-Mindestzinssatz.

Mit Blick auf die Verpolitisierung der Vorsorge wage ich auch hier die Behauptung: Damit riskieren Sie eine Bruchlandung!

Es gibt für uns keinen Grund, uns nicht für eine nachhaltige Altersvorsorge einzusetzen und der Verpolitisierung dezidiert entgegenzutreten. Denken Sie an den BVG-Umwandlungssatz: Wurde dessen Senkung vor zehn Jahren noch mit Vehemenz abgelehnt, ist dieser Reformpunkt heute unbestritten. Das hat auch damit zu tun, dass die Thematik an Brisanz gewonnen hat – und dass sie in der Öffentlichkeit besser und immer wieder erklärt wird. Genau hier haben wir auch ein Interesse, den Informationsteppich mit unserer Expertise zu verdichten.

Einen besonderen Stellenwert legen Sie schliesslich auf Nachhaltigkeit und Innovation. Das scheint mir stark dem Zeitgeist geschuldet!

Es gibt triftige Gründe, warum die Versicherungsbranche Nachhaltigkeit grossschreibt – der «Zeitgeist» gehört nicht dazu. Nachhaltigkeit und langfristige Ausrichtung sind für uns keine Fremdwörter; sie gehören vielmehr zu unserer DNA. So ist ökologische Nachhaltigkeit im ureigenen Interesse der Versicherer, denn sie trägt dazu bei, dass Umweltrisiken auch in Zukunft noch versicherbar bleiben. Und was Innovation betrifft: Der rasante technologische Fortschritt verändert das Versicherungsgeschäft. Mit Insurtech sind neue Konkurrenten auf den Markt getreten, Künstliche Intelligenz übernimmt Beratungsaufgaben, autonomes Fahren stellt uns vor neuen Haftungsfragen und mit Cyberrisiken sind neue Risikolandschaften entstanden. Auch hier wollen wir für Rahmenbedingungen sorgen, die es den Versicherern ermöglichen, flexibel und innovativ zu reagieren.

Verbandsstrategie «SVV 2020–2024»

Fünf strategische Ziele

Voraussetzungen optimieren

  1. Optimale Rahmenbedingungen anstreben: Gute Wettbewerbsbedingungen sind für den Erfolg des Wirtschaftsstandortes und der Versicherungsgesellschaften ein Schlüsselfaktor.
  2. Angemessene Regulierung und Aufsicht erreichen: In erster Linie hat der Wettbewerb zu spielen. Massvolle regulatorische Rahmenbedingungen sollen nur wenn nötig eingeführt werden.
  3. Arbeitgeberpolitik und Berufswelten prägen: Die Bildungspolitik und die liberale Arbeitsmarktpolitik sind ein Pfeiler der Wettbewerbsfähigkeit der Branche. Diese sollen auf die Zukunft ausgerichtet werden.

 

Fokusbereiche entwickeln

  1. Vorsorge weiterentwickeln: Kompetenz, Erfahrung sowie der volkswirtschaftliche Beitrag der Versicherer in der Vorsorge zeigen auch künftig die Schlüsselrolle der Privat- und Krankenzusatzversicherer in diesem Bereich auf.
  2. Nachhaltigkeit verankern, Innovation ermöglichen: Der SVV engagiert sich für eine nachhaltige Entwicklung der Versicherungswirtschaft sowie für die Möglichkeit, Veränderungen in der Risikolandschaft als Chance für Weiterentwicklung zu nutzen.