Die EU-Nachhaltigkeitstaxonomie der EU-Plattform für nachhaltige Finanzen gilt als eine der wirkungsmächtigsten überhaupt: Weltweit bestimmt dieses Regelwerk mit, ob und wie nachhaltig Unternehmen, ihre Aktien und die auf diesen Aktien aufbauenden Finanzprodukte sind.

Allerdings ist das Regelwerk nicht unabänderlich, es soll sich äusseren Veränderungen anpassen können, falls das erforderlich erscheint. Beispielsweise bei den Rüstungsaktien: Die galten bis zum 24. Februar, dem Tag, an dem Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine begann, als nicht ESG-konform. Inzwischen verschieben sich hier die Akzente der Debatte. Denn eine offene und freie Gesellschaft, die sich nicht gegen Diktaturen, wie sie in Russland unter Wladimir Putin errichtet worden ist, behaupten kann, gilt zunehmend als «nicht nachhaltig».

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Westeuropäische Rüstungsunternehmen gelten deshalb inzwischen als halbwegs ESG-Fonds-tauglich, zumal sie keine verbotenen Waffen wie Personenminen oder Streumunition herstellen. Eine ähnliche Diskussion findet in der Energiebranche statt. Hier gilt verflüssigtes Erdgas ebenfalls seit dem 24. Februar mehr als nur als eine Sackgassen-Energiequelle auf dem Weg zur Netto-null-Emissionswirtschaft, sondern als halbwegs vertretbare Brückentechnologie.

Heute bewerten, was erst morgen gilt

Aus Sicht der EU-Arbeitsgruppe, die sich mit nachhaltigen Finanzanlagen beschäftigt, gibt es weiteren Anpassungsbedarf. Er ist grundsätzlich und setzt an den Beobachtungen der Märkte an. In den vergangenen drei Jahren hatte immer mehr Geld immer stärker die Aktien der weiterhin spärlich vertretenen «dunkelgrünen» nachhaltigen Unternehmen gejagt – und dort eine Preisblase verursacht.

Die Knappheit an wirklich «grünen» Aktien ist eine Nebenwirkung der Nachhaltigkeitsregulierung. Gemäss einer Untersuchung des Fondsanalyseunternehmens Morningstar sind in den beliebtesten ESG-Fonds überproportional viele Tech-Unternehmen und Finanzdienstleister wie Visa oder Mastercard vertreten. Die Microsoft-Aktie steckt in fast jedem ESG-Fonds, die Aktien von Amazon, Alphabet/Google und Meta/ Facebook in einem Viertel dieser Fonds, obwohl beispielsweise Microsoft einen Drittel seines Umsatzes mit Produkten und Dienstleistungen einspielt, die gemäss den Morningstar-Analysten nicht wirklich nachhaltig sind.

Umgekehrt sind die tatsächlich grössten «grünen» Unternehmen wie Nextera Technologies, Solaredge oder Ørsted in den Nachhaltigkeitsfonds untervertreten – wenn sie denn überhaupt berücksichtigt werden.

Jetzt soll es nach den Vorstellungen der EU-Plattform eine feinere Auflösung der Kategorien der Nachhaltigkeitstaxonomie geben. Im Kern dreht es sich hierbei um zwei Aspekte: Einerseits wird zukünftig zwischen den Aktivitäten mit hohen Wirkungen und hohen schädlichen Auswirkungen unterschieden. Denn in der Praxis zeigt sich, dass die Aktivitäten vieler Unternehmen die Umwelt zwar belasten, aber diese Belastungen sind nicht aussergewöhnlich gross. Umgekehrt gibt es Firmen, die zwar quantitativ kaum belastende Stoffe emittieren, aber sie sind dann richtig giftig.

Blick nach vorne

Anderseits soll die feinere Abstufung nicht nur das Abbild der Gegenwart zeichnen, sondern auch die zukünftige Perspektive einschliessen. Konkret sollen Unternehmen, die heute noch die Umwelt belasten, aber rasch und richtig auf nachhaltige Produktionsverfahren umstellen, bereits heute besser bewertet werden und damit günstigere Konditionen an den Märkten erhalten als Firmen, die nichts unternehmen.

Wird damit alles besser? Die Analysten von Jefferies, einer US-Investmentbank, warnen vor zu viel Optimismus. Denn auch wenn sich durch die bevorstehenden Anpassungen die Blase bei den nachhaltigen Anlagen abbauen sollte, steigt die Komplexität der ESG-Regulierung weiter. Das werden nicht nur die Unternehmen spüren, die mindestens einmal jährlich über den Stand ihrer Nachhaltigkeit berichten müssen, sondern auch die Fondsmanager und Investorinnen. Laut den Analysten «müsste die EU hier die richtige Balance zwischen der Vermittlung zusätzlicher Informationen und einer weiteren Steigerung der Reporting-Pflichten bei den Unternehmen finden».

Dieser Artikel ist erstmals in der Handelszeitung vom 28. April 2022 erschienen

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