Achtzehn Kurven, drei Spitzkehren, zwei lange Geraden, eine kurze Steigung: Der Immobilienrundkurs im bernischen Lyss misst gut zehn Kilometer. Andreas Hegg fährt ihn mit seinem schwarzen Peugeot 108 in 55 Minuten ab – Haltezeiten inklusive. Der Präsident kennt jedes Bauprojekt in seiner Gemeinde. «Überbauung Stiglimatt», kommentiert er. «400 Wohnungen. Alles weg. Ein Wahnsinn.»

Hegg ist in Lyss aufgewachsen und steht seit sieben Jahren der Gemeinde vor. Er fährt an einem schönen Herbsttag durch den Ort, um für die «Handelszeitung» Peak Beton zu dokumentieren: den Zenit im Mietwohnungsbau. Die Seeländer Gemeinde zeigt in der Sonne ihr schönstes Antlitz. Knapp 15 000 Menschen wohnen hier, auf halbem Weg von Bern nach Biel. Das sind mehrere tausend mehr als vor zehn Jahren und 1000 bis 2000 weniger als in Zukunft, wenn alle Bauprojekte fertig sind. Ob der Plan aufgeht und wirklich so viele Menschen kommen?

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Während der Fahrt um die Baugerüste und -gespanne der kleinen Ortschaft spricht Hegg die wunden Punkte im Immobilienmarkt an. «Lange ging es in Lyss gut mit dem Wohnungsbau», sagt Hegg. «Jetzt sind viele Wohnungen frei geworden. Wir fragen uns, wer dorthin ziehen wird.»

Strategische Reserve war in zwei Jahren weg

Die Rundtour beginnt am südlichen Ortsrand. Überbauung Stigli-Spinsmatte, bezugsbereit seit 2015. Ein Megaprojekt, das trotz seiner Grösse beschaulich wirkt. Es gibt viel Grün, Terrassen, farbige Wimpel und Familiengasgrills. Schwingerkönig Christian Stucki wohnt in dieser Siedlung. Das Projekt gilt als Erfolg, zumindest isoliert betrachtet. Im Gesamtkontext stellen sich trotzdem Fragen. «Nur ein Drittel der Zuzüger kam von ausserhalb», sagt Hegg bei der Fahrt durch die Reihenhäuser-Allee. «Zwei Drittel stammen aus dem Ort.» Deren alte Wohnungen müssen irgendwie gefüllt werden.

Statistiken zeigen, dass Lyss kein Einzelfall ist. Die Auswüchse im Bau sind ein schweizweites Thema. Fast 70 000 Mietwohnungen stehen im ganzen Land leer. Im Schnitt entspricht dies einer Quote von 2 Prozent. International ist das ein tiefer Wert. Trotzdem sprechen die Immobilienexperten von Wüest Partner von einer problematischen Situation. Besonders an mittelklassigen Standorten – fernab der Grossstädte, aber auch nicht wirklich auf dem Land – nehmen die Leerstände zu.

In diese Kategorie der sogenannten Regionalzentren fällt Lyss. Die Leerstandsquote beträgt hier mittlerweile 4 bis 5 Prozent. Wellen von Neubauten haben den Wohnungsmarkt in den letzten Jahren überschwemmt – und einen Verdrängungskampf um zahlungskräftige Mieter heraufbeschworen.

Die Folgen davon zeigen sich am Lyssbachpark, einer Ansammlung roter und gelber Wohnkuben. Sechs grosse Mehrfamilienhäuser wurden hier ab 2005 hergewürfelt, in Gehdistanz zum Bahnhof. 2011 kamen nochmals zwei Langbauten dazu: mit erdgeschossigem Shoppingcenter (Migros, Chicorée, Konditorei zum Buttergipfel) und Wohnungen im Obergeschoss, finanziert von der Credit Suisse. Total mehrere hundert Wohnungen. Das Quartier wirkt gemütlich, Mütter spielen mit Kindern, Rentner trinken Kaffee. Doch es gibt Fluktuationen.

Viele Wohnungen sind zur Miete ausgeschrieben: 2,5 Zimmer, 1540 Franken, erster Monat gratis. Wer nach einer Besichtigung fragt, erhält im Nu einen Termin. «Wir müssen uns überlegen, ob wir noch weiter verdichten wollen», sagt Hegg.


«Wir müssen uns überlegen, ob wir noch weiter verdichten»: Andreas Hegg, Gemeindepräsident von Lyss.

Was hier weiter geschieht, ist von Kapitalanlegern abhängig. Die CS hat Land gekauft, gleich vis-à-vis hinter dem Monopoli-Platz, der nach der apulischen Partnerstadt benannt ist. Alte Bausubstanz soll weg, dichtere Wohnbauten her. Verschwinden soll auch eine stillgelegte Kambly-Fabrik. Dort, wo es einst duftende Guetzli ab Rampe gab, sollen 170 Wohnungen stehen. «Hochwertig, mit Spielplatz.» Gemäss Verdichtungsvorgaben des Kantons wären 55 Personen pro Hektar eigentlich genug, sagt Hegg. Doch man sei schon bei über 80. «Man muss die Folgen weiterer Bauten für Infrastruktur, Verkehr, Schulen und Sicherheit sorgsam abwägen.»

An sich sei das Ganze schon durchdiskutiert worden, erzählt er: anlässlich der Ortsplanrevision 2013. Der Kanton habe damals die Einzonung von 14 Hektar Land empfohlen. Die Gemeinde habe sich auf 7 Hektar beschränkt – im Glauben, dies werde die strategische Reserve für die nächsten 15 Jahre sein. Zwei Jahre später war das Land aber schon weg: gekauft von tatkräftigen Investoren. «Ein Wahnsinn», sagt Hegg, als könnte er die rasante Entwicklung selbst nicht fassen.

Verkauft der Bauer, verdient die Gemeinde mit

Der Lysser FDP-Mann ist nicht allein. Seit der Jahrtausendwende wird im ganzen Land auf Teufel komm raus gebaut. 2002 kamen pro Jahr noch rund 7000 Mietwohnungen auf den Markt. Inzwischen sind es jährlich über 25 000 Einheiten. Ein Rückgang ist vorerst nicht in Sicht. Gesuche für weitere 30 000 Mietwohnungen sind auf den Bauämtern hängig. Die neuen Wohnungen kommen in den nächsten zwei bis drei Jahren auf den Markt – und werden das Ungleichgewicht besonders an den Bund C-Lagen nochmals verschärfen.

Wo die Immobilienleichen von morgen stehen, zeigt ein Indikator, den der Immobiliendienstleister IAZI für die «Handelszeitung» berechnet hat. Die Kennzahl kombiniert die publizierten Baubewilligungen mit den existierenden Leerständen in einer Gemeinde. Besonders hohe Werte erreicht sie in der Waadt sowie in den Kantonen Bern und Aargau: Dort, wo eine begrenzte Nachfrage nach Wohnraum auf eine rege Bautätigkeit trifft.

Den höchsten Risikowert weist die Gemeinde Vechigen nahe der Stadt Bern auf. Es folgen der Jura-Hauptort Delémont und Buchs im Aargau (siehe Tabelle rechts). Berücksichtigt wurden Ortschaften mit einer Einwohnerzahl über 5000. Grössere Städte finden sich auf der Liste kaum, wie IAZI-Chef Donato Scognamiglio bemerkt. «Die Risiken liegen in der Peripherie.» Lyss liegt auf Platz 25.

Andreas Hegg braust in seinem Kleinwagen durch die Bahnhofsunterführung. Weiter geht es den Stotz hinauf, vorbei an einem Bauprojekt. «Im Erli. Vierzig Eigentumswohnungen.» Die Terrassenhäuser werden von einem Champignon-Züchter gebaut, der nebenbei auf Immobilien macht. Gute Steuerzahler dürften hier kaufen. Das freut den Gemeindepräsidenten. Denn die Steuerkraft pro Person ist zuletzt geschrumpft. Mehr qualitatives, weniger quantitatives Wachstum ist gefragt.

Halt an einer Grossbaustelle zuoberst auf dem Hügel. Hier liegt das Rossi-Quartier, mit Sicht nach Westen. Über hundert Miet- und Eigentumswohnungen werden gebaut. «Eine Riesengeschichte.» Zu den Investoren zählt die Pensionskasse der Technischen Verbände in Bern.

Die Immobilienwirtschaft ist berüchtigt für ihre Zyklen. Was passiert, wenn in zwei bis drei Jahren die Flaute einsetzt? Immobilienspezialist Fredy Hasenmaile von der CS hat eine Schätzung dazu. Ihm zufolge werden zurzeit 5000 bis 6000 Wohnungen zu viel gebaut. Zusammen mit den anderen Immobiliensektoren sind das 3 Milliarden Franken Überschuss. Ausgleichend werde der Bau einige Zeit 3 Milliarden unter dem Normalniveau laufen müssen. Macht total 6 Milliarden Franken weniger Umsatz. Das entspricht fast 1 Prozent des BIP. «Der Bau hat der Schweiz durch die Krise geholfen», sagt Hasenmaile. «Es ist unklar, ob die Wirtschaft einen Ersatzmotor findet.»

Vorbei an farbigen Laubwäldern geht es in den Ortsteil Busswil, der 2011 eingemeindet wurde. Nach Nordwesten ausgerichtet stehen hier ein Dutzend Reihen- und Mehrfamilienhäuser. Es sind 57 Wohneinheiten. Quadratisch, praktisch, gelb. Weiter unten steht die Coop-Essigfabrik, hier wird es weitere Wohnungen geben. Hegg, 59, Vater zweier erwachsener Kinder und ehemaliger Lehrer, erklärt die Anreize, die einen Teil der Projekte antreibt: ein Bauer besitzt Land, dessen Wert sich beim Umzonen verfünfzigfacht. Werde gebaut, so schöpfe die Gemeinde einen Drittel des Mehrwerts ab. «In die Gemeindekasse wurden so Millionen von Franken gespült.» Das Geld helfe, Quartiere zu erschliessen.

Neue Wohnungen warten länger auf Mieter

Zurück Richtung Lyss, vor den Bahnhof. Hier steht die Überbauung Portalyssa, auf dem einstigen Areal der Gerber Landesprodukte, eröffnet am 1. Juli 2017. Eine Blache ist montiert: «Jetzt bezugsbereit: Grosszügige 2,5- bis 5,5-Zimmer-Wohnungen.»

Urbanes Wohnen gebe es hier, viel Komfort, Licht und Grün, steht im Internet. Dazu ein gratis Mobility-Abo. Vor Ort wirkt die Siedlung gräulich bis beige. Ein paar alte Holzchalets lugen weiter hinten hervor, in einem Eckhaus ist die Kita untergebracht. Auf den Briefkästen steht: Tanrikulu, Bevc, Dalvi, Wälti. Viele Schilder tragen noch keinen Namen. Die zehn Blöcke auf dem Gerber-Areal sind das deutlichste Anzeichen, dass der Wind am Lysser Immobilienmarkt am Drehen ist. Es sind die ersten Liegenschaften, bei denen es wirklich harzt. Vier Monate nach Baubeginn ist erst knapp die Hälfte der Wohnungen vermietet.


Nach vier Monaten stehen noch viele Wohnungen leer: Gerber-Areal in Lyss.

Die CSS-Versicherung, die einen Teil der Bauten finanziert hat, räumt Startschwierigkeiten ein. «Die Früchte hängen heute deutlich höher als noch vor fünf Jahren, als das Projekt geboren wurde», sagt Nicola Fuso, Verantwortlicher für Immobilienanlagen bei der Krankenkasse. Er würde sich die Investition heute zweimal überlegen. Klarheit gebe es in sechs Monaten: ein Einjahres-Puffer mit einer Belegung von 50 Prozent sei einkalkuliert.

«Lyss verfügte über grössere, zentral gelegene Baulandkapazitäten», erklärt Christoph Stäger von der Pensionskasse Previs, die einen anderen Teil der Siedlung gebaut hat. «Diese wurden entwickelt und so entstanden in kurzer Zeit relativ viele Wohnund Geschäftsflächen.» Nebst einer aktiven Vermarktung sowie attraktiven Zugaben für die Mieter setze man sich jetzt auch mit dem Preisgefüge auseinander.

Andreas Hegg stoppt vor dem Gemeindehaus. Die Rundfahrt ist zu Ende, er muss an eine Sitzung. «Lange ging auf dem Markt alles weg», sagt er. Jetzt sei man bei den Mietwohnungen wohl am Kulminationspunkt angelangt. «Ein Wahnsinn.»