Das Dreieck aus Strategie, Struktur und Kultur wird – in der einen oder anderen Form – in vielen Organisationen als Grundlage für die Orientierung und Gestaltung unternehmerischer Steuerungs- und Veränderungsbemühungen genutzt. Wir könnten es ohne Weiteres als «magisches Orchester des Organisierens» taufen. Dabei gibt die Strategie idealerweise die Richtung vor, die Wahl der Strukturen folgt sodann typischerweise der Frage, mit welcher Aufbau- und Ablauforganisation die strategischen Ziele am besten erreicht werden können und die Kultur ... ja, die Kultur …

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Wir haben es bei den Mitgliedern des magischen Orchesters mit sehr unterschiedlichen Instrumenten zu tun. Und dennoch sind sie wechselseitig aufeinander angewiesen, um Wohlklang zu erzeugen. Dissonanzen entstehen in Konfliktzonen und gehören bekanntlich dazu. Während sich Strategien entwickeln, neue Organigramme zeichnen und sich beide im Zweifelsfall auch verordnen lassen, so sieht das bei der Kultur grundsätzlich anders aus. Strategien und organisatorische Veränderungen lassen sich beschliessen, kulturelle Entwicklungen nicht.

Schaut das Management in Hinblick auf wichtige Changeprozesse zurück oder nach vorn, so wird häufig die Kultur in Anschlag gebracht; gerne und gerade auch dann, wenn etwas misslungen ist. Beim Blick zurück findet sich nicht selten der Befund, es hätte zu hohe kulturelle Widerstände oder Barrieren gegeben. Beim Blick nach vorn lautet die Antizipation oft: Die kulturellen Hindernisse werden der neuen Strategie und ihrer Umsetzung in veränderten Prozessen sicher am meisten im Wege stehen. Dieses Denken gilt auch für die kulturellen Herausforderungen der Digitalisierung in unseren Organisationen. Ich möchte leise Zweifel anmelden.

Imaginärer kultureller Gap

Bei meiner Arbeit mit Unternehmen mache ich häufig die Beobachtung, dass zumindest auf der Tonspur ein kultureller Gap betont wird zwischen Bereichen, von denen man annimmt, dass sie für die Digitalisierung bereit sind, und jenen, die angeblich noch viel zu sehr «in alten Mustern» denken. Ich möchte dafür plädieren, diese Sichtweise kritisch zu hinterfragen, da wir an dieser Stelle oftmals einem eigenen Vor-Urteil zum Opfer fallen. Schauen wir genau hin, so hat es häufig weniger mit den Menschen, sondern oftmals viel mehr mit dem Zuschnitt ihrer Aufgaben- und Verantwortungsbereiche zu tun. Vergessen wir doch bitte nicht: Organisationen stellen seit Jahrzehnten – nimmt man ihre Stellenausschreibungen ernst – vor allem team- und konfliktfähige, kooperations- und gestaltungsorientierte, flexible sowie hoch einsatzbereite und verantwortungsbewusste Menschen ein. Warum sollten sich nun genau jene, die nicht exakt dem Profil entsprechen, ausgerechnet genau in bestimmten Unternehmensbereichen versammelt haben, die «vom Mindset her» noch nicht parat für die Digitalisierung sein sollen? Seien wir vorsichtig, üben uns in Perspektivenwechsel und vermeiden Stereotype, die kurzerhand ganze Abteilungen en bloc unter Digitalisierungsinkompatibilitätsverdacht stellen. Dieser Rat hat einen ganz praktischen Grund: Es bewegt Unternehmensbereiche sicher keinen einzigen Millimeter in den agilen Zielkorridor, wenn man ihnen implizit oder explizit gestrige Denkweisen unterstellt.

So wollen wir einmal kurz und der guten Ordnung halber festhalten: Während die «hard factors» (Strategie und Struktur) sich offensichtlich einigermassen managen lassen, so ergeben sich aus dem «soft factor» (Kultur) aus Optik und aufgrund der Aussagen der Beteiligten die wirklich harten Herausforderungen. Was bedeutet das nun für die Rolle unternehmenskultureller Aspekte der digitalen Transformation, in der wir uns befinden?

Wenn wir davon ausgehen, dass sich die digitale Transformation durch eine massive Steigerung von Komplexität, eine Vervielfältigung der Player am Markt, auszeichnet, dann sollte dies ja vermutlich auch für die kulturellen Anteile des Ganzen gelten. Die zurecht viel diskutierte Diversity steigt, und damit auch die Komplexität in kultureller Hinsicht. Stimmt die Annahme, so tun wir vermutlich – wie in den Bereichen Strategie und Struktur auch – gut daran, die Dinge einerseits nicht unterkomplex zu behandeln, sie andererseits aber auch nicht komplizierter zu machen, als sie sind.

Werden Veränderungen durch die Steigerung kultureller Komplexität nun also noch schwieriger? Das hängt davon ab… Und zwar hängt es vor allem davon ab, wie wir kulturelle Herausforderungen im Kern begreifen und ihnen entsprechend konzeptuell sowie pragmatisch begegnen. Empirische Ergebnisse der Diversityforschung zeigen, dass – will man zum Beispiel Leistung vorhersagen – weniger die objektive Diversität einer Gruppe zählt (z.B. hinsichtlich des Alters der Gruppenmitglieder), als vielmehr die Einstellung der Gruppenmitglieder gegenüber dieser Diversität. Natürlich kann die Diversität einer Gruppe auch objektiv zu gross sein, um Leistung zu erzeugen; dies jedoch immer nur bezogen auf bestimmte Aufgaben, bei denen es klüger ist, in homogenen Gruppen zu arbeiten. Dann jedoch, wenn Diversität in Unternehmen integraler Teil des Games wird, wird die Einstellung gegenüber kultureller Diversität ein guter Prädiktor für Erfolg.

Das Jiu-Jitsu-Prinzip

Wenn wir das Ziel verfolgen, die kulturelle Komplexität unter das Dach einer homogenen Kultur zu bekommen, sind die Erfolgschancen vermutlich mehr als mässig. Wenn wir jedoch im Gegenteil die Steigerung von kultureller Komplexität als Chance begreifen, uns dieser aktiv zuzuwenden, dann wird ein Schuh daraus. Zum einen können wir nicht wirklich anders, als die Vervielfältigung kultureller Muster in unseren Unternehmen zu akzeptieren; zum anderen können wir dieser Vervielfältigung begegnen, indem wir sie mit systemtheoretischem Sachverstand (nicht mit Multi-Kulti-Gerede) aufnehmen. Frederic Vester sprach vom «Jiu-Jitsu-Prinzip», bei dem es darum geht, sich nicht gegen vorhandene Systemkräfte zu wenden und diese abzuwehren, sondern diese im Gegenteil smart zu nutzen.

Es ist nun einmal so, dass Unternehmen in kultureller Hinsicht viele Herzen in der Brust tragen. Diese sollten wir schlagen lassen und nicht monokulturell zum Verstummen bringen. Das bringt uns sicher hier und da mal aus dem Rhythmus, aber das geht eben auf die Kreditorenbuchhaltung der Agilität. Wir bewegen uns hier gedanklich auf einer Metaebene im Umgang mit der Kultur einer Organisation. Bei dieser Ebene geht es mir in systemtheoretischem Sinne um eine Kultur zweiter Ordnung (siehe Kasten). Kulturen erster Ordnung sind die vielfältigen disziplinären, kulturellen, fachlichen, abteilungsspezifischen etc. Kulturen, die unsere Unternehmen kennzeichnen. Es sind die vielfältigen Sub-Kulturen, die in unseren Organisationen alltäglich gelebt werden, die sich oftmals verfestigen, eher seltener verändern etc.

Kampf der Kulturen

Das Ziel einer Kultur zweiter Ordnung wäre – angesichts der Vielfalt der Kulturen erster Ordnung –, es in einem Unternehmen zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, dass mehrere Kulturen zugleich existieren und sich diese wechselseitig befruchten können. Eine auf die digitale Transformation vorbereitete Kultur zweiter Ordnung wäre in der Lage, die Heterogenität der Kulturen erster Ordnung aufzunehmen. Oder anders: Gesucht ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Sub-Kulturen eines Unternehmens, sondern deren grösstes gemeinsames Vielfache.

In so manchem Unternehmen tobt jedoch der Kampf zwischen seinen Kulturen erster Ordnung. Und diese zumeist höchst unproduktiven Auseinandersetzungen werden – das ist das Gefährliche – an vielen Orten durch die mit der Digitalisierung ausgelösten Unsicherheiten noch weiter verstärkt. Psychologisch ist das gut zu begreifen, denn das Gefühl möglichst eindeutiger kultureller Zugehörigkeit kann (wenn auch nur vermeintliche) Sicherheit und Orientierung schaffen. Aber die Reduktion von Vieldeutigkeit und die damit einhergehenden kulturellen Engführungen sind exakt das Gegenteil von dem, was es in der Digitalisierung braucht; es braucht eine Kultur, die sich durch eine Ambiguitätstoleranz gegenüber den durch die Sub-Kulturen erzeugten Mehrdeutigkeiten und Spannungsfelder auszeichnet: Eine Kultur zweiter Ordnung.

Woran erkennen wir das Fehlen einer solchen Kultur zweiter Ordnung? Vielleicht hilft am ehesten ein Beispiel; hier eines aus dem Kontext der IT-Dienstleistungen. Das Unternehmen realisiert Projekte vermehrt in Form von BizDev-Ops, einem funktionsübergreifenden Modell für agile Zusammenarbeit im IT-Kontext. Wir beobachteten im fraglichen Unternehmen starke kulturelle Zuschreibungen zwischen den historisch gewachsenen Unternehmensbereichen des Engineering und der Entwicklung einerseits sowie der betrieblichen Bereiche andererseits. Obwohl die von uns vorgenommene wissenschaftliche Untersuchung zeigt, dass sich die Bereiche hinsichtlich Agilität in ihren Entscheidungsprozessen nicht unterscheiden, wird dies kulturell ganz anders kommuniziert. Das Engineering spricht so unter anderem gegenüber dem Betrieb von «Leuten, die sich am liebsten in ihre Keller zurückziehen und auf Blech starren» (gemeint ist der Computer), statt sich agil zu engagieren. Im Gegenzug werden die Software-Ingenieure aus Sicht Betrieb als «selbsternannte Heroen der Digitalisierung» bezeichnet, die keine Ahnung davon haben, wie ihre agilen Prototypen je in einen zuverlässigen Betrieb überführt werden können. Diese Zuschreibungen erzeugen kulturelle Friktionen, die wiederum Widerstände in der Zusammenarbeit hervorbringen.

Eine Kultur zweiter Ordnung zu etablieren würde bedeuten, die konfrontativen Elemente dieser subkulturellen Wahrnehmungen aufzutauen. Es geht hier im Kern zunächst einmal um das Anerkennen unterschiedlicher Aufgabenfelder mit unterschiedlichen Präferenzen hinsichtlich der Balance von Agilität und Stabilität. Und damit hätten wir schliesslich auch noch ein letztes, vielfach formuliertes «Problem» mit der Kultur hinterfragt. Dieses bezieht sich auf die Annahme, dass – wenn man in einem Unternehmensbereich agile Prinzipien und Methoden einführt – fast zwangsläufig ein kultureller Clash erzeugt wird; und zwar zwischen Bereichen, die mit agilen Verfahren arbeiten und jenen, die das nicht tun. Was damit ganz sicher erzeugt werden kann, sind Synchronisierungsprobleme zwischen Prozessen in unterschiedlichen Bereichen; aber das sind strukturelle, nicht kulturelle Probleme.

Unclevere Ablenkungsmanöver

Eine der grössten Finten, mit der wir uns selbst gerne hinters Licht führen, besteht darin, strukturelle Defizite – also Dinge, die von der Prozessseite her nicht so recht zu Ende gedacht sind – zu kulturellen Problemen umzulabeln. Aber das ist ein Etikettenschwindel. Mit dem amerikanischen Organisationstheoretiker Chris Argyris sehen wir hier «defensive Routinen» am Werk. Das Lenken des Blicks auf vermeintlich kulturelle Barrieren ist oftmals nichts mehr als das Werfen einer Nebelkerze, um das Fehlen überzeugender Konzepte und Planungen auf struktureller Ebene zu rechtfertigen. Wir alle haben noch einen guten Weg vor uns, bequeme Stereotype abzulegen und nicht so zu tun, als gäbe es die Konservativ-Stabilitätsbewussten hier und die Dynamisch-Digitalen dort. Die Dinge sind erstens komplexer und zweitens als wir gelernt haben, darüber zu sprechen.

Die angeführten, ungünstigen Engführungen wären in einer Kultur zweiter Ordnung aktiv zu adressieren. Nicht die kulturellen Differenzen an sich, sondern der defizitäre Umgang mit diesen Differenzen ist das Problem des Problems. Die Arbeit daran, kulturelle Differenzen in kritischer und respektvoller Weise produktiv werden zu lassen – unter anderem am Beispiel der Balance zwischen Stabilitäts- und Agilitätserwartungen einer Organisation – wäre für die Entwicklung einer Kultur zweiter Ordnung sicher ein Wert sui generis.

PROF. DR. CHRISTOPH CLASES ist Dozent an der Hochschule für Angewandte Psychologie – FHNW. Zudem ist er seit 2009 Partner der AOC Unternehmensberatung in Zürich.