Markus Scheller ist nicht jemand, der es sich erlauben kann, seine Kollegen anderthalb Tage für Pferderomantik und unternehmerische Binsenweisheiten einzuspannen. Immerhin leitet er das BASF-Werk in Monthey, und die Kollegen, um die es hier geht, sind der komplette Leitungsstab des 500-Mitarbeiter-Werkes. Aber Markus Scheller reitet auch seit 40 Jahren. Vielleicht ist er deswegen neugierig geworden, als er bei der Suche nach einem Führungskräfte-Coaching auf Urs Thiersteins Pferdeseminar stiess. Scheller ist ein Freund des klaren Wortes. Er hat Urs Thierstein, den Pferdecoach, vorher zur Seite genommen und gesagt: «Hör mal Urs, wir wollen etwas davon haben. Ich will, dass wir nach Hause gehen und sagen: ‹Das war das Geld und die Zeit wert.›» Thiersteins Seminare in Vallon kosten 800 bis 1000 Franken pro Teilnehmer und Tag.

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Ein paar Wochen später stehen Scheller, seine Abteilungsleiter und Urs Thierstein um ein Pferd herum auf einem Paddock. Statt des BASF-Werks sollen sie heute einen Wallach namens Gladstone führen. Nichts Kompliziertes, jeder soll nur einmal mit dem Wallach über die staubige Koppel laufen. Wenn man seine Kindheit nicht auf einem Hof verbracht hat, ist das gar nicht so einfach. Die Ersten stellen sich vor das Pferd und ziehen an dem Strick, der an dem Halfter befestigt ist. 80 Kilo Mensch gegen 700 Kilo Pferd. Nichts passiert. Einer versucht es mit einem Apfel. Jetzt ist Gladstone zumindest interessiert.

Eigenwillige Tierphilosophie

Für die BASF-Abteilungsleiter ist Gladstone so etwas wie eine Maschine ohne Bedienungsanleitung, bei der sie die Regeln erst erraten müssen, nach denen sie funktioniert. Es dauert immerhin eine halbe Stunde, bis sich Gladstones Grundsätze herauskristallisieren: Gladstone geht nur, wenn man leicht und motivierend am Halfter zupft. Gladstone geht nur, wenn man neben ihm steht, nicht wenn man vor ihm steht. Gladstone geht nicht alleine, er läuft nur mit.

Die Idee ist, an dem Führen von Pferden die eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen. Gladstone leistet aber mehr, als sich nur führen zu lassen. «Ein Pferd ist die optimale Ablenkung, damit Menschen sich nicht auf das eigene Verhalten konzentrieren, sondern so sind, wie sie sonst auch sind», erklärt Thierstein. Der Coach beobachtet seine Kunden. Das Pferd kann dabei auf Dinge hinweisen, die in der Gruppe sonst keinem mehr auffallen: «Um Mobbing-Opfer zu finden, brauchen Pferde rund vier Minuten. Sie achten auf Gruppendynamiken – wenn ihnen jemand angreifbar vorkommt, nehmen sie ihm die Mütze weg. Wenn sie dafür auch noch getätschelt werden, machen sie erst recht weiter», erzählt er.

Thierstein sagt, dass Pferde unbestechlich zwischen «Sein und Schein» unterscheiden könnten. Gewagte Thesen sind im Coaching-Bereich nicht selten. Tatsächlich haben viele, die sich für Coaching mit Pferden interessieren, erst einmal Hemmungen, sich auf die Philosophie der Tierführung einzulassen.

Urs Thierstein hat seine ganz eigene Pferdephilosophie begründet: Er sagt zum Beispiel, dass seine Pferde auch mit internationalen Gästen kein Problem haben. Pferde kommunizierten zwar auf «horsish», verstünden aber «die vier Grundgefühle des Menschen, Angst, Trauer, Wut und Glück», so Thierstein. Er spricht dann auch von der «inneren Schönheit», die man braucht, um zu führen, und von der «Klarheit im Sein». Urs Thierstein klingt wie jemand, der viel Zeit in diversen Coachings und Trainings verbracht hat und eher weniger Zeit mit klassischem Personalmanagement.

Das ist ein Punkt, über den Thierstein nicht so gerne spricht: Obwohl er nach eigenen Angaben auch Doktoren und Vorstände coacht, hat er selbst keinen universitären Abschluss. In seinem «Referentenspiegel» findet man alle möglichen Tätigkeiten, Ausbildungen und Jobs, gut durchgemischt: «Berater», «Co-Autor» und «Visionsentwicklung» stehen da neben «Harvard-Modell», «Präsident Reitverein Bern» und «Gewaltfreie Kommunikation». In traditionellen Bewerbungsverfahren würde er mit diesem Lebenslauf wohl nicht weit kommen. Was nicht heissen muss, dass seine Coachings nicht funktionieren. Statt einer klassischen universitären Ausbildung hat er in der Zeit eben selbst eine Beratungsfirma gegründet und an etlichen Coachings, Weiterbildungen und Trainings teilgenommen.

Immer mehr Besucher

«Thierstein taucht nicht allzu tief in die Psychologie des Teams ein. Er sorgt eher für ein ‹Reset›. Die, die sonst immer den Ton angeben, haben vielleicht Angst, auf das Pferd zuzugehen. Die, die sonst etwas ruhiger sind, machen den ersten Schritt», erklärt Gerhard Lohmann, CFO der Reinsurance von Swiss Re, der vor einigen Jahren am Pferde-Coaching teilgenommen hat. Wo auch immer Urs Thierstein Personalführung gelernt hat, seine Kunden scheinen damit zufrieden zu sein.

Die Pferde-führen-ist-gleich-Personal-führen-Metapher funktioniert, weil man ein Pferd, genau wie eine Abteilung, nicht zwingen kann, nur motivieren. Letztendlich geht es darum, etwas zu leiten, das grösser ist als man selbst und auf die eigenen Schwächen und Stärken reagiert. Markus Schellers Kollegen haben ihm nach dem Coaching gesagt, was er an seinem Führungsstil ändern muss. Bis Donnerstagabend, 23.59 Uhr muss Scheller seinen Kollegen jetzt jede Woche die Tagesordnung für das Meeting am Montag vorlegen, damit sie sich auf die Punkte vorbereiten können.

«Klarheit im Sein» würde Urs Thierstein das vielleicht nennen. Statt dass jeder für sich arbeite, sagt Scheller, würden jetzt alle an einem Strang ziehen. «Braucht man dafür Pferde?», fragt der Direktor des BASF-Werks. «Nein. Ich hätte meinen Kollegen auch die entsprechende Literatur auf den Tisch knallen können. Aber es geht immer um die Visualisierung einer Aussage. Die Frage ist ja nicht mehr ‹Wie geht das?›, sondern ‹Wie geht das in die Köpfe rein?›»

Vielleicht funktionieren Urs Thiersteins Pferdeseminare wie Experimente im Chemieunterricht: Man kann auch die Verbrennung von Magnesiumpulver theoretisch erklären, aber ein bisschen Rauch und Funken sind eindrucksvoller und machen mehr Spass.