Der Winter 2012 ist hart, eine Kältewelle rollt über Europa. Auch im Thurgauer Hinterland ist es eisig, als Beat Guhl in seinem Büro am Firmensitz in Ellikon erstaunt die neuesten Geschäfts- zahlen seiner Fensterfirma Sky-Frame durchgeht. Gerade noch hat der Unternehmer den nächsten Wachstumsschritt geplant. Guhls Firma arbeitet an der Kapazitätsgrenze, er plant die grösste Investition der Unternehmensgeschichte: Den Bau einer neue Firmenzentrale.

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Da brechen plötzlich die Auftragseingänge ein. Haben sich die Kunden schon satt gesehen an den rahmenlosen Schiebefenstern, die Tüftler Guhl entwickelt und patentiert hat? «In dieser Situation mussten wir schnell einen Entscheid treffen», sagt er. «Es gab nur noch ein kurzes Zeitfenster, in dem wir die Pläne für den Neubau hätten stoppen können, ohne sehr viel Geld zu verlieren. Ich habe mich auf mein Bauchgefühl verlassen. Auch wenn die Zahlen rückläufig waren, war ich mir sicher, dass wir un- seren Weg weitergehen und auf Wachstum setzen müssen.» Die Entscheidung für die 35-Millionen-Franken-Investition war gefallen – Guhl sollte sie nicht bereuen, sein Unternehmen war den Kennzahlen zum Trotz schon bald wieder auf Wachstumskurs.

Unzählige Werkzeuge zur Datenanalyse

Wer sich wie Unternehmer Guhl bei Entscheidungen auf seinen Bauch statt auf ausgeklügelte Kennzahlen verlässt, steht allerdings unter Rechtfertigungsdruck. Unternehmer und Manager verfügen über unzählige Werkzeuge zur Datenanalyse, ihnen stehen mehr Informationen über ihr Geschäftsumfeld zur Verfügung als je zuvor. Moderne Marktbeobachtungs-, Risikomanagement- und Controlling- Systeme versprechen nicht nur, Chancen und Risiken an den Märkten in Echtzeit zu analysieren.

Sie sollen auch Schwachstellen in Betriebsabläufen, dem Geschäftsmodell und der Finanzierung aufdecken. Mit sogenannten Big-Data-Analysen sollen intelligente Algorithmen gar zukünftige Entwicklungen vorhersagen und Unternehmern strategische Entscheidungen abnehmen können.

«Von so vielen externen Faktoren abhängig»

Die Wirtschaftswelt ist zunehmend datengetrieben. Und das aus gutem Grund, findet Anuschka Küng, Geschäftsführerin der Risikomanagement-Beratung Acons Governance & Audit: «Unternehmen sind heute in einem komplexen globalen Umfeld tätig und dabei von so vielen externen Einflussfaktoren abhängig, dass sie ihre strategischen Entscheidungen zwingend auf umfassende Daten unterschiedlicher Quellen stützen müssen» , sagt die in vielen Branchen tätige Expertin für Finanz- und Risikocontrolling.

So müsse ein Unternehmen etwa in der Lage sein, auf eine unerwartete Situation wie die Freigabe des Frankens sofort zu reagieren. «Wer dann nicht auf Knopfdruck durchrechnen kann, welche Auswirkungen für das eigene Geschäft und die entscheidenden Märkte zu erwarten sind, hat ein Problem.» Je grösser und komplexer ein Unternehmen sei, desto wichtiger seien datengestützte Kontrollsysteme, sagt Küng.

Bauchgefühl entscheidet, wenn es wichtig wird

Dennoch: Unternehmer wie Beat Guhl verlassen sich in entscheidenden Momenten oftmals eben nicht auf die Kennzahlen, die ihre Business-Software ausspuckt. Sondern auf ihre Intuition, ihr Bauchgefühl. Diese Beobachtung machte auch die indische Unter- nehmerin Saras Sarasvathy, seit sie ihr erstes Unternehmen gegründet hatte. Statt Risiken und Chancen systematisch anhand von Daten aus Marktfor- schung und Absatzprognosen zu kal- kulieren, verliessen sich Unternehmer nach Sarasvathys Erfahrung, die inzwischen Professorin an der Business School der University of Virginia ist, meist auf ihre Intuition.

Sie fragte sich: Warum hatte die Art und Weise, wie sie und andere erfolgreiche Unternehmer in ihrem Umfeld Entscheidungen tra- fen, so wenig mit dem Lehrbuchwissen aus ihrem BWL-Studium zu tun? Um diese Frage zu beantworten, stellte Sarasvathy erfolgreiche Unternehmer vor eine strategische Aufgabe und liess sie ihre Überlegungen laut ausspre- chen. Sarasvathy hörte den Unterneh- merinnen und Unternehmern viele Stunden lang beim Denken zu – und begründete damit gleich eine ganze Forschungsdisziplin der Betriebswirt- schaftslehre, die heute als «Effectuati- on» bekannt ist.

Schauen, was machbar ist

Ihre Forschungsprojekte erklären, woher die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis kommen könnte: Er- folgreiche Unternehmer versuchen nicht, die Zukunft vorherzusagen. Sie versuchen, die Zukunft zu gestalten. Deshalb seien Marktanalysen und Kennzahlen für sie weniger wichtig als die eigene unternehmerische Erfahrung – denn die gibt ihnen ein Gefühl dafür, was ganz pragmatisch machbar und welches Risiko tragbar ist.

«Oft liegen zu einem Entscheid so viele Daten und Informationen vor, dass sich kein klares Bild mehr ergibt. Dann muss man sich ohnehin auf die eigene Erfahrung und Intuition verlassen, sich auch mal gegen die nach Lehrbuchwissen richtige Lösung entscheiden», sagt der Thurgauer Unternehmer Guhl. Für einen solchen Entscheid brauche es allerdings eine gute Portion Selbstbewusstsein und Durchsetzungskraft.

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