Dass in der Schweiz – oder sagen wir besser: in Zürich – das Thema «Imagebildung» eine zentrale Rolle spielt, kann man jeden Werktagabend zwischen Bürkliplatz und Bellevue besichtigen. Obwohl hier meist Stau herrscht und deshalb oft Schrittgeschwindigkeit anliegt, bewegen sich Trillionen von Sechs- bis Zwölfzylindern mit Trommelfell-durchlöcherndem Krach in Richtung Goldküste. Sie könnten bereits im zweiten Gang schneller fahren, als die Autobahnpolizei erlaubt – aber trotzdem muss es meist die kampfstärkste Motorisierung sein.
Ich hatte vor Jahren eine Freundin, die mit dem Kauf eines Sportwagens flirtete. Ich empfahl eine Corvette – viele Pferde für nicht so viele Franken. Entrüstete Antwort: Das gehe auf keinen Fall, «damit wirke ich ja wie eine Professionelle». Mein Einwand, das hänge ja wohl von der Frau ab und nicht vom Auto und Professionalität sei doch nichts Schlechtes, verbesserte die Stimmung nicht (und wurde zudem inhaltlich ignoriert).
Fährt genauso, wie er aussieht
Vorurteile oder Stereotypen sind vermutlich erfunden worden, um das Leben dank Schubladisierungen einfacher zu machen – leider habe ich gerade keinen Psychologieprofessor zur Hand, der die Theorie bestätigen könnte. Egal: Wer Sportwagen liebt, sollte sich die Corvette zumindest anschauen. Nicht umsonst trägt sie wieder die traditionsreiche Bezeichnung «Stingray». Der «Stechrochen» ist messerscharf und angriffslustig gezeichnet – nie wurde ich bei einer Testfahrt, ausser im Bugatti, öfter fotografiert.
Und er fährt genauso, wie er aussieht: schnell, scharf, liegt sehr sauber mit seiner idealen Gewichtsverteilung zwischen Front und Heck von 50:50, bremst vertrauenserweckend, dazu röhrt und schaltet er gewollt ziemlich rotzig. Das Dach lässt sich noch bei über 40 km/h öffnen, und natürlich verkleinert es den Taschenraum (Kofferraum wäre das falsche Wort), und natürlich sind die Kunststoffe im Innenraum nicht auf deutschstämmigem Premium-Niveau – aber was solls?
Gehöriger Preisabstand zur Konkurrenz
Erstens hat Chevrolet hier den Rückstand stark verringert und zweitens immer noch einen gehörigen Preisabstand zur Konkurrenz. Der sich, drittens, noch vergrössern lässt: Statt zum «Basismodell» mit 466 PS zu greifen, das wir gefahren sind, wäre unser Tipp der grössere Z06. Hier beginnt das Preisgefüge bei 130'000 Franken (beim Stingray ab 95'000), dafür winken furchteinflössende 659 Pferdestärken und ein Drehmoment von 881 Newtonmetern. Da geht also punkto Vortrieb ähnlich viel wie bei einem Ferrari 488 oder auch einem Porsche 911 Turbo S (der allerdings ein ausgeklügeltes Allradsystem hat), aber für die Hälfte des Preises. Diese Entscheidung zu treffen, ist was für Professionelle ... Verzeihung: für Profis.
Chevrolet Corvette Stingray
Antrieb: 6,2-Liter-V8-Benzinmotor
Verbrauch: 12,2 Liter Super
Leistung: 466 PS (343 kW), 0–100 km/h in 4,2 s, Vmax 282 km/h (Cabrio)
Preis: 112'115 Franken (Testwagen Convertible Z51 Special Edition)
Dirk Ruschmann fährt seit 25 Jahren Auto und arbeitet seit zehn Jahren für die «Bilanz». Er schreibt über Unternehmen, Manager, Autos und andere bewegliche Teile.