Von Prof. Dr. med. Oswald Oelz Chefarzt für Innere Medizin am Triemli- Spital in Zürich und leidenschaftlicher Extrembergsteiger

Herr N.N. ist ein charmanter älterer Herr aus dem Marlboro-Country. Wie in Solschenizyns «Krebsstation» wuchert auf seiner linken Halsseite eine Krebsgeschwulst, eine Metastase seines Lungenkarzinoms. Er braucht Sauerstoff zur Linderung seiner Atemnot, Strahlentherapie und Morphium für die vom Krebs zerfressene Wirbelsäule und liebevolle Pflege. Ein Plastikstent stützt seine Luftröhre, damit er nicht erstickt. Vor 14 Tagen habe ich ihm – auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin – versprochen, dass er bis zu seinem nahen Tod im Spital bleiben kann. Wir sprechen mit ihm über seine Angst, versichern ihm, dass er nicht leiden wird, und so geht es ihm so gut, wie das unter solchen Umständen überhaupt möglich ist.

Bei der letzten Visite aber war er aufgebracht, auf seinem Bett lag die Zeitung mit der Schlagzeile vom «Krankenkassenschock: plus 12 Prozent». Herr N.N. schimpfte, fand das unerhört und, wie es die Zeitung formulierte, «unerträglich». Für einmal machte ich aus meinem Herzen eine Mördergrube und schluckte meine Frage hinunter, ob er auf Linderung, Medikamente, Pflege oder Sauerstoff verzichten wolle, um nach Hause zu gehen und Gesundheitskosten zu sparen. Ich fragte ihn nicht, ob er sich Gedanken darüber gemacht habe, dass seine Behandlung im Spital pro Tag mindestens 900 Franken kostet, von denen die Krankenkasse lediglich etwa 300 Franken vergütet. Das resultierende Defizit zahlen andere und hauptsächlich die Steuerzahler.

Weil Konsum von Gesundheitsleistungen das eigene Portemonnaie nicht belastet, gibt es das Gesundheitsschlaraffenland. Die Patienten möchten möglichst lange und möglichst gut leben. Die Gesunden wollen das einschränken: «Stopp dem Leistungsausbau im Gesundheitswesen» ist eine weitere unglückliche Forderung des offensichtlich gesunden CVP-Ständerates Philipp Stähelin. Kaum ein Patient verlangt solches. Wenn vorgeschlagen, will der Herzkranke einen 50 000-Franken-Defibrillator zur Verhinderung des Herztodes, einen oder mehrere Rapamycin-beschichtete, 4000 Franken teure Stents, welche die Herzkranzgefässe offen halten, das neueste und teuerste Krebsmedikament, den besten Operateur, ausgeruhte Ärzte, die einfühlsamste Schwester und die freundlichste Physiotherapeutin. Und neben dem Gift der Schulmedizin gegen den Krebs will er noch Edelsteintherapie, Einläufe und Einreibungen.

Man stelle sich vor, auch die Gerechtigkeit wäre ein staatlich garantiertes, kostenloses Grundrecht – neben der Ärzteschwemme gäbe es dann die Anwälteschwemme, und geringer wäre die Kostenexplosion wohl auch nicht, auch Anwälte sind nur Menschen. Zum Glück aber für den Staatshaushalt ist das Recht auf Recht Privatsache wie Kaviar, Masshemden, Château Mouton oder die Besteigung des Matterhorns. Wenn aber etwas entprivatisiert, von Staates Güte gegeben, Gewohnheitsrecht oder ererbt ist, wandelt sich Wunschdenken zum berechtigten Anspruch. Für die mangelnde Erfüllung dieser Ansprüche, für zweite Plätze wird der Staat verantwortlich gemacht. Dabei soll die Erfüllung dieser Verantwortung den Einzelnen möglichst nichts oder zumindest nicht mehr kosten.

Die «Weltwoche» beklagt, dass unser Land nur noch mittelmässig und die Prophezeiung, vom Sonder- zum Sanierungsfall zu werden, wahr geworden sei. Nur noch bei den Löhnen sind wir auf dem ersten Platz, bei der Arbeitsproduktivität rangieren wir im Mittelfeld. Novartis lagert die Forschung nach Massachusetts aus, die Universitäten berichten über katastrophale Betreuungsverhältnisse, und die Schweizer Schüler sind so zweitklassig wie unsere Skinationalmannschaft. Daran sind natürlich der Staat und die Bildungsdirektoren schuld. Unschuldig sind der Einzelne, der vollen Lohn bei reduzierter Leistung will, und die Eltern, deren intellektuelles Anregungspotenzial für ihre Kinder übers gemeinsame Fernsehabenteuer nicht hinausgeht. Im schwächelnden Tourismusgeschäft vermissen die Gäste die freundlich-anbiedernde Gemütlichkeit unserer östlichen Nachbarn. Daran sind die radebrechenden ausländischen Serviceangestellten schuld und nicht wir Schweizer, die wir uns für solche Tätigkeiten zu gut sind. Vieles ist in die Verantwortlichkeit des Staates abdelegiert, und der soll es richten, aber selbstverständlich ohne höhere Steuern. Weil das nicht geht, will Bundesrat Kaspar Villiger bei der Entwicklung der kreativen Intelligenz, unserem einzigen erneuerbaren Kapital, sparen.

So müssten wir wohl oder übel für die Erfüllung unserer Ansprüche zur individuellen Verantwortung für Gesundheit, Prosperität und Bildung zurückkehren, die eigentlich viel privater sind als das Recht auf Recht. Auch heute stehen mit entsprechendem Einsatz und etwas Glück die Schweiz und die Welt nach wie vor offen. Und manchmal kommt dann sogar noch Hilfe vom Souverän: Das Schauspielhaus Zürich ist fürs Erste gerettet.
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