Instagram ist die Fotoplattform einer ganzen Generation – und das Selbstportrait, das Selfie, ihr wichtigster Ausdruck: Schaut her, was ich mache, wo ich bin, wie gut es mir geht. Zehn Jahre lang lebte die Instagram-Generation das «Ich» auf der Plattform, wurde für Facebook zum Türöffner zur lukrativen Zielgruppe jüngerer Nutzer.

Doch die Pandemie setzte der Selfie-Dekade ein jähes Ende. Selbstportraits aus dem Wohnzimmer sind langweilig. Seit dem Wochenende zeigt eine neue App, was 2021, was nach der Pandemie wichtig ist: Zeit mit Freunden, mit den Menschen, die man ein Jahr lang nicht sehen durfte.

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Innerhalb weniger Tage schoss die App «Poparazzi» auf den ersten Platz der Kategorie «Foto und Video» in Apples App-Store. Die Idee der Macher ist simpel: Selfies sind tabu. Die App kann nicht einmal die Frontkamera des Smartphones ansprechen, so sehr hassen ihre Macher das Selfie.

Freunde knipsen die Fotos, Freunde laden die Bilder hoch

Stattdessen sollen Freunde jene Fotos schiessen, die anschliessend das eigene Profil schmücken. «Schaut was ich Tolles mache», der Fokus auf den Konsum der anderen, ist 2021 nicht mehr angesagt. Bereits die Erstellung der Profile ist sozial – und Freunde können definieren, wie sie sich gegenseitig online sehen.

Sie laden Fotos hoch und kennzeichnen, wer darauf zu sehen ist. Die Fotos sind anschliessend auf der Seite der Abgebildeten zu sehen. Selbst kann man nichts hochladen, und auch nicht verhindern, dass Bilder der anderen auf dem eigenen Profil online gehen.

Das könnte in Deutschland, dem Land des Datenschutzes, problematisch sein. Doch der Gedanke ist erfrischend. Die Bilder auf der Plattform sind nicht von Eitelkeit geprägt, sondern von gemeinsam Erlebtem, von Unternehmungen, Restaurantbesuchen, Partys. Kurz gesagt, von all dem, auf das alle so lange verzichten mussten.

Damit könnte den App-Bauern von «Poparazzi», dem Startup TTYL aus Los Angeles, die genau richtige App für den Ausklang der Pandemie gelungen sein.

Likes, Follower und Kommentarzahlen sind unwichtig

Insbesondere in den USA, wo die Impfquoten unter jungen Menschen bereits höher sind als hierzulande, ist jedes Treffen mit Freunden auch Ausdruck dafür, dass Corona bald hinter uns liegt. Poparazzi vermag es, dieses Gefühl online zu transportieren.

Clubhouse, die Audioapp für Gespräche trotz Social Distancing, war zum Höhepunkt der zweiten Pandemiewelle ein Hit und verliert jetzt, wo sich Menschen wieder real treffen dürfen, an Bedeutung. Poparazzi könnte jetzt genau richtig liegen.

Ob die App es aber über die kommenden Monate hinaus schafft, Instagram vom Top-Platz zu verdrängen, hängt davon ab, ob sie es schafft, sich erfolgreich von der Aufmerksamkeitsökonomie auf Instagram abzusetzen. Denn Likes, Follower und Kommentarzahlen, die Währung des Erfolges der Influencer auf Instagram, gibt es bei Poparazzi nicht.

Wie viele Follower jemand hat, ist nicht sichtbar. Wie oft ein Foto angesehen wird, wie viele Herzchen es bekommt – all das spielt in der App keine Rolle. Fotos sollen nicht auf möglichst viele Likes optimiert werden, sondern darauf, dass sie Freunden eine Freude machen.

Realität statt Foto-Filter

Auch Foto-Filter, auf Instagram unverzichtbar für den perfekten Look, gibt es auf Poparazzi nicht. Damit will die App dazu zwingen, dass das gemeinsame Erleben der Realität im Fokus bleibt – und nicht der Smartphone-Bildschirm die Aufmerksamkeit beansprucht.

Reagieren kann man auf Bilder dennoch, aber eben erst irgendwann später. Die App drängt sich nicht zwischen den Nutzer und seine Freunde. Ob sich die App hierzulande durchsetzen kann, bleibt abzuwarten. Denn für die Stars, die Influencer, ist Poparazzi unattraktiv.

Und hierzulande ist man unter Freunden zurückhaltend mit dem Veröffentlichen von Fotos des anderen – wer weiss, ob es gefällt? An falschen Online-Fotos sind schon ganze Mädchenfreundschaften zerbrochen.

Sollte Poparazzi weltweit reüssieren, dann wäre das eine Ansage an Facebook: Seht her, soziales Netzwerken braucht keine Followerzahlen, keine Likes, nur ein paar Freunde.

Dieser Artikel erschien zuerst in der «Welt» unter dem Titel: Selfies sind tabu – alle wollen die Anti-Instagram-App.