Die Idee entstand auf dem Roten Platz. Michael Haefliger, erfolgreicher Langzeit-Lenker des Lucerne Festivals, war 2015 als Jury-Mitglied des «Tschaikowsky-Wettbewerbs» nach Moskau gereist. Dort traf er auf einen interessanten Vertreter aus China: Jiatong Wu, bekanntester Konzertveranstalter des Landes, der schon die Wiener Philharmoniker zu einer Grosstournee mit zehn Konzerten in seine Heimat gebracht und auch die Dresdner Staatskapelle dem chinesischen Publikum präsentiert hatte. Bei einem Spaziergang über den Roten Platz bot er die entscheidende Zutat für Erfolg im Riesenreich: Beziehungen.

«Ohne ihn ging gar nichts», erinnert sich Haefliger an die ersten Gespräche. Schon einmal war er mit seinem Orchester in Shanghai gewesen, 2009 war das, damals noch mit dem Dirigentenstar Claudio Abbado. Und letztes Jahr gastierte sein Orchester, eine Art Nationalmannschaft der weltbesten Orchester-Musiker, im Rahmen seiner Asien-Tournee unter Abbado-Nachfolger Riccardo Chailly für einen Abend in Peking. Doch jetzt ging es um den ganz grossen Auftritt: Fünf Konzerte in einer Stadt – eine Residenz, wie die Musiker mehrere Gastkonzerte am gleichen Standort nennen.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Statussymbol Klassik

Der Hype um den weltgrössten Massenmarkt hat längst auch die Kulturszene erreicht. Die Schweiz ist ganz vorn dabei: Auch das Tonhalle Orchester spielte im Herbst zwei Mal in Shanghai, das Zürcher Kammerorchester gastierte im September ebenfalls. «China ist das neue Eldorado der klassischen Musik», betont Mischa Damev, Intendant beim Migros-Kulturprozent und intimer Kenner der chinesischen Klassikszene – er hat in den letzten zehn Jahren als Gastdirigent die meisten der grossen chinesischen Orchester gelenkt.

War der Zuspruch bei seinen ersten Auftritten noch spärlich und die Akustik eher trist, so ist in den letzten Jahren das Interesse massiv gestiegen: mehr als 200 hochklassige Konzertsäle sind in kürzester Zeit entstanden, und mittlerweile füllen sich die Säle auch gut. Für das Gros der Chinesen sind die Tickets zwar noch immer zu teuer, aber die aufstrebende junge Oberschicht, orientiert an westlichen Statussymbolen, findet zunehmend Gefallen an den Klassikkonzerten. «Sie wollen Schweizer Luxusuhren, sie wollen europäische Modelabel, und sie wollen europäische Kultur», betont Damev.

Mischa Damev, Leiter Musik der Direktion Kultur und Soziales des Migros-Genossenschafts-Bundes.

«Musik ist auch Leid und Tragik»: Mischa Damev, Intendant beim Migros-Kulturprozent.

Quelle: Paolo Dutto / 13 Photo

China war dann auch der einzige Markt für Haefliger, der fünf Konzerte trägt. Südamerika? Nicht wohlhabend genug. USA? Zu viele eigene Orchester. Dubai oder Katar? Zu geringes Interesse. Doch auch für die Shanghai-Reise musste Haefliger extrem spitz kalkulieren. Nur ein Zehntel der 120 Musiker durfte Business Class fliegen. Die Verhandlungen mit Agentur-Chef Wu waren anspruchsvoll. Sechs Mal reiste Haefliger an, meist begleitet von seiner Sponsoring-Chefin Martina Lötscher. Die Verträge wurden erst zwei Wochen vor Konzertbeginn unterschrieben. «Er ist der härteste Verhandler, mit dem ich je zu tun hatte», lacht Haefliger nicht ohne Anerkennung.

Drei Jahre plante Festival-Chef Haefliger die Shanghai-Konzertreise – es waren seine härtesten Verhandlungen.

Ein Problem etwa: Die Haftpflicht für die Instrumente – besonders anspruchsvoll, weil eines der fünf Konzerte ein Freiluftkonzert war. Normalerweise liegt sie beim Veranstalter, doch Wu wollte eine Kostenbeteiligung des Lucerne Festivals. Der stämmige Agentur-Chef, der in München und Wien Elektrotechnik studierte und heute den wichtigsten Brückenkopf der klassischen Musik zwischen Europa und China bildet, gibt sich jedoch zurückhaltend. «Wir verdienen hier nichts», betont er in fast fehlerfreiem Deutsch. Nicht nur besorgte er die wichtigste Bescheinigung, ohne die in China für ausländische Künstler nichts geht – die offizielle Auftrittsgenehmigung, deren Erhalt mindestens ein Jahr dauert. Vor allem übernahm er das finanzielle Risiko für die Besucherauslastung. «Wenn wir die Konzerte nicht füllen können, wäre das eine grosse Blamage.»

Zwischen 100 und 150 Franken kosten die Tickets, bei einem Durchschnittslohn von 1500 Franken eine stattliche Summe. Weitere Einnahmequellen brachte das Lucerne Festival selbst: Als Hauptsponsor den Personaldienstleistungskonzern Adecco, dazu als Unterstützer für die einzelnen Konzerte die Firmen Clariant, Franke und Schindler.
Der Einsatz zahlte sich aus. 4600 Billetts konnte Wu absetzen, auch dank aufwendiger Werbung, die Auslastung betrug damit 88 Prozent.

Hilfreich war sicher, dass das Lucerne Festival bereits einen guten Namen hatte in China – dank der Vorarbeit von Claudio Abbado, aber auch wegen des Auftritts des Shanghai Symphony Orchestras in Luzern im letzten Sommer. Die Kulturszene der 20-Milliarden-Metropole fühlte sich geehrt. Shanghai bietet zudem vier Konzertsäle mit der notwendigen Qualität, was die Verhandlungsmacht der Veranstalter im Vergleich zu Peking erhöhte – dort gibt es nur einen veritablen Konzertsaal. Wu buchte die Shanghai Symphony Hall – für Haefliger qualitativ gleichwertig mit dem KKL, aber «sogar etwas intimer».

Shanghai Symphony Hall

Die Shanghai Symphony Hall – laut Haefliger von der Klangqualität vergleichbar mit Luzern, «aber sogar etwas intimer».

Quelle: GEOFFROY-SCHIED-PHOTOGRAPHY

Klassik als Konsumartikel

Doch es bleibt Aufbauarbeit. Unter den Top-20-Orchestern der Welt befindet sich noch immer keines aus China, auch wenn die drei grossen Orchester – neben dem Shanghai Symphony Orchestra das China Philharmonic Orchestra und das Guangzhou Symphony Orchestra – aufgeholt haben. Das Migros-Kulturprozent hatte für Ende Januar das Guangzhou Symphony Orchestra für drei Konzerte nach Genf, Zürich und Luzern geladen. Das Interesse war gross, doch das liegt auch an einer gewissen Exotik: Intendant Damev will auch neue Perspektiven bieten.

Doch was den Fortschritt der letzten Jahre angeht, gibt er sich ernüchtert: «Ich hätte gedacht, dass die chinesischen Orchester schneller aufholen.» Es fehle an Tradition. «Wir kultivieren in Europa seit der Renaissance die Orchester-Musik. Diese Erfahrung fehlt in China und lässt sich dann doch nicht so schnell aufbauen.» Und er fügt hinzu: «Grosse Sinfonien sind Lebensschulen mit Leid, Tragik und Sinn für die Vergangenheit. Da fehlt den Chinesen oft das Sensorium – sie schauen nicht zurück. Aber vielleicht eröffnen sie uns deshalb neue Horizonte.»

Riccardo Chailly

Jazziger «Boléro»: Maestro Riccardo Chailly spielte Ravels Meisterwerk in Perfektion.

Quelle: GEOFFROY SCHIED PHOTOGRAPHY

Dass die europäische Musiktradition in China noch immer schwer vermittelbar ist, räumt dann auch Agentur-Chef Wu ein: «Die Chinesen kennen nur die Peking-Oper.» Doch dabei handelt es sich um leichte Singspiele, die von der Komplexität europäischer Komponisten-Kunst weit entfernt sind. Und zwischendurch gehen die Zuhörer auch mal raus – wie bei einem Baseball-Spiel in Amerika.

Und so ist dann auch der Eröffnungsabend ein ganz anderes Erlebnis als die Premiere in Luzern: Keine Krawatten, keine Abendkleider, viele Turnschuhe. Maestro Riccardo Chailly hat ein eher massengängiges Programm gewählt, und den «Boléro» von Ravel spielt er ungewohnt jazzig und zweifelsohne brillant.

Doch manche Zuhörer stehen schon vor der Pause auf, einige Plätze bleiben danach unbesetzt. Klassik als Konsumartikel – die Aufbauarbeit muss weitergehen. Haefliger: «Nächstes Jahr sind eine weitere Residenz in Shanghai sowie Konzerte in Peking geplant.»

Dieser Artikel erschien in der Januar-Ausgabe 01/2019 der BILANZ.

Dirk Schütz
Dirk SchützMehr erfahren