Wie eine Fata Morgana wuchs die Wand in zwanzig Kilometern Entfernung aus der hitzeflimmernden Einöde. Dort war unser Projekt, das mein Freund Robert Bösch und ich zwei Tage lang in der Wüste Omans gesucht hatten, das höchste Kalkriff der arabischen Halbinsel, tausend bis zwölfhundert Meter steiler bis senkrechter Kalk. Ich war wieder einmal auf Wellnesstour und absolvierte meine Kur gegen gelegentliche Frustration über den Übermut der Ämter und Direktionen. Zwar wäre es in meinem Alter gescheiter, Ajurweda-Verjüngung mittels Schlammpackungen in Abano, Thai-Mädchen-Fussmassagen oder Schrotkuren zu versuchen, aber ich will gegen den Strom schwimmen, nur so komme ich zur Quelle.

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Zwei Tage später bezogen wir am Fuss der Wand ein Biwak, schwere Lasten hatten wir hinaufgetragen, genügend Wasser, wie wir meinten, einige Energieriegel, Früchte und die ganze Kletterausrüstung. Einmal schon waren zwei Briten durch diesen Wandteil geklettert und hatten ihre Route «Eastern Promise», östliche Verheissung, getauft und als Weltklassekletterei angepriesen. Dies war unser Projekt.

Als wir am nächsten Tag um vier Uhr morgens losklettern wollten, fanden wir unser Projekt nicht; nirgendwo waren Spuren unserer Vorgänger. Also starteten wir unser eigenes Projekt, eine unbekannte Wand auf neuem Weg zu durchklettern. Wir waren ganz allein auf der Welt. Wenn uns etwas passierte, konnten nur wir selbst uns helfen. Es war eine Expedition in ein wildes, unbekanntes Land, Ausgang ungewiss. «Abenteuer ist, wenn man wünscht, dass es vorbei ist», hat das mein Freund Hanspeter Eisendle umschrieben. Nachdem Röbi die ersten 60 Meter geklettert war, folgte ich mit dem Rucksack nach, der Fels war solide, aber schwer zu klettern, und Sicherungen anzubringen, war problematisch.

Der Führende durfte nicht stürzen, er würde auf einem Fakirbett aus spitzen, harten Kalknadeln landen. Wir hatten all unsere Brennelemente gezündet und wollten mit freudigem Enthusiasmus in einem Tag bis zum Gipfel klettern. Natürlich war da auch die Frage, ob wir eine gangbare Route durch die kompakten Wandzonen und Überhänge finden würden und ob unsere Klemmgeräte im Falle eines Sturzes halten würden. Aber wir hatten ja schon oft kritische Situationen überstanden, also würde es auch heute gut gehen.

Am Nachmittag wurde der Emotionsmix sauer: Die Hitze hatte uns ausgetrocknet, die Wasservorräte gingen zur Neige, und die überhängende Gipfelwand zeigte keine schwache Stelle. Röbis Gesicht nahm jenen Ausdruck an, der mich an Situationen in der Eigernordwand erinnerte, als wir in Steinschlag gerieten, oder an schwere Stellen im Wadi Rum, wo man nicht stürzen durfte. So kam die Krise. Wir dachten an Rückzug, aber auch daran, dass es ein schauderhafter Rückzug wäre, mit blockierten Seilen und dem Eingeständnis der Niederlage. Die Resignation ist kein leichter Ausweg, sagten wir uns, und niemand hätte jemals als Erster den Ozean überquert, wenn er bei Sturm die Möglichkeit gehabt hätte, das Schiff zu verlassen. So kletterten wir weiter, fanden nach Einbruch der Dunkelheit ein Band, auf dem wir schlafen konnten, verbrauchten die vorletzten Wasserreserven, die letzte Orange, froren uns durch die Nacht und kletterten am nächsten Tag weiter. Bis zur letzten Seillänge wussten wir nicht, ob wir durchkommen würden – dann der erlösende Ruf von oben: «Ich bin am Gipfel, ich sehe unsere Zelte!» Wir hatten unser Projekt zu Ende geführt. Manche würden sagen, es sei eine Spitzenleistung gewesen.

Diese Geschichte soll eine Metapher für das Jahr 2004 sein. Wir alle können fantastische Projekte erfolgreich durchführen und Spitzenleistungen erbringen, wenn wir alles Mittelmässige bleiben lassen – es lohnt den Einsatz nicht. Wir können das Beste im Mittelpunkt unserer Zentren und auch in den Nischen bewirken. Dafür müssen wir die selbstquälerischen Zweifel ablegen und, statt schweizerisch zu klönen, «don’t be happy, just worry», überzeugt glauben: Es wird schon gut gehen. Stärke und Expertise haben wir, zusätzlich aber braucht es Enthusiasmus und Freude am Tun; sie sind der Wind des Erfolges. Mit Depressionen bleibt man am Einstieg sitzen, und zaghaftes Krisenmanagement verlängert lediglich die Agonie. «Put everything into your first try and to hell with the rest of it», ist der Rat eines Weltstars der Country-Music. Also: Zur Hölle mit allem Halbbatzigen, «Gring abe u seckle», und Sie werden ein wunderbar erfolgreiches, beglückendes Jahr haben!