Entschlossen blitzte mich die vitale Frau Lüthi an, natürlich wolle sie operiert und wieder gesund werden. Schliesslich hatte sie vor zwei Monaten im Altersheim, anlässlich ihres 100. Geburtstages, eine wunderbare Feier genossen, und solche Geburtstage wolle sie noch einige erleben. Bald nach dem Fest hatte der Durchfall begonnen, und dann folgten Bauchschmerzen, sodass sie schliesslich in unser Spital kam. Wir fanden eine lokalisierte Darmerkrankung, ein Darmverschluss drohte. Wir erklärten ihr die Befunde, sagten, dass eine Operation möglich wäre, dass aber das Risiko, dabei zu sterben, erheblich sei. Wir betonten, dass sie auf die Operation verzichten könne und wir ihr in diesem Fall einen sanften Tod ermöglichen könnten. Das war für sie keine Option, die Operation gelang. Nach vier Wochen kehrte Frau Lüthi in ihr Altersheim zurück, feierte dort noch zweimal Geburtstag und starb friedlich im Schlaf im Alter von fast 103 Jahren.

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Ungefähr zur gleichen Zeit suchte Herr Casal, ein rüstiger 74-jähriger ehemaliger Architekt, unsere Notfallstation auf, er litt unter rasch zunehmender Atemnot. Seine Lungen waren von Wasser überschwemmt. Als Ursache fanden wir eine schwere Aortenstenose, eine Verengung der Klappe zwischen dem linken Herzen und dem grossen Blutkreislauf. Im Übrigen bestanden keine gravierenden Störungen, und so schlugen wir Herrn Casal den Ersatz der Aortenklappe vor, eine Routineoperation mit einem Mortalitätsrisiko von ein bis zwei Prozent. Gemäss Statistik würde der Patient anschliessend noch fünf bis zehn Jahre gut leben können. Zu unserer Frustration und zu unserem Erstaunen lehnte Herr Casal ab, er sei jetzt eigentlich müde und wolle der Natur ihren Lauf lassen. Unsere wiederholten Versuche, ihn umzustimmen, fruchteten nichts, er war ein weiser Mann, dessen Entscheid wir zu akzeptieren hatten. Ein halbes Jahr später las ich in der Zeitung seine Todesanzeige, er sei mit sich in Frieden gestorben.

Frau Lüthi und Herr Casal haben überlegt und autonom entsprechend ihrer Lebensphilosophie für sich entschieden. Sie wurden von grau-weissen Experten beraten, die auf Grund publizierter Evidenz und eigener Erfahrung ihre Empfehlungen formulierten. Zunächst müssten wir wissen, wie oft unsere Chirurgen schon erfolgreich 100-Jährige operiert haben und wie die Resultate der Herzchirurgie sind. Dann aber ist zu hoffen, dass möglichst ausschliesslich Evidenz und Erfahrung die Maxime der Beratung sind und nicht die durch den eigenen Lebensweg geformte ärztliche Philosophie und Psychopathologie des Individuums, sei sie nun aktiv-aggressiv oder zurückhaltend-depressiv.

Häufig ist es auch heute noch anders: Herr Tobler, 87-jährig, war ein vitaler Mann, der ausgedehnte Spaziergänge unternahm und oft mit seinen Enkelkindern spielte. Eines Tages spürte er eine Schwäche in seiner rechten Hand, die Abklärung ergab ein ausgedehntes Glioblastom, also einen Tumor der linken Hirnhälfte. Ihm wurde professoral mitgeteilt, dass dieser Tumor zu operieren sei, und Herr Tobler stimmte ohne weiteres Hinterfragen zu. Dabei sind solche Tumoren auch bei jüngeren Patienten nur in den allerwenigsten Fällen durch Operation, Strahlen und Gift zu heilen, und das Alter von Herrn Tobler hätte einen solch grossen Eingriff schon von vornherein verboten. Mit medizinischer Therapie hätte Herr Tobler noch einige Wochen bis Monate wahrscheinlich weitgehend beschwerdefrei leben können. Er wurde operiert, der Tumor konnte nicht zur Gänze entfernt werden. Der greise Patient liegt seither halbseitig gelähmt und sprachlos im Pflegebett; irgendwelche Anordnungen für den schlimmsten Fall hatte er vor der Operation nicht getroffen.

Noch immer gibt es tyrannische weisse Götter, die die eigene Psychopathologie trotz «evidence-based medicine», Autonomie des Patienten und Aufklärungspflicht ausleben. Damit uns Tragödien erspart bleiben und nicht auf verfehlte Weise mit uns verfahren wird, wenn wir wehrlos sind, empfiehlt es sich, frühzeitig über den eigenen Weg zu reflektieren und ein Worst-Case-Szenario zu entwerfen. Eine Patientenverfügung irgendwelcher Art und das vertrauensvolle Delegieren an vertraute Menschen und allenfalls auch Ärzte verhindern unwürdige Schauspiele wie jene von Terry Schiavo oder Johannes Paul II. im gnadenlosen Korsett von Despoten oder fundamentalistischer Tradition.

Prof. Dr. med. Oswald Oelz ist Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich und Extrembergsteiger