Warum macht der das bloss? Er könnte sich auf seinen Lorbeeren ausruhen, reisen, sein wohlverdientes Geld geniessen. «Ich musste doch das Haus retten!» Gilles Thévenin zieht die dichten schwarzen Augenbrauen zusammen und schüttelt den Kopf. «Das wäre sonst das Ende gewesen.» Es geht um nichts Geringeres als um eines der ältesten Parfumhäuser der Welt: Lubin. Gegründet wurde es von Pierre François Lubin 1798, zum Ende der Französischen Revolution, in Paris. Zu seinen Kunden zählten Fürsten und Könige. Kaiserin Joséphine, Gemahlin Napoleons, und Pauline, Schwester des Generals, liessen sich vom Parfümeur an der Rue Sainte-Anne beliefern. Und als die Bourbonen nach dem Sturz Napoleons wieder auf dem Thron sassen, widmete Lubin ihre Kreationen Königin Marie-Amélie. Später durfte der mittlerweile berühmte Parfümeur aus Paris seine Düfte auch ans englische Königshaus und den Zaren im fernen Russland senden. 1830 reiste Pierre François Lubin sogar nach Amerika und eroberte als erster französischer Parfümer die Neue Welt.

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Solche Geschichten zählen für einen wie Gilles Thévenin eine Menge. Der Franzose übernimmt das Traditionsunternehmen 2004 – da hat er schon viele Jahre als Kreativdirektor von Guerlain und als Marketingschef von Rochas gearbeitet. Seine Leidenschaft für Lubin entdeckt er, als das Dufthaus Anfang der 1990er Jahre in den Besitz des Haarpflegekonzerns Wella kommt. Der kaufte – nach der Übernahme von Rochas – 1994 auch den Produzenten von 4711 Echt Kölnisch Wasser, Mülhens, der zehn Jahre zuvor Eigentümer von Lubin geworden war.

Kein geeignetes Terrain für eine ehemals noble Marke, die erst vom Staub der Jahrhunderte befreit werden wollte. Und als Wella an den amerikanischen Waschmittel- und Kosmetikproduzenten Procter & Gamble verkauft wird, kommt die Stunde von Thévenin. Fast sein gesamtes Privatvermögen investiert der Unternehmer in das ehemals so glanzvolle Haus, das dem Untergang geweiht ist.

Fabelgestalt. Marais, Rue du Roule: Im ältesten Viertel von Paris zwischen dem Louvre und dem Rathaus hat Lubin ein Gebäude aus dem 18 . Jahrhundert bezogen. Thévenin sitzt an einem grossen Tisch gegenüber von bodentiefen Fenstern. Vor ihm ein Bataillon von Flakons. Alte und neue, mit exzentrischen Verschlüssen versehen, manche wie kleine Kunstwerke, aus Kristallglas geschliffen. «Ein grosses Parfum ist wie eine Kathedrale», sagt der Mann mit dem blütenweissen Hemd und den schwarzen Haaren. «Man muss es errichten wie ein Architekt. Man muss es langsam aufbauen. Gleichgewichte schaffen, Harmonien finden und es von Anfang an so anlegen, dass man seine Architektur schrittweise entdecken kann.»

Der 59-Jährige nimmt einen Papierstreifen und besprüht ihn mittels eines Fläschchens, das einen Verschluss aus Holz hat: Le Vetiver. «Das ist die Neuauflage eines Duftes aus dem 19. Jahrhundert», sagt Monsieur Thévenin. «Als wir ihn 2007 kreierten, hatten wir einen eleganten Aristokraten vor Augen, der im Winter von der Jagd heimkehrt und einen Zwischenhalt in einer weihrauchdurchwirkten Kathedrale einlegt.» Als der Duft fertig war, erinnerte er mehr an eine Fabelgestalt aus der keltischen Sagenwelt.

Ganze Fantasiewelten lässt die Kopfnote aus Mandarine, Grapefruit, Orange und Neroli entstehen – mit der Herznote aus Gewürznelke, Muskatnuss und Pfeffer und der Basis aus Vetiver, Zedernholz, Myrrhe, Weihrauch und Tabak. Es sind keine Allerweltsparfums, die zum Teil nach alten Vorlagen entstehen. Sondern Ausnahmekreationen, die von ihren Trägern eine gewisse Exzentrik erfordern. Zumindest Kennerschaft.

Duftarchiv. Glücklicherweise hatten die Mitarbeiter des Parfumhauses Mülhens die alten Rezepturen von Lubin gerettet und aufbewahrt. Dieses Archiv der Düfte und Kreationen dient Thévenin als Basis. Alte Klassiker werden heute zeitgemäss interpretiert, neue Düfte im Stil des Hauses kommen dazu. Neben dem französischen Entrepreneur sind auch zwei Mitglieder der Familie Prot mit an Bord, der Lubin zwischen 1844 und 1970 gehörte. Das verpflichtet. «Und dann stehen auch mehrere Freunde von mir als Investoren hinter der Marke, die ich überzeugt habe, dass Parfum das Wichtigste im Leben ist!», sagt der passionierte Duftliebhaber, und man glaubt es ihm sofort.

Lubin zählte ab der Gründung 1798 bis in die 1950er Jahre weltweit zu den bedeutendsten Akteuren der Branche. Das Unternehmen lag fast 200 Jahre in Familienhand. Heute gibt es wieder zwölf verschiedene Düfte im Programm: etwa Nuit de Longchamp, ein Klassiker von 1934, oder Black Jade, der nach einem Rezept von vor 1798 entstand. Berühmte Nasen wie Olivia Giacobetti, die unter anderem auch für Hermès arbeitet, oder Parfümeur Thomas Fontaine sorgen dafür, dass die Duftkompositionen nach alten Vorlagen frisch und modern wirken. Oder sie entwerfen neue, die sich auf die Tradition der Duftmanufaktur berufen.

Gefertigt werden die Parfums in limitierter Stückzahl in einem Dorf nahe Angers im Loire-Tal. Für die Exklusivität der Düfte sorgen ausschliesslich natürliche Rohstoffe. Es ist ein Gegengewicht zu den Duftwässerchen, die sonst den Markt überschwemmen und meist nach kurzer Zeit wieder aus den Regalen der Parfümerien verschwinden.

Inzwischen schreibt das Parfumhaus wieder ein Plus. Die Umsätze stiegen 2012 auf eine Million Euro. Etwa 25 000 Flakons werden jährlich in rund 30 verschiedenen Ländern verkauft. Und Monsieur Thévenin? Hat er seinen Schritt bereut? «Im Gegenteil! Hätte ich nicht reagiert und alles getan, um Lubin durch eine Übernahme zu retten, hätte ich mir das mein Leben lang vorgeworfen!»