Herr Dumas, was heisst klassisch?
Das ist eine schwierige Frage. Ich habe Kunstgeschichte studiert. Wenn man in der Kunstgeschichte von der Klassik spricht, meint man die Antike. Sie gilt als eine Art goldenes Zeitalter, in dem die idealen Proportionen entdeckt wurden. Heute bezeichnet man einen Gegenstand als klassisch, wenn er brav, ordentlich, harmonisch, symmetrisch und wohlproportioniert ist. Ich persönlich verbinde den Begriff klassisch mit harmonischen Proportionen.

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Ihre Klassik verweist also auf eine ferne Vergangenheit?
Jede Schöpfung verweist auf die Vergangenheit. Wer wie wir Dinge schafft, muss deren Geschichte kennen. Schauen Sie nur, was Sie machen, wenn Sie schreiben: Sie erschaffen etwas. Ihre Schöpfung beruht auf dem Alphabet, einem Alphabet, das über Jahrhunderte hinweg entwickelt worden ist. Wenn wir bei Hermès von einem Klassiker sprechen, dann sprechen wir von etwas, das aus der Vergangenheit stammt und eine Referenz geworden ist. Weil dieser Gegenstand, diese Form oder diese Farbe gefallen hat, immer noch gefällt und sich über die Epochen hinweg zu halten vermochte.

Und wie schafft man eine solche Referenz? Gibt es ein Rezept dafür?
Wir dürfen nie vergessen, dass die Klassiker von heute nicht immer Klassiker waren. Dass sie ursprünglich sogar einmal eine Innovation darstellten und von den Traditionalisten der damaligen Zeit vielleicht sogar abgelehnt wurden. Nehmen Sie unsere berühmten orangen Verpackungen, die typische Hermès-Farbe. Es gibt heute nichts Klassischeres. Damals, 1946, wählten wir diese Farbe allerdings nur, weil unser Lieferant nach dem Ende des Krieges kein beiges, sondern nur noch oranges Papier hatte. Das hat zwar einiges Zähneknirschen verursacht, aber wir hatten keine andere Wahl. Im Rückblick lässt sich sagen, dass die Farbe ein Markenzeichen unseres Hauses geworden ist. Ich wage sogar zu behaupten, dass es wohl eine der besten Marketing-Entscheidungen unserer Geschichte war.

Wie ist es möglich, innovativ zu sein in einem Haus wie Hermès, das sich stets auf seine Vergangenheit beruft?
Jede Generation hatte mit der Vergangenheit zu kämpfen. Sie hat sich mit ihr gemessen, hat sie bekämpft, hat sie herausgefordert – sei es in künstlerischer oder kommerzieller Hinsicht. Die erste provokative Tat meines Vaters bestand beispielsweise darin, dass er den Vertrieb von Hermès im Ausland wiederaufgenommen hat. Mein Grossvater wollte nichts davon wissen. Er hatte in seiner Jugend sehr schlechte Erfahrungen damit gemacht, als er kurz vor der Weltwirtschaftskrise in New York eine Boutique eröffnet hatte, was das Unternehmen in die Knie zwang. Sie stritten sich, und schliesslich erhielt mein Vater die Erlaubnis, im Ausland Boutiquen zu eröffnen. In der Folge sollte sich dies als eine kluge Entscheidung herausstellen. Auf diese Weise hat mein Vater die Tradition des Hauses in Frage gestellt, um es so voranbringen zu können.

Und welches war Ihre erste provokative Tat bei Hermès?
Meine erste provokative Tat war ebenfalls kommerzieller Art: die Eröffnung eines Geschäftes in China und dann die Einführung der Hermès-Website. Heute ist das etwas Selbstverständliches. Damals musste ich mir die Erlaubnis dafür erkämpfen.

Inwiefern darf man beim schöpferischen Akt provozieren?
Ich arbeite seit zwanzig Jahren bei dieser Marke, sie ist mir im wahrsten Sinne des Wortes seit meiner Kindheit eingeimpft worden. Ich kenne ihre Wurzeln, ihre Werte, ihre Kultur. Ich weiss sehr wohl, welche Widerstände meine Vorschläge bei den Traditionalisten hervorrufen. Ich mache das nicht, um anzuecken, sondern um Hermès voranzubringen. Wir müssen ständig etwas Neues hervorbringen, um unserer Geschichte, unserem Geist treu zu bleiben.

Und wie lässt sich der Widerstand der Traditionalisten überwinden?
«Das haben wir noch nie so gemacht.» «Das entspricht nicht dem Geist des Hauses.» «Das lässt sich nicht verkaufen.» In meiner Funktion als Chefdesigner höre ich solche Bemerkungen tagtäglich. Wenn ich jedes Mal das Handtuch werfen würde, wenn man mir wortreich erklärt, dass man dieses oder jenes aus diesem oder jenem Grund nicht machen könne, dass sich das nicht verkaufen lasse, dann würde ich irgendwann gar nichts mehr machen. Und Hermès würde stagnieren und zugrunde gehen.

Wenn Sie von Design sprechen, hört man aus Ihren Worten eine Spannung zwischen Innovation und Achtung der Geschichte heraus. Wie kommen Sie damit zurecht?
Das Klassische birgt tatsächlich eine Spannung zwischen Tradition und Revolution, zwischen Geschichte und Innovation. Das Design lässt sich von der Tradition inspirieren. Generationen von Designern, die aufeinander folgten, haben während Jahrzehnten die Kreativität dieses Hauses bereichert. Ich würde sagen, dass Hermès nicht in der Vergangenheit steht, wir aber auch nicht von unseren Wurzeln abgetrennt sind.

Sie haben gesagt, dass Sie provozieren und gleichzeitig die Tradition wahren müssen. Etwas widersprüchlich, nicht?
Ich werde Ihre Frage auf Umwegen beantworten. Provokativ ist etwas, das vom vorgespurten Weg abweicht, das nicht der Norm entspricht, das anders ist. Provokativ kann nur sein, wer seine Geschichte gut kennt. Wenn man sich gegen die bestehende Ordnung auflehnen will, muss man diese zunächst genau kennen. Selbst für eine klassische Marke wie die unsere ist es äusserst wichtig zu provozieren, sonst erstarrt man und stirbt.

Ein Beispiel?
Ich habe von meiner ersten provokativen Tat als Manager erzählt. Meine erste kreative Provokation reicht ins Jahr 2002 zurück, als ich stellvertretender Artistic Director an der Seite meines Vaters, Jean-Louis Dumas, war. Er übertrug mir die Verantwortung für eine neue Seidenkollektion, die Carrés, Schals und anderes umfasste. Eine Kollektion, die nicht mehr gut lief. Sie müssen wissen, dass es bei den Accessoires grosse Zyklen gibt. Und wir befanden uns gerade in der Talsohle eines solchen Zyklus. Unsere Kollektion war nicht mehr zeitgemäss, etwas veraltet. Die Jungen sahen die Seidenfoulards am Hals ihrer Mütter und wollten sie selbst nicht tragen. Trotz dieser Krise stellten wir weiterhin Foulards her, wie in den neunziger Jahren. Ich beauftragte eine junge Stylistin damit, eine Kollektion zu entwerfen, und liess ihr freie Hand. Die Foulards sollten anders sein als die bisherigen. Die Frau entwickelte gut zwei Dutzend verrückte Stücke. Ich erinnere mich an die schockierten Gesichter der Verkäufer, als wir sie ihnen präsentierten. Sie versicherten uns, dass diese Carrés unmöglich eine Käuferin finden würden. Doch diese Kollektion läutete die Renaissance der Seidensparte ein. Indem wir alle Regeln, die als unantastbar galten, in Frage stellten, retteten wir dieses Segment. Wir mussten uns neu erfinden, die Freude wiederfinden, für uns und unsere Kunden. Die junge Stylistin, Bali Barret, ist heute übrigens meine rechte Hand im Artistic Design der Gruppe.

Das bringt uns zu den Werten von Hermès. Ist es überhaupt möglich, immaterielle Dinge wie die Werte eines über hundert Jahre alten Luxusgüterkonzerns zu definieren?
Der dauerhafteste Wert von Hermès, noch mehr als die Klassik, ist die Eleganz. Im Laufe der Zeit wurde die Eleganz immer wieder anders interpretiert. Es ist nicht die Mode, die mich interessiert. Was mich interessiert, ist, die Moden zu durchqueren. Mich interessieren der Zeitgeist, die Kultur mit all ihren Verästelungen und Entwicklungen, ein Zeitgeist, der unsere Wahrnehmung der Dinge verändert. Wir sind Lebewesen, die grundsätzlich schwach, grundsätzlich wankelmütig sind. Was uns gestern begeistert hat, langweilt uns heute. Mode bedeutet, den anderen zu folgen. Das interessiert mich nicht. Den Zeitgeist zu erkennen, ihn zu leben, das ist wichtig.

Designer wollen aus Prinzip Grenzen verändern. Wie bringen Sie sie auf Kurs, ohne sie in eine Zwangsjacke zu stecken?
Zunächst dadurch, indem ich ihnen eintrichtere, dass die Werte von Hermès zu achten, auch bedeutet, dass man sich selbst nicht zu ernst nehmen soll, etwas provokativ sein soll. Allerdings darf man ihnen nicht völlig freie Hand lassen. Der Rahmen muss festgelegt werden. Und wenn man dem Designer die richtigen Grenzen setzt und ihm ein klares Pflichtenheft vorgibt, kann er sich anschliessend ausdrücken und Ihre Wünsche umsetzen. Ein Beispiel: Wenn Sie zu einem Architekten sagen, «ich will ein schönes Haus», und Sie ihm freie Hand lassen, wird er Ihnen ein schönes Haus bauen. Nach seinem Geschmack. Mit dem Ergebnis, dass das Haus Ihnen möglicherweise nicht gefallen wird. Wenn Sie ihm jedoch genaue Vorgaben machen und der Architekt versteht, wie Sie sich das Haus vorstellen, wird er Ihre Erwartungen zu Ihrer vollen Zufriedenheit erfüllen.

Die Designer an der kurzen Leine halten, damit sie über sich hinauswachsen. Ist das nicht etwas paradox?
Die Leute denken, dass Designer nur ihre eigenen Ideen verwirklichen. Das stimmt nicht. Sie brauchen einen Rahmen, um sich ausdrücken zu können. Ansonsten ist es wie die Angst vor dem leeren Blatt Papier. Wenn sie alles machen können, wissen sie nicht mehr, was sie machen sollen.

Und am Ende entscheiden sowieso Sie.
Ich möchte noch präzisieren, dass ich kein Designer bin, ich begleite die Designer. Ich versuche, sie zu führen, so wie ein Dirigent, und meine Partitur ist Hermès. Die Interpreten, jene, die die Instrumente von Hermès spielen, sind die Designer. Übrigens ist Design etwas Willkürliches. Wenn man ein Produkt entwirft und zehn Leute um ihre Meinung bittet und allen gefallen will, erhält man den kleinsten gemeinsamen Nenner, der zwangsläufig etwas Banales sein wird. Also entscheide ich letztlich allein. Aber natürlich nicht willkürlich. Meine Arbeit besteht darin, die Kreativprozesse des Hauses Hermès an die heutige Realität anzupassen. Ich bin der Architekt, der dafür sorgt, dass wir in der Lage sind, zweimal im Jahr neue Kollektionen herauszubringen. Und diese Kollektionen müssen die moderne, heutige Welt widerspiegeln. Und gleichzeitig unseren Werten entsprechen.

Designer haben die Tendenz, zu viel zu erschaffen. Wie treffen Sie eine Auswahl unter all ihren Vorschlägen?
Ein wichtiger Teil meiner Arbeit besteht darin, die Kollektionen zu bereinigen. Man hat immer die Tendenz, zu viel zu schaffen und ständig Neues hinzuzufügen. Dabei gilt es, wie ein Gärtner vorzugehen: auszudünnen, zurückzuschneiden, damit die restlichen Pflanzen besser wachsen können. Das habe ich beispielsweise mit unserer Uhrenkollektion getan und dabei eine wunderbare Entdeckung gemacht. Beim Aufräumen fand ich in den Schubladen einen Entwurf für eine quadratische Uhr, der sechs Jahre zuvor angefertigt worden war. Ein fantastisches Projekt von Marc Berthier, einem Zeichner und Architekten. Und weil ich seit langem mit der quadratischen Form arbeite, einer äusserst klassischen, sehr beständigen und symmetrischen Form, habe ich mir gesagt, dass eine solche Uhr unsere Kollektionen bestens ergänzen würde. Beachten Sie, dass es sich um ein modernes Quadrat handelt, ein sanftes, ohne Ecken, gar nicht so weit vom neuen iPhone-Modell entfernt. Wir gehen also wieder mit der Zeit, was für mich sehr wichtig ist. Selbstverständlich haben mir die Uhrmacher gesagt, dass sich eine solche Uhr nicht verkaufen lasse. Selbstverständlich haben wir nicht auf sie gehört und das Modell trotzdem hergestellt. Entstanden ist ein Objekt ganz im Geiste von Hermès, von eher klassischer Gestalt, aber trotzdem provokativ, weil formstarke Uhren nicht in Mode sind, was uns wieder zum kommerziellen Einwand der Verkäufer zurückbringt, dass niemand eine solche Uhr kaufen würde.

Es ist also notwendig, Kollektionen zu bereinigen. Wie gehen Sie dabei praktisch vor?
Eine Kollektion ist eine Summe von Objekten, und jedes Objekt ist eine eigenständige Kreation aus ausgesuchten Formen, Materialien und Farben. Diese Anhäufung von Gegenständen muss einen Sinn ergeben, die Gegenstände müssen miteinander kommunizieren, sonst ist es eine reine Kakofonie. Zudem muss eine Kollektion harmonisch sein, man muss einen gewissen Geist erkennen können. In meinem Beruf muss ich sicherstellen, dass die einzelnen Kollektionen nicht nur harmonisch sind, sondern dass alle zusammen eine Einheit bilden, die Hermès heisst. Das ist gar nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass wir pro Saison mindestens 15 000 Artikel haben.

Das ist viel.
Mir liegt diese Vielfalt am Herzen. Das ist auch einer der Aspekte, die den Charme unseres Hauses ausmachen. Wenn wir nur noch eine Monokultur betreiben würden, ginge etwas verloren.

Eine Kollektion zu managen, die so viele Artikel umfasst, das ist ein Ding der Unmöglichkeit.
In der Theorie vielleicht. Nicht aber in der Praxis. Die Stärke von Hermès besteht darin, dass die verschiedenen Bereiche unseres Hauses in ständigem Dialog miteinander stehen: jene, die das Know-how beherrschen, die Designerteams und die Verkaufsequipen. Ich muss aber gestehen, dass wir nach jeder Kollektion befürchten, bei der nächsten nicht wieder so gut zu sein. Und doch gelingt es uns jedes Mal. Wir nehmen einige Tage Ferien, laden unsere Batterien wieder auf und kommen voller Ideen wieder zurück.

Unser Gespräch neigt sich dem Ende zu. Haben Sie eine Definition für den Begriff «klassisch» gefunden?
Wir haben gesagt, dass klassisch ein Gleichgewicht zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten ist, zwischen dem Beherrschen und dem Risiko, der Vergangenheit und der Moderne. Daraus leite ich folgende Definition ab: klassisch bedeutet, elegant und doch nicht langweilig zu sein. Zufrieden?

Nicht schlecht. Und zudem eine schöne Schlussfolgerung.
Noch nicht. Man muss noch weiter gehen. Elegant und doch nicht langweilig zu sein, bedeutet auch, dass man in der Lage ist, einen Kodex zu brechen, und sich nicht in der Klassik einschliesst. Sonst wird es mit der Zeit langweilig. Man muss den Mut aufbringen, neue Formen zuzulassen, Formen, die nicht per se hässlich zu sein brauchen, die aber häufig zunächst so wahrgenommen werden. Hat sich das Auge erst an sie gewöhnt, erkennt es sie als ebenso schön wie jene, die es bisher geliebt hat, bis sie ihrerseits zu Klassikern werden. Denn die ungeliebten Formen von heute sind möglicherweise die Klassiker von morgen.