Im Hauptbahnhof in Zürich beginnt für manchen eine Reise durch den eigenen Körper: Die Begleiter sind dabei nicht Schaffner und Lokomotivführer, sondern Krankenschwestern und Ärzte. Seit einem Jahr beherbergen die historischen Gemäuer des Bahnhofsgebäudes nicht nur Züge und Wartesäle, sondern auch den Check-Point, ein Diagnosezent-rum für medizinische Vorsorgeuntersuchungen. Dort sollen gesundheitliche Probleme aufgedeckt werden, bevor sie Ärger machen. «Kürzlich habe ich bei einem 58-Jährigen eine starke Erweiterung der Hauptschlagader festgestellt», berichtet Jürg Müller-Schoop, Facharzt für Innere Medizin und Leiter des Zentrums. Durch regelmässige Kontrolluntersuchungen und eine rechtzeitige Operation könne dem Mann vermutlich eine lebensbedrohliche Blutung erspart werden. Meist suchen die Menschen erst einen Arzt auf, wenn es schon fast zu spät ist. Vernünftiger gehen sie mit dem Auto um: Sie bringen es nach den empfohlenen Kilometern zur Inspektion, kümmern sich um den Ölwechsel und kippen zeitig den Gefrierschutz ins Scheibenwischer-Wasser. Beim eigenen Körper hingegen folgen sie oft dem Motto «Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss». Diese Verantwortungslosigkeit gegenüber der Gesundheit beunruhigt nicht nur Ärzte, sondern auch viele Unternehmen, weil ernste Erkrankungen von Mitarbeitern finanziellen Schaden bedeuten. Dem sollen Check-ups vorbeugen. Doch da haben Arbeitsmediziner manchmal ein Problem: Sie dürfen keinen Arbeitnehmer zur Untersuchung zwingen. Nur für besondere Berufe wie bei Piloten oder Astronauten ist sie Pflicht. Ein Herzkranker im Cockpit könnte einfach zu grossen Schaden anrichten. Ob allerdings die gründlichen Untersuchungen von Piloten als Vorbild für die Allgemeinbevölkerung dienen können, ist mehr als fraglich. Die Gesundheitsexperten streiten darüber, was überhaupt sinnvolle Präventionsmassnahmen seien. Und während darüber noch Unklarheit herrscht, überbieten sich Kliniken und Praxen mit einem üppigen Angebot an Check-ups. Sie lassen die Patienten mit Elektroden auf der Brust in die Pedale des Ergometers treten, sie zapfen Blut ab, um nach Hinweisen für Prostatakrebs zu forschen, oder sie durchleuchten die weibliche Brust auf der Suche nach Krebsknoten. Wird nichts gefunden, verkaufen sie dem Patienten ein Gefühl der Sicherheit. Dabei nützen sie vielleicht mehr ihren eigenen Kassen als der Gesundheit der Patienten. Der klinische Epidemiologe Heiner Bucher vom Kantonsspital Basel weist darauf hin, dass bei vielen Untersuchungen noch der Beweis fehlt, dass sie wirklich Nutzen bringen. «Zur Vorbeugung von Krankheiten ist viel wichtiger als alle diese Untersuchungen, dass die Leute vernünftig leben, nicht zu dick sind und das Rauchen sein lassen», mahnt Bucher. Wer also gesund lebt und ausserdem keine Risikofaktoren für bestimmte Krankheiten in der Familie hat, verhält sich keinesfalls leichtsinnig, wenn der Check-up minimalistisch ausfällt. «Jeder Erwachsene sollte seinen Blutdruck und die Konzentration der Blutfette kennen», sagt Felix Gutzwiller, Direktor des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich. Diese Werte hätten eine gute Voraussagekraft für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sofern sie normal ausfallen, reichten Kontrollen alle fünf Jahre aus. Bei übergewichtigen Menschen sollte auch der Nüchtern-Blutzucker bestimmt werden, weil dadurch oftmals ein beginnender Diabetes mellitus auffällt. «Die meisten Leute wollen sich bei Check-up-Untersuchungen einen Persilschein ausstellen lassen, damit sie hinterher fröhlich mit ihrem oftmals gesundheitsschädigenden Verhalten weitermachen können», klagt Gutzwiller. Der Moment von Vorsorgeuntersuchungen müsse deshalb viel stärker genutzt werden, um auf den Lebensstil der Patienten einzuwirken und sie gezielt zu beraten. Wenn es sich der Arzt zu einfach macht und er nur auf die erhobenen Werte starrt, führt das in der Regel beim Patienten zu einem gefährlichen Missverständnis. Denn gute Ergebnisse beruhigen und legitimieren den ungesunden Lebenswandel: «Ich bin zu dick, rauche, habe Stress – trotzdem stimmen meine Werte», sagt sich so mancher. Stellen die Ärzte andererseits bei den Untersuchungen eine Auffälligkeit fest, kann der Patient auch Opfer des Diagnostikeifers sein. «Durch Check-up-Untersuchungen können Gesunde zu Kranken gemacht werden», warnt Felix Gurtner vom Ressort Medizinische Leistungen des Bundesamtes für Sozialversicherung in Bern. Deshalb würden die Vorsorgeleistungen nur dann von der Krankenkasse übernommen, wenn der Nutzen den Schaden überwiegt, und das wäre bei den meisten Untersuchungen noch längst nicht erwiesen. Wie zum Beispiel im Falle der routinemässigen Bestimmung des prostataspezifischen Antigens (PSA) im Blut zur Früherkennung der häufigsten Krebsart des Mannes. Ist PSA erhöht, beginnt eine hektische Suche nach dem Krebs, obwohl der Tumor vielleicht gar nicht zum Tode geführt hätte. «Diese Männer werden durch die Blutuntersuchung früher krank gemacht», moniert Felix Gurtner, «und es fehlt die Evidenz, dass durch diese Massnahme weniger Männer sterben.» Also rät das Bundesamt für Sozialversicherung den Krankenversicherern ab, die Kosten solcher Untersuchungen zu übernehmen. Ähnlich ging es bis vor kurzem der Mammografie, der Durchleuchtung der weiblichen Brust zur Krebsfrüherkennung – viele Frauen mussten für dieses Röntgenbild selbst in die Tasche greifen. Neuerdings können Patientinnen zwischen 50 und 70 Jahren ihre Brust auf Kassenkosten untersuchen lassen, doch nur in besonders qualifizierten Röntgeneinrichtungen. Im Rahmen dieses Programms werden bei auffälligem Ergebnis weitere Experten konsultiert, denn es gilt, unnötige Gewebeentnahmen zu vermeiden. Immerhin besteht bei ungefähr jeder zwanzigsten Mammografie ein falsch positiver Befund. Die Untersuchung verursacht also oftmals nicht nur unnötige Panik, sondern auch erhebliche Folgekosten durch die weiterführende Diagnostik. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Mammografie klingt nicht besonders überzeugend: Jedem durch diese Massnahme gewonnenen Lebensjahr stehen Ausgaben von ungefähr 150 000 Franken gegenüber. Die Blutdruckmessung hingegen verbraucht nur knapp ein Zehntel dieser Summe, um den Tod durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen um ein Jahr hinauszuzögern. Bei Vorsorgeuntersuchungen für Darmkrebs ist die Trefferquote noch geringer als beim Brustkrebs. Wenn im Stuhl Blut nachgewiesen wird als Hinweis für ein Geschwür, müssen die Ärzte in über 150 Fällen ihre Kolonoskope durch das Gedärm schieben, bevor sie einen einzigen Krebskranken ausfindig machen. Doch die Hypochonder, die aus jedem Husten gleich eine Tuberkulose machen, wollen oft alles testen lassen, was man testen kann, auch wenn Gesundheitsexperten es für unsinnig erachten. «Manche Menschen sind einfach übervorsichtig und misstrauen allen Befunden, die ihnen beste Gesundheit bescheinigen», sagt der Arzt und Psychotherapeut Rolf Heim vom Institut für Arbeitsmedizin in Baden. Andere wiederum verdrängten selbst suspekte Symptome, aus lauter Angst, es könnte etwas Schlimmes gefunden werden. Und mit der Angst vor der Krankheit machen die Ärzte ein Geschäft. Die Patienten nehmen Check-up-Untersuchungen mittlerweile wie ein Lifestyle-Produkt an. Unter vielen Managern gelten sie sogar als Statussymbol, hauptsächlich wenn die Firma dafür zahlt und auf diese Weise zeigt, wie wichtig ihr der Mitarbeiter ist. In den USA werben Diagnostikkliniken auf ihrer Homepage mit zufriedenen Kunden und verweisen auf ihre Referenzliste mit namhaften Unternehmen. Die Ärzte des Check-Points am Zürcher Hauptbahnhof hoffen auf Deals mit Banken und Firmen aus der Nachbarschaft, doch bislang konnten sie keine feste Zusammenarbeit vereinbaren. In Davos haben sich einige Praxen und Kliniken zum «Med-Check» verbunden, unterstützt von der örtlichen Tourismuszentrale. «Die Gäste unseres Ortes sollen im Urlaub die Möglichkeit eines Check-ups entdecken und dann alle paar Jahre bei uns wieder vorbeischauen», wünscht sich Peter Risi, Chefarzt der Zürcher Höhenklinik Davos. In erster Linie gehe es ihm um eine gute Dienstleistung, denn viel Geld brächten die Untersuchungen eh nicht. Rund 520 Franken müssen die Patienten für den «Basis-Plus-Check-up» berappen, in dem unter anderem ein Belastungs-Elektrokardiogramm, ein Lungenfunktionstest, Labortestungen und ärztliche Beratung inbegriffen sind. «Oft sind es die Ehefrauen, die Angst um ihre gestressten Männer haben und sie bei uns anmelden», sagt Risi. Im Urlaub liessen sich viele leichter davon überzeugen, die ungefähr zweieinhalb Stunden dauernde Diagnostikmühle über sich ergehen zu lassen – der Gesundheit und der Frau zuliebe. Aber vielleicht auch der Karriere zuliebe. Bei den Personalberatungsfirmen wird das Thema Gesundheit ernst genommen. «In der heutigen Zeit spielt jedes Handicap eine Rolle, denn es geht gerade bei Führungspersönlichkeiten um die volle Einsatzfähigkeit», sagt Josef Kneubühler, Geschäftsführer der Personalberatung Team-Kader in Zug. Es sei im Interesse aller, offen über körperliche Einschränkungen zu sprechen. Ein schwieriges Unterfangen, zumal kein Kandidat verpflichtet ist, Auskunft zu geben. Während vielleicht ein Herzkranker noch seine Bypass-Operation erwähnt, hüllt sich ein Alkoholiker sicher in Schweigen. «Sechs Monate nachdem wir einen Manager vermittelt hatten, eskalierte sein Alkoholproblem», berichtet Kneubühler. «Deshalb recherchieren wir jetzt sehr sorgfältig beim geringsten Verdacht.» Wer gesund ist, leistet mehr. Mit diesem Hintergedanken fördern die Firmen Vorsorgeuntersuchungen ihrer Mitarbeiter. Es gibt allerdings kaum wissenschaftliche Beweise, dass durch gewisse Check-up-Programme die Erkrankungsrate oder gar die Sterblichkeit gesenkt würden. Weil im Dschungel der Präventionsmassnahmen derzeit noch viel Unklarheit herrscht, lässt man sich am besten vom Arzt des Vertrauens leiten. Er kennt die individuellen Risikofaktoren und veranlasst dann die entsprechenden Untersuchungen. Dabei geht es nicht nur um sture Datenerhebung, denn der Körper ist keine Maschine. «Der Moment des Check-ups sollte als eine Chance genutzt werden, dem Patienten die Probleme seiner Lebensführung zu zeigen», sagt Jürg Müller-Schoop vom Check-Point. Und das ist bestimmt wichtiger, als nur eine lange Liste an Untersuchungen abzuarbeiten. Dr. med. Achim Wüsthof ist Arzt, Buchautor, Medizinjournalist und ständiger Mitarbeiter der BILANZ.
LEBEN AUF PUMPE Präzise Diagnose: Das Risiko Herzinfarkt läss sich früh erkennen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen töten die meisten Menschen in den Industrieländern. Allein in der Schweiz sind es jährlich rund 10 000. Verengen sich die Herzkranzgefässe durch Arteriosklerose, kommt weniger Blut in den Pumpmuskel. Wenn sich plötzlich ein Gerinnsel bildet oder sich eine Fettkruste in der Ader löst und querstellt, gerät der Fluss gänzlich ins Stocken. Ohne Sauerstoff und Nahrung stirbt das Gewebe ab. Die Diagnose lautet dann Herzinfarkt. Belastungs-EKG gibt klare Hinweise So weit soll es nicht kommen. Die Ärzte möchten die Verengungen frühzeitig feststellen, um sie per Katheter aufzudrückenn oder durch Bypass-Operationen eine Umleitung zu basteln. «Den besten Hinweis auf eine Stenose der Herzkranzgefässe gibt uns zunächst das Belastungs-Elektrokardiogramm», sagt Bernhard Meier, Chef der Kardiologie am Inselspital in Bern. Zeigen die EKG-Zacken eine Auffälligkeit, sollten die Patienten eine Herzkatheteruntersuchung nicht hinausschieben. Das Belastungs-EKG empfiehlt der Kardiologe Meier bei Männern ab 40 Jahren, sofern sie rauchen, Bluthochdruck haben, zuckerkrank sind, erhöhte Blutfette haben oder es Menschen in der Familie gibt, die vor dem 60. Lebensjahr einen Herzinfarkt hatten. Wer keine dieser Risikofaktoren hat, sollte ab 50 Jahren beim Arzt auf das Untersuchungsfahrrad steigen. Für Frauen gelten die gleichen Empfehlungen, nur zehn Jahre später. Umstrittene Diagnose-Alternativen Eine Szintigrafie, bei der radioaktive Substanzen die Durchblutung des Herzmuskels zeigen, oder eine Elektro-Beam-Computer-Tomografie, die den Kalk in den Herzkranzgefässen misst, sind nach Meinung von Bernhard Meier unsinnige Methoden. Hoffnungen hingegen setzt der Chefarzt in die Magnet-Resonanz-Tomografie, die keine Röntgenstrahlen benötigt. Derzeit hapert es noch an der Rechenleistung des Computers. In einigen Jahren allerdings könnte diese Technik den Herzkatheter ersetzen.
MÄNNER MACHEN ES WIE DER VOGEL STRAUSS Bloss nicht dran denken: Männer scheuen Tests zur Krebsvorsorge. Wenn es um Krebsvorsorge geht, stecken immer noch die meisten Männer den Kopf in den Sand. Viermal seltener als Frauen gehen sie aus diesem Grund zum Arzt. «Sie glauben, dass Krankheit eine Schwäche ist», sagt der Urologe Hubert John vom Universitätsspital Zürich. Die Herren spielten lieber die Rolle des Starken, Potenten und Gesunden, der eine solche Untersuchung einfach nicht nötig hat. John empfiehlt jedenfalls Männern ab 50 Jahren die jährliche Bestimmung des prostataspezifischen Antigens (PSA) im Blut und den sanften Finger eines Urologen, der die Mannesdrüse abtastet. Findet sich bei diesen Untersuchungen eine Auffälligkeit, muss mit dem Ultraschall nach knotigen Veränderungen geforscht werden. Die routinemässige Bestimmung von prostataspezifischem Antigen ist allerdings umstritten, weil nicht selten falsch positive Werte ermittelt werden, die dann den Patienten unnötig verunsichern. Das bedeutet: Bei erhöhtem PSA im Blut steckt hinter dem Befund nicht unbedingt Prostatakrebs.
ERFOLGE AUSGEWIESEN Vorsorge erhöht die Heilungschance bei Gebärmutterhalsbrebs massiv. In den letzten 50 Jahren ist die Sterblichkeit durch Gebärmutterhalskrebs etwa sechsmal kleiner geworden – dank systematischen Vorsorgeuntersuchungen. «Jede Frau ab dem 18. Lebensjahr sollte damit beginnen; werden bei den jährlichen Kontrollen dreimal hintereinander unauffällige Befunde erhoben, kann die Untersuchung alle zwei Jahre erfolgen», sagt Oberarzt Michael Müller vom Inselspital in Bern und verantwortlich für die Gebärmutterhalsvorsorge. Bei neuen Sexualpartnern müsse die Frequenz allerdings wieder auf jährliche Untersuchungen erhöht werden. Durch den Geschlechtsverkehr übertragen sich Papilloma-Viren, die zur Entartung des Gewebes beitragen. Entdecken die Ärzte veränderte Zellen frühzeitig, können sie die Frauen kurieren. Auch Seniorinnen sollten diese Untersuchung alle drei bis fünf Jahre durchführen lassen. Beim Brustkrebs sind die Vorteile einer Vorsorgeuntersuchung durch Mammografie weniger eindeutig. Befürworter hoffen auf eine frühzeitige Diagnose und dadurch bessere Heilchancen, Kritiker befürchten, dass künftig jeder geringste Verdacht mit dem Skalpell ausgeräumt wird – oft auch unnötigerweise.
Das Präventivprogramm - Soviel Vorsorge sollten Sie sich gönnen.
Ende 2002 erschienen: «Beim Arzt: Eine Gebrauchsanleitung» von «Beobachter»-Redaktor Urs Zanoni. Das Buch ist eine Handlungsanleitung für alle, die sich selbstbestimmt im Gesundheitssystem bewegen wollen. 232 Seiten, broschiert, Fr. 29.80, Beobachter-Buchverlag, ISBN 3-85569-259-9.
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