«Mein Gott, wie weit sind wir jetzt schon gekommen - Leute!» stöhnt Angela Merkel und muss dabei doch grinsen. Denn zum Ende ihrer letzten Bundestagsrede in dieser Legislaturperiode hat sie sich gerade die missverständliche Bemerkung geleistet, dass «meine Zeit auch so gut wie vorbei ist» - was sofort Gejohle bei Linken, SPD und Grünen auslöst.

Knapp drei Wochen vor der Bundestagswahl verwandelt sich die letzte Debatte im Berliner Reichstag in eine muntere, lebendige Wahlkampfschlacht - ganz ohne TV-Moderatoren. Schliesslich spürt keine Seite mehr Lust darauf, nun staatstragend zu diskutieren. Stattdessen liefern sich die Abgeordneten eine der lebhaftesten Debatten der vergangenen vier Jahre - wie es der scheidende Parlamentspräsident Norbert Lammert zuvor angemahnt hatte.

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Munter und genüsslich

Also schlagen sich in der Debatte die SPD-Redner munter auf die Seite der oppositionellen Grünen und Linken, die Merkel und die Union scharf angreifen. Also appelliert die Union fast genüsslich an ihren bisherigen Partner der letzten vier Jahre, doch die gemeinsame erfolgreiche Bilanz nicht wieder zu zerreden.

Als SPD-Generalsekretär Hubertus Heil während Merkels Rede immer wieder dazwischen ruft, geht die CDU-Chefin sofort darauf ein. «Freuen Sie sich doch mit uns», ermuntert sie den SPD-Politiker, was angesichts der derzeitigen Umfragewerte von Union und SPD nach vier Jahren grosser Koalition natürlich eine schmerzhafte Spitze ist.

Machtpolitikerin Merkel blitzt kurz auf

Beim Zwischenruf Heils, dass etwa die Übernahme des Bafögs doch nur mit Druck der SPD möglich gewesen sei, wird sie dann etwas schärfer und spielt kurz die Macht einer Kanzlerin aus, die vor vier Jahren 41,5 Prozent der Stimmen eingefahren hat.

«Gegen meinen Willen und den Willen der Unionsfraktion konnten Sie in diesem Parlament echt nichts durchsetzen», blitzt kurz die Machtpolitikerin Merkel auf - um sofort etwas konzilianter nachzuschieben, dass es doch prima sei, wenn die SPD sie überzeugen könne. «Daran sehen Sie, wie gut ich zuhören und auf Argumente eingehen kann», flötet Merkel süffisant, die zwei Tage nach dem TV-Duell ebenfalls erkennbar im Kampfmodus ist.

«Also kein Problem»

Jedenfalls zerpflückt sie den SPD-Vorwurf, die Union wolle 30 Milliarden Euro mehr für Rüstung ausgeben. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz habe doch selbst in einem Interview gesagt, drei bis fünf Milliarden Euro jährlich mehr für Verteidigung ausgeben zu wollen. Da habe sie ihre mathematischen Fähigkeiten zusammengenommen und sich gedacht: «Also kein Problem, kein Dissens. Ich bin froh und hoffe, dass das Wort des Kanzlerkandidaten Martin Schulz gilt», spottet Merkel.

Heil hält dagegen - mithilfe einer Frage an die Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt. Die drei bis fünf Milliarden Euro mehr seien nicht als zusätzliche Aufrüstung pro Jahr gemeint gewesen, sondern als Wert, um die Bundeswehr besser ausrüsten zu können. Göring-Eckardt solle nicht auf die Aussagen Merkels hereinfallen, warnt Heil den Wunsch-Koalitionspartner der SPD. Worauf wiederum CDU-Generalsekretär Peter Tauber das Schulz-Interview zitiert, dass es eine jährliche Erhöhung um genau diese Beträge geben sollte. «Ja unbedingt, sollten wir tun», liest Tauber vor.

Dobrindt im Zentrum der Kritik

Dass sich Merkel auch heftige Angriffe von Oppositionspolitikern wie dem Grünen-Chef Cem Özdemir und der Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht gefallen lassen muss, überrascht wenig. Auffällig dabei ist eher, dass neben Merkel vor allem Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) im Zentrum der Kritik steht, etwa für sein Vorgehen in der Diesel-Affäre oder den Umgang mit dem Autobahn-Konsortium A1.

Özdemir nennt Dobrindt «den schlechtesten Verkehrsminister, den Deutschland je hatte». Zudem übernimmt neben Heil vor allem SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann die Abteilung Attacke, nutzt eine ähnliche Wortwahl wie Schulz und wirft seiner bisherigen Koalitionspartnerin Merkel mehrfach vor, «persönlich» für gescheiterte Projekte verantwortlich zu sein.

Persönlich wird es in der Jeder-gegen-Jeden-Debatte allerdings auch zwischen den Politikern von Rot-Rot-Grün. So rät Özdemir einer Zwischenruferin der Linken, sich besser zu informieren, anstatt nur den TV-Sender «Russia Today» zu schauen.

Furcht vor neuen Tönen

Aber wie gut die Zusammenarbeit in der großen Koalition trotz allen Streits war, wird dann doch deutlich - etwa wenn Aussenminister Sigmar Gabriel (SPD) Merkel vor der folgenden Kritik erst einmal überschwänglich für die faire Zusammenarbeit dankt. Oder wenn Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ihren Kabinettskollegen und Sitznachbarn auf der Regierungsbank, Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), eigenhändig zurück auf den Platz an der Regierungsbank schiebt, obwohl der sie in seiner Rede gerade mehrfach kritisiert hat.

Am Ende aber stellt sich in der letzten Bundestagssitzung so etwas wie generelle Wehmut ein. Die scharfen Attacken etwa von Özdemir, Oppermann oder Unionsfraktionschef Volker Kauder gegen die AfD zeigen, wie gross die Befürchtung ist, dass sich der Ton der Auseinandersetzung im Bundestag bald drastisch ändern könnte. Denn laut Umfragen könnten die Rechtspopulisten nach der Wahl als drittstärkste Kraft in den Bundestag einziehen.

Dazu passt, dass der scheidende Bundestagspräsident Lammert gleich anfangs mit stehenden Ovationen aller Abgeordneter verabschiedet wird, nachdem er ein emotionales Loblied auf die Demokratie angestimmt hat. Als Vermächtnis hinterlässt Lammert die Mahnung, dass alle Demokraten künftig gegen «Fanatiker und Fundamentalisten» zusammenstehen müssten. Parteinamen nennt er nicht.

(reuters/ccr)