Flerden GR oberhalb von Thusis, 204 Einwohner. Auf dieser Sonnenterrasse liegt das Reservat des Schlumpf-Clans. Hier hat Vater Leon Schlumpf, ehemaliger Rechtsanwalt, ehemaliger Regierungsrat und ehemaliger Bundesrat, vor Jahrzehnten ein Ferienhaus bauen lassen. Einen Steinwurf entfernt will auch seine Tochter, ehemalige Rechtsanwältin, ehemalige Regierungsrätin und amtierende Bundesrätin, ihr eigenes Wochenendhaus.

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Eines nach Minergie-Standard, mit Sonnenkollektoren, Wärmepumpe, Doppelverglasung. Doch das Öko-Projekt steht unter einem schlechten Stern: Die Bauherrin stritt sich bereits vor Baubeginn mit der Gemeinde um eine «grosse Tanne» sowie Gebühren für Abwasser und Kanalisation. Auch 7850 Franken für den Wasseranschluss waren ihr zu viel. Widmer-Schlumpf gelangte im Herbst 2010 ans Verwaltungsgericht in Chur. Vor ein paar Monaten wurden ihr drei Viertel der Gerichtskosten auferlegt, der Wasseranschluss geht auf ihre Kosten. Dafür kann die Tanne stehen bleiben.

Eveline Widmer-Schlumpf (55) gibt nie klein bei, weder in Flerden noch in Bern. Hartnäckig bis stur verfolgt die Politikerin ihre Ziele. Den Rausschmiss aus der SVP hat sie längst weggesteckt, auch den jahrelangen Kleinkrieg mit ihrer ehemaligen Partei. Am 14. Dezember will sie sich für weitere vier Jahre in die Landesregierung wählen lassen. Jetzt erst recht.

Ihre BDP, ein Derivat der SVP, sieht sich nach den Parlamentswahlen im Hoch. Auch die Grünliberalen kann sie dank ihrem Ja zum Atomausstieg auf ihrer Haben-Seite verbuchen. Bleibt ihr auch die SP treu, wird es eng für die SVP, die einen zweiten Sitz im Bundesrat anstrebt, oder die FDP, die ihre beiden Magistraten über die nächste Legislatur retten will.

Ein Kampf mit offenem Ausgang. Doch auch mit neu neun Nationalratssitzen und 5,4 Prozent Wähleranteil ist Widmer-Schlumpf Vertreterin einer Bonsaipartei, die in der Landesregierung faktisch nichts zu suchen hat. Der Anspruch auf einen Bundesratssitz zeugt von sonderbarer Arithmetik der Finanzministerin: Die fünfmal kleinere BDP soll im Bundesrat gleich stark vertreten sein wie die SVP. Die Konkordanz, Chiffre für Systemstabilität und Berechenbarkeit, droht am Ehrgeiz einer jungen Splitterpartei und ihrer wichtigsten Exponentin zu zerbrechen.

Verführerische Nullen. Nicht nur als Politikerin bricht sie mit Traditionen, auch als Finanzministerin. Kaspar Villiger baute die Schuldenbremse ein, die Einnahmen und Ausgaben über die Jahre im Gleichgewicht hält. Nachfolger Hans-Rudolf Merz senkte die Unternehmens- und Einkommenssteuern und trug Bundesschulden ab. Chronisch schwarzmalen und am Schluss mit einem Überschuss triumphieren, so lautete die Merz-Doktrin.

Die Widmer-Doktrin: Geld ausgeben, solange es vorhanden ist – und darüber hinaus. Sie gefällt sich in der Rolle einer Keynesianerin, die selbst bei tiefer Arbeitslosigkeit und anständigem Wirtschaftswachstum ein Konjunkturprogramm auflegen will. Anfänglich war von einem prognostizierten Defizit von 600 Millionen Franken für 2011 die Rede. Die «unerwartet gute Wirtschaftslage» verwandelte die Ausgabenlücke in einen Überschuss von 2,5 Milliarden Franken.

Die angekündigten Nullen wirkten verführerisch: Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann und Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf plädierten im Sommer für eine Zwei-Milliarden-Hilfe, die auf die Export- und Tourismusindustrie niedergehen sollte. Ursprünglich war das Paket auf 1,5 Milliarden Franken ausgelegt, doch hinter den Kulissen sicherte sich Verkehrsministerin Doris Leuthard weitere 500 Millionen für ihre Anliegen. Politökonomie im Wahljahr 2011: Jeder darf seine Klientel mit Hunderten Millionen Franken aus der Bundeskasse bedienen.

Was Ökonomen längst über Konjunkturpakete wissen: Es dauert zwei Jahre, bis sie greifen – meist ist die Krise dann vorbei. Selbst die angepeilten Wirtschaftsverbände und Unternehmer wollten nach kurzer Bedenkzeit vom Milliardenpräsent nichts wissen und plädierten stattdessen für Steuersenkungen. Worauf das federführende Duo Widmer-Schlumpf/Schneider-Ammann den Rückwärtsgang einlegte und eine neue Avance lancierte. Dann halt 870 Millionen Franken.

Grandios hingegen war – selbst Widmer-Kritiker sind beeindruckt –, mit welcher Souplesse sich die Finanzministerin im Spendierrock aus der peinlichen Affäre zog. Nichts blieb an ihr hängen, alles dagegen am Wirtschaftsminister, der seither in Unternehmerkreisen fast schon mitleidig belächelt wird. Naivität ist das Letzte, was man der Bündnerin unterstellen kann.

Widmer-Schlumpf gibt den Anti-Merz. Als ihr der Sparer aus dem Appenzellerland bei der Amtsübergabe Ende Oktober 2010 ein Sparschwein so gross wie ein Zweipfünder ans Herz drückte, strahlten beide in die Kamera. Noch heute steht das Präsent mit der Inschrift «Für gute und für schlechte Tage» auf ihrem Büchergestell, direkt in ihrem Blickfeld.

Doch Symbol ihrer Finanzpolitik ist das Sparschwein nicht. Das wusste auch Merz: Er kämpfte im Mai 2004 mit dem Steuerpaket für die Entlastung der Bundeskasse. Widmer-Schlumpf, damals Finanzchefin im chronischen Subventionsbezüger-Kanton Graubünden und Präsidentin der Finanzdirektorenkonferenz, hielt dagegen.

Zum Bruch kam es auch in der Energiepolitik, Folgen unbekannt. Der diesen Frühling beschlossene Atomausstieg, bei dem Widmer-Schlumpf an vorderster Front mitwirkte, wird die Volkswirtschaft noch teuer zu stehen kommen. Offiziell schätzt der Bund die Kosten auf 2,5 Milliarden im Jahr, was 0,4 bis 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts bedeutet. Doch der Atomausstieg generiert Folgekosten: beim Ausbau der Netzinfrastruktur, bei Speicher- und Produktionskapazitäten, durch Preiserhöhungen auf sämtlichen Energieträgern, durch Verlagerung von energieintensiven Branchen und Betrieben ins Ausland. «Die volkswirtschaftlichen Kosten dürften ein Vielfaches des ausgewiesenen Betrages pro Jahr ausmachen», prognostiziert der Wirtschaftsverband Economiesuisse.

Spendierfreude, Atomausstieg: Widmer-Schlumpf deswegen als Wendehals zu beschreiben, wie es die SVP gerne tut, ist billige Polemik. Wahr ist vielmehr: Die SVP-Finanzpolitikerin war gar nie eine Sparerin, die Senkung der Staats- und der Fiskalquote nie ihre Priorität. Als Bündner Regierungsrätin erhöhte sie lieber die Steuern als die Ausgabendisziplin. 2003 drohte dem strukturschwachen Bergkanton ein 75-Millionen-Rekorddefizit. Überraschend war die Schieflage nicht. «Obwohl die Horrordefizite seit Jahren absehbar waren, hat man weiter drauflosgewurstelt», kommentierte die «Südostschweiz» damals. Eine sorgfältige Finanzplanung sieht anders aus.

Zum Glück gezwungen. Trotz drohendem «Horrordefizit» stemmte sich die kantonale Finanzdirektorin mit aller Kraft gegen eine Sparübung. Stattdessen forderte sie im Stil einer SP-Politikerin eine Steuererhöhung um zehn Prozent und drohte den Bürgerlichen im Kantonsrat: «Ohne die jährlichen Mehreinnahmen müssten die Ausgaben in Zukunft massiv gekürzt werden, was zu einem wesentlichen Leistungs- und Personalabbau führen wird.»

Leistungs- und Personalabau? Auf Druck des Parlaments – inklusive ihrer eigenen SVP – musste die erste Regierungsrätin des Kantons das umfangreichste Sparpaket in der Geschichte schnüren. Die Sparübung, die man ihr aufs Auge drückte, habe sie anschliessend pflichtgetreu und präzise umgesetzt, erinnern sich damalige Ratsmitglieder.

Die von unten verordnete Medizin wirkte. Vier Jahre später legte die Finanzdirektorin einen Ertragsüberschuss von 120 Millionen Franken vor. Doch für eine Steuersenkung war sie deshalb noch lange nicht zu haben – weil sie eine solche schlicht für wirkungslos hielt. Der Konsum der Steuerzahler würde nicht angekurbelt, bloss die Sparquote erhöht, lehrmeisterte sie. Und weiter: «Der drohende Verlust an Steuersubstrat könnte nur durch ein enormes Wachstum ausgeglichen werden.» Folgerichtig bekämpfte sie als Präsidentin der Konferenz der Finanzdirektoren das Steuerpaket von Finanzminister Merz – wiederum gegen den Willen ihrer SVP.

Auch eine Befürworterin von Atomenergie war sie nie, wie ihre Gegner nun gerne behaupten. Vielmehr war die Bundesratstochter zeitlebens eine Exponentin der «Rosa-Granit-Fraktion» – sozialpolitisch liberal, den Interessen des Bergkantons verpflichtet. Dessen Exportschlager ist die Wasserkraft, die ein Fünftel der Wasserenergie des Landes abdeckt. Kurz nach ihrem Amtsantritt als Bunderätin sagte sie, damals noch SVP-Mitglied: «Bevor zusätzliche Atomkraftwerke gebaut werden, sind alle Alternativen zu überprüfen.» Am liebsten mit Investitionen der Energiekonzerne in ihrem Kanton.

Das Atomunglück von Fukushima ist für sie eine glückliche Fügung. Der unter Federführung von Doris Leuthard beschlossene Atomausstieg sichert ihr Stimmen aus dem Öko-Lager, allen voran bei den aufstrebenden Grünliberalen. Parteipräsident Martin Bäumle forderte die FDP bereits zum Verzicht auf den zweiten Bundesratssitz. «Wegen des Atomausstiegs hat Eveline Widmer-Schlumpf bei mir eher bessere Karten.»

Flucht aus dem EJPD. Die zielgerichtete Politikerin weiss die Gunst der Stunde zu nutzen und legt demnächst nach – mit einer ökologischen Steuerreform. Seit geraumer Zeit pendent, will sie das «revolutionäre» (Widmer-Schlumpf) Projekt just vor dem entscheidenden Dezember in den Bundesrat und in die Öffentlichkeit tragen. Das Timing ist perfekt, der Plan im Trend: unökologische Steuerabzüge streichen und im Gegenzug Energieeffizienz, Solarzellen und Gebäudesanierungen subventionieren. Der Applaus ihrer Peer Group ist ihr gewiss.

Vollends in Vergessenheit gerät bei so viel Verzückung ihr abrupter Wechsel ins Finanzdepartement, mit dem sie SP-Frau Simonetta Sommaruga 2010 ins ungeliebte Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) abdrängte, was bei den Sozialdemokraten zeitweilig das Gefühl aufkommen liess, Widmer-Schlumpf habe den linken Support bei ihrer Wahl zur Bundesrätin mit Undank quittiert. Doch in der dreijährigen Amtszeit im EJPD hat sie vor allem mit einer untauglichen Reorganisation und einer Kündigungswelle im Bundesamt für Migration für zweifelhafte Schlagzeilen gesorgt. Für sie war es höchste Zeit für einen Abgang.

Mit dem Wechsel ins Finanzdepartement kehrte die Bündnerin auf vertrautes Terrain zurück. Zahlen und Finanzrechnungen sind zweifellos ihre Welt. Am 20. September 2008, als Finanzminister Merz einen Herzstillstand erlitt, arbeitete sie sich als seine Stellvertreterin über Nacht in die komplexe, aber längst konzipierte UBS-Rettung ein, um anderntags die Dossierführung zu übernehmen.

Fachlich und operativ brilliert sie, strategisch ist auch nach einem Jahr im Finanzdepartement kein roter Faden zu erkennen, bemängeln diverse Kritiker. «Unberechenbar» sei sie, heisst es in Wirtschaftskreisen. Weitere orakeln über ihre Finanzstrategie. Locker wischte sie das jüngste, vom Vorgänger aufgegleiste Sparpaket vom Pult. «Die Gründe für die Sparmassnahmen sind weggefallen», gab sie im März im Parlament zum Besten und verwies auf die konjunkturelle Erholung 2010. Prompt lockerte das Parlament die Sparschraube. In der Folge steigen die Ausgaben im Budget 2012 flächendeckend: Entwicklungszusammenarbeit plus 8,9 Prozent, Bildung und Forschung plus 5,6 Prozent, Verkehr plus 4,7 Prozent, soziale Wohlfahrt plus 2,9 Prozent. Für 2012 bis 2014 erwartet die von Optimismus beseelte Finanzministerin trotzdem ausgeglichene Ergebnisse.

Rollenprobleme. Ihre Meisterprüfung folgt nach einer Wiederwahl allerdings eher früher als später. Angesichts der flauen Wirtschaftsprognosen wird sie schon bald den Rotstift ansetzen müssen. Ein Sparpaket ohne ernsthafte Hausmacht im Parlament durchzupauken, dürfte aber selbst für die ausgebuffte Taktikerin schwierig werden.

Im Gespräch sagt sie: «Sie werden mir jetzt sicher sagen, dass Sie das nicht glauben, weil ich angeblich ja so etatistisch bin.» Weit daneben ist das nicht. Die Kinderbetreuungsverordnung, die eine staatliche Bewilligung zur Kinderbetreuung selbst durch Tanten und Grossmütter verlangte und bei Verstoss Bussen bis 5000 Franken vorsah, ist nur das krasseste Beispiel aus ihrer Zeit als Justizministerin. Der Anstoss für ihr «Eidg.-dipl.-Grosi-Projekt» kam aus dem SP-Frauenlager. Es zeigt auch, dass Widmer-Schlumpf mangels eigener Hausmacht anfällig ist für Begehrlichkeiten potenzieller Verbündeter.

Supporter hat sie aber nicht nur in Bern – die alten Seilschaften weisen in die Kantone. Mit dem Solothurner Finanzdirektor Christian Wanner, ihrem Nachfolger als Präsident der Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren, kann sie es gut. «Sie weiss, dass sie in den Dossiers immer die Oberhand hat. Deshalb hat sie auch keine Angst, kämpferisch aufzutreten», lobt Wanner. Widmer-Schlumpf ist eine Bottom-up-Vertreterin geblieben, die vom Kleinen zum Grossen geht. Erst kommt der Kanton, dann der Bund. «Manchmal weiss ich nicht, ob vor mir die Finanzministerin des Bundes steht oder eine Kantonsvertreterin», sagt ein Ständerat aus der einflussreichen Wirtschaftskommission WAK, wo die Ministerin regelmässig auftritt.

Ihrer Connection in Aarau, Chur und Solothurn ist es wohl zu verdanken, dass die kantonalen Finanzdirektoren nach dem Ausfall der Nationalbank-Ausschüttungen nicht lauter aufbegehrten. SNB-Präsident Philipp Hildebrand weiss den Support ihrer Vertrauten im «Bernerhof» zu schätzen. Sie kennen sich seit 2004, als Widmer-Schlumpf als Kantonsvertreterin in den SNB-Bankrat gewählt wurde. Regelmässig gehen die beiden zum Mittagessen. Auch beim «Too big to fail»-Dossier spielte die Achse Hildebrand–Widmer-Schlumpf perfekt. Beide wussten, dass das Zeitfenster, um ein griffiges Regelwerk durchzusetzen, schmal sein würde. Tempo Teufel gelang es ihnen, das weltweit strengste Bankgesetz durch die Gremien zu drücken.

Der Kritik des damaligen UBS-Chefs Oswald Grübel an den hohen Eigenmittelvorschriften hielt sie entgegen: «Im Gegensatz zur CS erinnert sich die UBS offenbar nicht mehr daran, dass sie selbst in der Expertenkommission vertreten war und dem Bericht zustimmte.» Mit dem Abgang von Grübel ist der letzte offene Kritiker aus der Bankenwelt verstummt. Ihr Regulierungseifer könnte indes für die Banken zum Bumerang werden. Die Ratingagentur Fitch stufte die Kreditwürdigkeit der UBS aufgrund der verschärften Eigenmittelvorschriften zurück.

Alles kein Problem, beschwichtigt die Finanzministerin, die in eine zweite Runde will: «Eine glaubwürdige Aufsicht und dem Risiko angemessene Vorschriften stärken die Banken und den Finanzplatz Schweiz.»