BILANZ: Herr Decorvet, Ende Mai haben Sie Ihren Topjob bei Nestlé an den Nagel gehängt, um auf einem Spitalschiff von Mercy Ships vor der Küste Afrikas Freiwilligenarbeit zu leisten. Wie haben Ihre Managerkollegen reagiert?
Die Mitglieder der Generaldirektion waren nicht überrascht. Viele wussten, dass ich noch andere Werte habe ausser Geld und Macht. Und drei Verwaltungsräte haben mir sogar gesagt, dass ich jetzt das mache, was sie immer hätten machen wollen – und es doch nie wagten.

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Hat Sie keiner als Spinner bezeichnet?
Nur zwei Personen. Das Wort «Spinner» haben sie aber nicht benutzt, schliesslich sind sie höflich. Sie zeigten einfach wenig Verständnis, gaben mir zu verstehen, dass ich die Karriereleiter noch weiter hätte hochklettern können. Es ist gut, solche Leute zu überraschen. Und für mich ist wichtig, meinen Töchtern zu zeigen, dass es auch ethische Werte gibt.

Sie haben mal gesagt, dass Nestlé die beste Entwicklungsorganisationsei. Haben Sie inzwischen Ihre Meinung geändert?
Persönlich hatte ich das Gefühl, viel gemacht zu haben. Doch ich war nur Chef von Nestlé China, nicht vom globalen Konzern. Meine Macht war begrenzt. Ich denke, insgesamt hätte man noch mehr tun können. Aber ich bin grundsätzlich weiterhin der Überzeugung, dass die beste Hilfe für Entwicklungsländer in Investitionen von Privaten besteht – und nicht in der reinen Entwicklungshilfe. Falls Europa Afrika wirklich helfen will, dann muss es nicht die Entwicklungsgelder auf 0,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens erhöhen, sondern seine Grenzen öffnen. Die afrikanischen Bauern müssen endlich ihre Agrargüter ohne Zollschranken exportieren können.

Überkamen Sie nach Ihrem Abgang bei Nestlé nie Zweifel?
Nein – im Gegenteil: Ich frage mich eher, wieso ich das nicht schon früher gemacht habe. Ich fühle mich etwas stolzer, etwas besser, wenn ich jetzt mit Menschen spreche, die dank einer Augenoperation auf unserem Spitalschiff wieder sehen können. Die Frage ist jetzt, ob ich wirklich nur, wie ursprünglich geplant, ein Jahr bleibe – oder länger.

Was sagt Ihre Familie dazu? Immerhin müssen Sie sich zu sechst eine Schiffskabine von 60 Quadratmetern teilen.
Unsere Kabine ist tatsächlich etwa so gross wie früher unsere Garage. Das Problem ist aber nicht der Platz, sondern die kleine Dusche, in der ich mich kaum bewegen kann. Sie können sich vorstellen: fünf Frauen und eine kleine Dusche. Das ist nicht einfach. Zudem darf jeder wegen der Wasserrestriktionen auf dem Schiff nur zwei Minuten pro Tag duschen.

Sie sind weder Arzt noch Steuermann noch Mechaniker. Was tun Sie denn auf dem Schiff als geschäftsführender Direktor?
Es ist mehr als ein Schiff. Es hat neben dem Kapitän und seiner Crew ein Spital mit 82 Betten und fünf Operationssälen, es hat ein Hotel mit 450 Betten für die Besatzung, es hat ein Restaurant, das 1600 Mahlzeiten pro Tag macht, es hat eine Bank, eine Post, einen Coiffeur. Wir haben auch jeweils eine Mannschaft an Land, die Spitäler aufbaut, wohin die Patienten nach der Operation zur Kontrolle gehen können. Das ist eine grosse Organisation – zwar kleiner als Nestlé, aber nicht weniger komplex.

Das Schiff fährt jeweils nach rund zehn Monaten weiter. Ist das denn nachhaltig?
Für den Patienten sicher. Nach gelungener Augenoperation kann er wieder sehen. Aber wir operieren nicht nur, sondern wir bilden auch Menschen aus – als Krankenschwestern zum Beispiel. Aber hier können wir noch mehr tun, das will ich ausbauen. Zudem sind wir daran, ein zweites Schiff zu bauen, das anderthalbmal so gross sein wird wie die «Africa Mercy» und 2017 ins Meer stechen wird.

Wie wählen Sie dann auf dem Schiff die Patienten aus?
Bei unserer Ankunft machen wir zusammen mit der jeweiligen Regierung eine Werbekampagne, um den Menschen zu sagen, was sie bei uns behandeln lassen können. Wir bieten nur sechs Typen von Operationen an: für Augen, Zähne, Tumore, für gynäkologische Krankheiten, für orthopädische Probleme wie verdrehte Füsse sowie Eingriffe der plastischen Chirurgie, um zum Beispiel Verbrennungen zu beheben. Das ist doch sinnvoller, als Hollywood-Schauspielerinnen zu verjüngen.

Für die Patienten ist alles gratis. Woher kommt das Geld?
Von Spenden von Privaten. Es gibt aber vor allem in den USA auch Firmen, die medizinische Apparaturen oder Hilfsmittel sponsern. Wir brauchen aber mehr Freiwillige. Jetzt suchen wir zum Beispiel dringend einen Klempner und eine Coiffeuse. Denn ohne Coiffeuse sehen die Afrikaner nach einem Jahr aus wie Mitglieder von Boney M. und die Europäer wie im Jahr 1968.

Finden Sie denn eine Coiffeuse, die ein Jahr auf dem Schiff bleiben und keinen Rappen verdienen will?
Sie muss ja nicht ein Jahr bleiben, mindestens aber drei Monate. Für die Ärzte ist die Mindestaufenthaltsdauer zwei Wochen. Dann müssen viele zurück in ihre Spitäler.

Hinter Mercy Ships steht die missionarische Organisation Jugend mit einer Mission.
Das stimmt nicht. Richtig ist, dass Mercy Ships 1978 in Lausanne von Personen gegründet wurde, die zur Jugend mit einer Mission gehörten. Seit 2003 ist Mercy Ships unabhängig. Es ist eine christliche Organisation, aber es ist keine missionarische Organisation. Ich kenne den Unterschied, denn ich bin in Afrika unter Missionaren aufgewachsen. Mein Vater war Missionar.

Gibt es denn auch nichtgläubige Freiwillige auf dem Schiff?
Wer als Freiwilliger kommt, wird nicht gefragt, ob und wie er getauft wurde. Aber es ist klar: Wer für mehrere Jahre auf dem Schiff bleibt, für den ist es einfacher, gläubig zu sein. Schliesslich leben wir in einer Gemeinschaft. Es gibt keine Kapelle, aber wir organisieren eine Predigt jede Woche.

Was ist mit den Patienten? Sollten sie Christen sein?
Sicher nicht. Christen lieben ihren Nächsten – egal, welcher Religion er angehört. Das Schiff war vor einem Jahr in Guinea, wo 90 Prozent der Bevölkerung Muslime sind. Es geht nicht darum, Menschen vom Christentum zu überzeugen, sondern zu heilen. Aber man muss seinen Glauben auch nicht verstecken. Man darf dazu stehen und zum Beispiel Geschichten aus der Bibel erzählen.

Was werden Sie nach dem Schiff machen?
Ich würde gerne selber eine Firma leiten – ohne den Zwang, einem CEO zu rapportieren.

Sind die Türen von Nestlé jetzt für immer verschlossen?
Ich glaube nicht. Aber ich habe Lust, etwas anderes zu tun.

Gibt es Branchen, die für Sie nicht in Frage kommen?
Die Tabak- und die Alkoholindustrie. Das interessiert mich nicht. Aber ehrlich gesagt: Ich habe derzeit wirklich keine Ahnung. Ich brauche jetzt die Auszeit. Die Headhunter können mich dann in sechs Monaten kontaktieren.

Sie leben und lebten viel im Ausland. Interessieren Sie sich eigentlich noch für die Schweiz, für die schweizerische Politik?
Sicher. Dank iPad und Wi-Fi kann ich auf dem Schiff auch die Zeitungen lesen.

Was denken Sie über das Ja zur SVP-Zuwanderungsinitiative vom 9. Februar?
Das hat mich traurig gemacht. Natürlich gibt es Probleme mit einer nicht kontrollierten Einwanderung, natürlich hat die Sicherheit abgenommen im Vergleich zu den Verhältnissen vor zwanzig Jahren. Aber die Initiative tut nichts zur Lösung. Dafür müsste man eher das Strafrecht revidieren. Offenbar bereitet es einigen Deutschschweizern Mühe, dass es viele Deutsche gibt in den Spitälern. Aber die Zuwanderung von Deutschen zu verbieten, ist doch verrückt.

Wo stehen Sie politisch?
Ich stehe eher rechts. Aber ich gehöre zu einer Rechten, die sozial und fair ist. Was mich am meisten schockiert an dieser Zuwanderungsinitiative, ist ihr selbstmörderischer Geist. Die Schweiz verdankt ihren Reichtum und ihren Erfolg ihrer Offenheit und ihren Freiheiten, ihrem Wirtschaftssystem. Aber es gibt offenbar Menschen in der Schweiz, die glauben, dass es in der Bibel ein elftes Gebot gibt: «Die Schweiz wird immer reich sein.» Ich schätze die direkte Demokratie, aber die Volksrechte werden heute oft missbraucht. Es wäre wohl an der Zeit, die Zahl der geforderten Unterschriften zu erhöhen.

Statt die Volksrechte zu revidieren: Wäre es nicht wichtiger, dass die Wirtschaftselite wieder glaubwürdiger wird?
Leider gibt es ein paar Extremisten, die vom System profitieren, wie ein ehemaliger Chef eines Basler Pharmakonzerns oder einige Banker, die in einer anderen Welt leben. Jedenfalls leben sie nicht in meiner Welt. Nur wegen dieser wenigen Personen werden neue Regeln aufgestellt, wie mit der Minder-Initiative. Damit gefährden wir unseren Wirtschaftsstandort. Wir würden besser Regeln gegen die Extreme aufstellen.

Das heisst?
Zum Beispiel: Falls ein Unternehmen Verluste schreibt, sollten die Chefs keinen Bonus erhalten. Das scheint mir logisch. Es ist inakzeptabel, dass die Chefs mit Millionen-Abgangsentschädigungen entlassen werden, wenn die Firma rote Zahlen schreibt.

Ist es nicht etwas einfach, alles auf ein paar extreme Beispiele abzuschieben?
Ich hasse die Extreme. Es gibt in den Augen vieler nur die zwei Pole: den blutrünstigen Wirtschaftshai oder den kommunistischen Hippie in einer Nichtregierungsorganisation. Ein Beispiel: Ich war Nestlé-Chef in Pakistan, als sich im Oktober 2005 das schreckliche Erdbeben mit 80 000 Toten in Kaschmir ereignete. Wir haben von Nestlé sofort zehn Lastwagen mit Hilfsgütern gefüllt, 24 Stunden später waren wir vor Ort – vor allen Hilfswerken. Sechs Monate später hat der Schweizer Botschafter in Pakistan alle am Wiederaufbau beteiligten Hilfswerke eingeladen – sowie mich. Nachdem wir alle reihum geschildert hatten, was wir dort gemacht haben, kam ein Hilfswerkvertreter auf mich zu und fragte: «Was war denn Ihre wahre Motivation für die Hilfe?» Ich hätte am liebsten laut geflucht.

Sie haben sich als Nestlé-Schweiz-Chef 2009 nicht nur Freunde in der Wirtschaftswelt gemacht, als Sie öffentlich bekanntgaben, dass Sie mit Bonus rund 550 000 Franken verdienten.
Nein, natürlich nicht. Ich will aufzeigen, dass die Wirtschaft nicht nur aus Drittweltläden und aus skrupellosen kapitalistischen Konzernen besteht. 90 Prozent liegen dazwischen. Das Ziel kann sehr wohl lauten, Gewinn zu machen. Die zentrale Frage dabei ist, wie und zu welchem Preis. Aber vielleicht bin ich ein Träumer.