Wo war ich gestern, wo bin ich heute? Reto Wilhelm kennt die kleinen Aussetzer, die viel reisende Manager morgens beim Aufwachen in irgendeinem Hotelzimmer heimsuchen, wenn der Griff zum Wecker ins Leere geht. Eine Schrecksekunde dauert es, bis der Kopf umgeschaltet hat, dann kann es wieder losgehen.

Als Verantwortlicher für Kontinentaleuropa, Asien und Destination Management beim Reisekonzern Kuoni bewegt er sich durch Zeitzonen wie andere durch Vorortszüge. Einmal pro Monat nimmt er Kurs auf China, alle zwei Monate geht es nach Indien, dazwischen in die USA, regelmässig nach Frankreich, Italien und Holland, und seit neuestem reisst er mit seinem Team in Russland und im Nahen Osten Geschäfte an. Hier ein Office eröffnen, dort eine Akquisition tätigen, da eine Opportunity prüfen. Dass er zwei Drittel seiner Arbeitszeit auf Achse ist, geht mit seinem Führungsverständnis einher: «Ich gewinne einen besseren Eindruck von den Mitarbeitern und den lokalen Verhältnissen, wenn ich sie besuche, als wenn ich sie hierher kommen lasse.» Voraussetzung, dass die Führung auf Distanz funktioniere, seien Menschenkenntnis, Vertrauen und die strikte Trennung zwischen seiner Funktion als Mitglied der Konzernleitung und der Rolle der Länderchefs.

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Bei Kuoni heisst es, Wilhelm brauche die Reiserei, was er nicht bestreiten will. «Mir wird es schnell langweilig im Büro», sagt der Mann, der sein Studium an der Universität St. Gallen als Flight Attendant bei der früheren Swissair verdiente. Tatsächlich wirkt er mit seinem unprätentiösen Auftreten etwas verloren in dem tanzsaalgrossen Eckbüro am Kuoni-Hauptsitz mit dem schweren Mobiliar, das er vom früheren Präsidenten Daniel Affolter übernommen hat. Seine wahre Schaltzentrale ist der Blackberry, ein Mobilgerät von der Grösse einer Handfläche, das praktisch mit ihm verwachsen ist. Dank ihm steht Wilhelm rund um die Uhr per E-Mail oder Telefon in Kontakt mit den Länderchefs. Weil ihm der Rufton lästig geworden ist, hat er das Gerät auf lautlos gestellt. Aber online ist es immer, denn die auf dem Globus verstreuten Kuoni-Kader halten sich nicht an die Schweizer Zeit. Wenn Asien zu Bett geht, steht Europa auf, und wenn in Europa die Lichter erlöschen, erwacht Amerika. «Ich habe einen 7/24-Job», sagt Wilhelm, als kenne er das Wort Feierabend gar nicht. Die ständige Erreichbarkeit habe den Vorteil, dass er seine Pendenzen laufend abarbeiten könne. Ein Sekretariat hat er nicht.

Und der Nachteil? Warum fordert man sich ein Leben zwischen Business Class, Sitzungszimmer und Hotellobby ab? «Im normalen Mass ist es spannend, im Übermass nicht», räumt Wilhelm ein. Belastend sei es etwa gewesen, als er bei der ehemaligen Swissair, wo er vor dem Grounding das Nord- und Südamerikageschäft leitete, im Wochenrhythmus zwischen Zürich, Brüssel und New York pendeln musste. Heute findet er es manchmal anstrengend, wenn er, von Asien kommend, mit einer Pause von lediglich ein, zwei Tagen nach Kalifornien weiterjetten muss. Immerhin lässt sich das Fliegen für ein paar Stunden Tiefschlaf nutzen. Den Jetlag bekämpft der 44-Jährige mit Sport, aber mit Triathlon betreibt er auch hier eine Hochleistungsdisziplin. Obschon er in keiner Weise gestresst wirkt, muss er doch irgendwann zur Ruhe kommen, abspannen. Tatsächlich war Wilhelm über Ostern in den Ferien. In Indien – zum ersten Mal nicht als Geschäftsreisender, sondern als Tourist.