Reto Roffler war 16 Jahre jung, als er sich seine erste Masshose leistete. Mit exakten Strichen zeichnete er auf, wie sie aussehen sollte: hoher Bund, weite Bundfalten, enge Fussweite. Die Hose kam komplett anders heraus als geplant, aber Roffler getraute sich nicht zu reklamieren. Er zahlte dem Schneider 400 Franken und versorgte das Stück im Schrank.

Dieses Erlebnis bestimmt Rofflers berufliche Laufbahn bis heute. Fortan war er getrieben von der Idee, «den richtigen Weg zwischen gutem Geschmack und sturer Schneiderei» zu finden. Nach der Handelsmatur stieg er in die Textilbranche ein, arbeitete beim legendären Zürcher Modeladen Casablanca und nutzte seine Beziehungen zu Schneidern, Textilfabrikanten und Kunden, um sich als Anbieter von Masskleidern selbständig zu machen. Das war vor 25 Jahren.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Noch heute gehört Roffler zu den wenigen Anbietern von Feinmassanzügen in der Schweiz, zur Topliga des Handwerks. In seinem Atelier «Reto’s» in der Zürcher Altstadt lassen sich Industrielle, Banker, Galeristen und Anwälte ihre Garderobe auf den Leib schneidern. Das gediegene Ambiente – rote Wände, blaues Sofa, dezente Beleuchtung – kontrastiert auffällig mit den engen Umkleidekabinen, die der Fachhandel seiner Klientel bereitstellt. Vor drei Jahren übernahm Reto Roffler ausserdem das im Jahr 1895 gegründete Traditionshaus Frenzer Tailor in der Nähe des Paradeplatzes, das viele Banker aus den umliegenden Geldhäusern mit Outfits versorgt.

Geduldsprobe. Bei Roffler gibt es keine hängenden Schultern und zu weite Kragenöffnungen, kein Zwicken unter dem Arm und Schlottern ums Gesäss. Der Firmeninhaber mit seinem geschulten Auge für Körperhaltung und Anatomie vermisst jeden Kunden persönlich, erarbeitet mit ihm Passform und Proportionen. Im firmeneigenen Schneideratelier in Zürich entsteht dann in 30 bis 60 Stunden ein handgenähter Anzug. Mindestens zwei Anproben und sechs bis acht Wochen sind nötig für den idealen Look. Bei der ersten Probe ist noch alles geheftet, damit noch Korrekturen möglich sind. Selbst nach der dritten Anprobe, der sogenannten Ärmelprobe, können noch Änderungen vorgenommen werden.

Wer sich ein Einzelstück anfertigen lassen will, muss nicht nur Zeit mitbringen, sondern auch Geld. Bei Reto Roffler liegen die Einstiegspreise bei 4500 Franken für einen Anzug und bei 280 Franken für ein Hemd. Die Skala ist nach oben offen. Der teuerste Anzug, der jemals Rofflers Atelier in Zürich verliess, kostete 25  000 Franken – er ging an einen Schweizer Industriellen.

Es sind weniger die persönlichen Extravaganzen wie ein geblümtes Innenfutter aus Seide oder farbig eingefasste Knopflöcher als vor allem die Stoffe, welche die Kosten in die Höhe treiben. Tausende von Tüchern der renommiertesten Webereien stehen zur Auswahl, eines edler als das andere. Vicuña heisst eine der neueren textilen Preziosen, sie ist noch feiner, noch leichter und noch teurer als Kaschmir. Edelweber wie Loro Piana haben begonnen, das kleine Vicuña-Lama mit seinem begehrten Haarkleid in den Anden zu züchten. Wer sich ein Vicuña-Outfit machen lässt, erhält mit dem Anzug noch ein Zertifikat.

Mass ist allerdings nicht gleich Mass. Neben der Feinmass-Schneiderei, die wie Roffler von einer ausgesprochen gutbetuchten Klientel lebt, ist in den letzten Jahren ein günstigeres Segment entstanden, das sich zu einer Erfolgsgeschichte im sonst rückläufigen Herrenbekleidungsmarkt entwickelt hat: die Masskonfektion, eine Mischform zwischen Feinmass und Konfektion.

Ali Aboul-Aroudh von Triple AAA in Thalwil, der beides verkauft, sieht eine Verlagerung vom einen zum anderen Angebot: «Vielen Kunden sind Aufwand und Kosten für einen Feinmassanzug schlicht zu gross.» Bei Masskonfektion reduziert sich der Aufwand beträchtlich: Ist der Kunde einmal vermessen und sind die Daten erfasst, braucht er künftig nur noch Details wie Stoff oder Knöpfe zu wählen, um nach einer Frist von etwa drei Wochen einen Anzug seiner Wahl in Empfang zu nehmen.

Hohe Ansprüche. Die Unterschiede sind aber auch qualitativ und preislich markant. Echte Masskleidung muss exakte Anforderungen erfüllen: Sie muss nach einem persönlichen Schnittmuster von ausgebildeten Schneidern von Hand gefertigt werden. Die Einlagen, die dem Kleidungsstück die Form geben, dürfen nicht verklebt sein, sondern müssen mit dem Oberstoff vernäht werden, wodurch sich Tragekomfort und Griff verbessern. Bei Masskonfektion dagegen werden bereits bestehende Grundschnitte an verschiedenen Punkten an die Masse des Kunden angepasst, dann wird das Kleidungsstück industriell gefertigt. Im Gegensatz zu Feinmass gibt es bei Masskonfektion meistens keine Anprobe. Der Anzug wird fertig geliefert, allenfalls können am Schluss noch Änderungen vorgenommen werden. «Masskonfektion hat ihre Berechtigung, aber sie hat nichts mit Schneiderei zu tun», sagt Reto Roffler. Werden Massanzüge für weniger als 4000 Franken angeboten, stammen sie mit Sicherheit aus industrieller Fertigung.

Während die Feinmassschneiderei eine jahrhundertealte Tradition aufweist, ist Masskonfektion ein relativ junger Geschäftszweig. Zu den ersten Masskonfektionären der Schweiz gehörte das Zürcher Unternehmen Al Ferano. Im Jahr 1992 gegründet, bezeichnet es sich heute mit 4500 Stammkunden als Marktführer im mittleren und oberen Segment. Die Berater empfangen ihre Kunden am Al-Ferano-Hauptsitz in Zürich oder gehen zu ihnen nach Hause, ins Büro oder ins Hotel. Im Herren Globus ist das Label in neun Filialen präsent.

Vor sechs Jahren hat der Marketingfachmann Reto Caprez das Unternehmen übernommen. «Wir stellen ein wachsendes Bedürfnis nach Individualität fest», sagt er, «viele Kunden haben die Eintönigkeit satt, die im Kleiderhandel herrscht. Sie schätzen persönliche Details – und wenn es nur ein Monogramm ist.» Al-Ferano-Anzüge beginnen preislich bei 1000 Franken, die grösste Nachfrage besteht bei Kleidungsstücken zwischen 1300 und 2500 Franken. Die Sartoriale-Linie, eine Mischung aus Feinmass und Masskonfektion, bei der wichtige Teile wie Ärmel oder Schultern von Hand genäht werden, kostet ab 2500 Franken.

Al Ferano führt als einziger Anbieter in der Schweiz die Pecora-Nera-Kollektion des italienischen Tuchfabrikanten Loro Piana. Die Wolle dieses seltenen schwarzen Schafes ist weich und wird naturfarben verarbeitet. Eine Neuheit ist auch ein Stoff mit UV-Blocker des italienischen Traditionshauses Ermenegildo Zegna: Das Textil fängt die Sonnenstrahlen ab und soll die Wärme um bis zu zehn Prozent reduzieren, was gerade bei dunklen Anzügen sommers den Wohlfühlfaktor erhöht.

Loro Piana, Zegna, Dormeuil, Scabal, Cerruti – um die Stoffkollektionen der führenden Webereien kommt kein Anbieter herum, egal, ob er Feinmass oder Masskonfektion verkauft. Abgesehen von einigen Exklusivitäten führen alle Anbieter praktisch die gleiche Stoffauswahl.

Auch Fuchs Fashion in Thalwil bietet eine eigene, feine Spezialität. Das Unternehmen führt neben den klassischen italienischen Stoffen Textilien der traditionsreichen britischen Weberei Holland & Sherry, die teilweise auf Webstühlen des frühen 19.  Jahrhunderts gefertigt werden. Für das wirklich grosse Portemonnaie bietet das Tuchhaus die Möglichkeit, kundeneigene Designs zu weben: Die Signature Collection ermöglicht es, den Namen oder eine andere Botschaft des Anzugträgers als Nadelstreifen einzuweben. Für einsolches Einzelstück muss man bereit sein, 10  000 Franken auszulegen.

Geringeres Risiko. Firmeninhaber Alexander Fuchs, ein gelernter Kaufmann, hat sein Unternehmen im Jahr 1997 gegründet und beschäftigt heute elf Mitarbeiterinnen. Der Schwerpunkt liegt auf Herrenmode, daneben gehört Fuchs zu den wenigen Anbietern, die sich ins Damensegment vorgewagt haben. Das Sortiment beschränkt sich auf klassische Businessuniformen wie Anzüge, Blusen und Kostüme.

Masskonfektion für Damen ist ein schwieriges Geschäft, zum einen, weil Frauen kurvenreichere Silhouetten haben als Männer, zum anderen, weil sie höhere Ansprüche an die Kleidung stellen und mehr Änderungen verlangen. Das Damensortiment ist denn auch rund zehn Prozent teurer.

Masskonfektion ist und bleibt ein Nischenmarkt in der Kleiderindustrie, aber einer, der dank der zunehmenden Nachfrage immer mehr Anbieter anlockt. Für den Händler liegen die Vorteile auf der Hand: Statt fertige Kleidungsstücke einzukaufen, muss er nur Stoffmuster vorrätig haben. Das Risiko, die falsche Mode geordert zu haben, entfällt. Und digitale Technik ermöglicht eine rasche Abwicklung der Bestellung.

Nadelstreifen aus Gold. Sogar etablierte Fachgeschäfte wie PKZ, Burger oder Grieder les Boutiques forcieren die Masskonfektion. Vor einem Jahr ist die Modekette Schild mit grossem Aufwand ins Geschäft eingestiegen, um dem «Megatrend Individualisierung» Rechnung zu tragen, wie der geschäftsführende Partner Stefan Portmann sagt. Entsprechend dem Markennamen, sind die Ansprüche hoch: Masskonfektion läuft unter dem Label Savile Row, in Anlehnung an die Strasse in London, in der die berühmtesten Herrenausstatter der Welt ansässig sind. Bereits bestehen Savile-Row-Lounges in Zürich, Bern, Basel und Luzern. Der Start verlief gemäss Portmann «sehr erfolgreich». Nach einem Jahr liegt der Umsatz bei einem tiefen einstelligen Millionenbetrag, für 2010 wird mehr als eine Verdoppelung angestrebt. Ein bisschen Goldgräberstimmung kommt nicht nur beim Management auf, auch zahlungskräftige Kunden dürfen, so sie wollen, daran teilhaben. Savile Row führt das edle Tuch Gold Treasure des belgischen Fabrikanten Scabal, dessen Nadelstreifen es in sich haben: Sie bestehen aus 22-karätigem Gold.