Seit bald drei Jahren ist hier in Europa und der Schweiz Krise. Besser: Krisen. Dennoch scheinen die herausfordernden Ereignisse für uns noch immer vor allem eines zu sein: Abnorme Phänomene, die hier nicht hingehören. Ausnahmeerscheinungen, die hoffentlich bald enden.

Sicher. Covid 19, der russische Krieg in der Ukraine, die drohende Rezession, die Erhöhung der Leitzinsen durch Zentral- und Notenbanken, nervöse Kapitalmärkte, der Klimawandel – ohne Zweifel historische Ereignisse. Und so prägen die Forderungen nach raschen und möglichst einfachen Lösungen zur Beendigung der Krisen den öffentlichen Diskurs und politische Entscheidungsfindungsprozesse in einer für Schweizer Verhältnisse ungewohnten Dimension. Die Vorstellung, dass Krise nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall sein könnte, scheint vielen auch nach bald drei Jahren völlig abwegig.

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Auf Ökonominnen und Ökonomen der Mikrofinanz-Industrie wirkt diese Beobachtung etwas sonderbar. Wir operieren in Regionen der Welt, wo «Krise» der Normalzustand ist. Entsprechend bemerkenswert mag es vielen Leuten hier erscheinen, dass die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, starke Resilienzen gegen alle möglichen Widrigkeiten entwickelt haben und erfolgreich wirtschaften. Deshalb kann sich ein Blick über den eigenen Tellerrand in Weltgegenden lohnen, die wir landläufig Entwicklungs- oder Schwellenländer nennen. Denn im Umgang mit Krisensituationen haben sie uns einiges voraus.

Lernen in der Krise – Krise lernen

Die Kleinst- und Kleinunternehmerinnen und -unternehmer, denen wir als Mikrofinanz-Dienstleister gemeinsam mit unseren Investorinnen und Partnern die Aufnahme von Mikrokrediten ermöglichen, haben inmitten von Krisen effiziente Strategien entwickelt. Und diese erlauben es ihnen, kreativ und innovativ zu handeln und sich neue Geschäftsfelder auch dann zu erschliessen, wenn die Bedingungen für positive Prognosen in ihren Ländern nicht ideal sind. Und sie tun dies, innerhalb von lokal sehr gut regulierten Mikrofinanzmärkten, meist mit Erfolg.

Krise muss nicht zwingend als Phänomen empfunden werden, das zu Blockaden oder zu Stillstand führt, wenn es nicht behoben werden kann.

Laut Weltbank zahlen über 98 Prozent ihre Kredite fristgerecht zurück. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie erfolgreich und gewinnbringend agieren.

Was können wir daraus lernen? Krise muss nicht zwingend als Phänomen empfunden werden, das zu Blockaden oder zu Stillstand führt, wenn es nicht behoben werden kann. Entwicklung und Wachstum in Krisensituationen sind möglich, wenn Innovations- und Schaffenskraft auf Infrastruktur trifft, die sie begünstigen.

Ein Beispiel: Bei der Vergabe der Kredite gelangen 98 Prozent der Mittel, die in unserem Fall von Enabling Qapital AG zur Verfügung gestellt werden, an die Kreditnehmenden. Mikro-finanzinstitute (MFI) vor Ort stellen gleichzeitig eine hohe Servicedienstleistung zur Verfügung: Beraterinnen und Berater begleiten die Kreditnehmenden und bilden sie in Finanzfragen aus.

So entwickeln Millionen von Kleinstunternehmerinnen- und unternehmer in weniger privilegierten Ländern ökonomische Fähigkeiten, die ihnen auf weiteren Entwicklungsstufen von grossem Nutzen sein können. Dabei hat die Aneignung von Wirtschaftskompetenz auch noch den positiven Nebeneffekt, dass sie zur politischen Stabilität einer Gesellschaft beiträgt. Denn betrügerische Machenschaften und Korruption haben es in aufgeklärten Gemeinschaften schwerer.

Über den Autor

Remo Oswald ist Managing Partner bei Enabling Qapital.

Ein weiteres wichtiges Learning der Mikrofinanz-Industrie betrifft den Umgang mit starren Mustern. So legt die Mikrofinanz-Industrie ein besonderes Augenmerk auf Frauen. Die Erfahrungen zeigen, dass sie in unseren Operationsgebieten die verlässlicheren und erfolgreicheren Geschäftsleute sind als Männer. Deshalb sind deutlich über die Hälfte der Bezügerinnen von Krediten aus Fonds von Enabling Qapital, aber auch von anderen Instituten, Frauen. Die Wertschätzung, die sie durch die Zusicherung eines Kleinkredits erfahren und die gesellschaftlichen Möglichkeiten, die sich ihnen als Unternehmerinnen erschliessen, sind bedeutend. Vor allem vor dem Hintergrund der oft starren patriarchalen Systeme, in denen diese Frauen leben.

Was können wir daraus lernen? Gemeinschaften sind, genauso wie darauf basierende Wirtschaftssysteme, plastische Gebilde. Sie sind gestaltbar, auch wenn sie sich in dogmatisch starren Rollen, Riten oder Schichten konstituieren. Es kann sich lohnen, Muster konsequent kritisch zu hinterfragen, um neue Wege zu gehen.

Ein weiteres Beispiel dazu: In Küchen südlich der Sahara kochen 90 Prozent der Menschen auf offenem Feuer. Da die Frauen durch die Organisation von Brennholz aber viel Zeit verlieren, bleibt dadurch ihr wichtiges ökonomisches Potenzial ungenutzt. Kleinstkredite, wie beispielsweise aus dem Spark + Africa Fund, sind nun darauf ausgerichtet, solche Missstände mit technologisch innovativer Infrastruktur zu begegnen.

Oft erzielen bereits kleine Veränderungen eine grosse Wirkung.

Konkret ermöglichen die Kredite die Beschaffung emissionsarmer Kochenergielösungen, die aus organischen Abfällen Biogas produzieren. Positive Nebeneffekte gibt es hier gleich mehrere: Die Menschen sind weniger Luftverschmutzung ausgesetzt (laut WHO sterben bis 4 Millionen Menschen jährlich frühzeitig durch kochbedingte Luftverschmutzung). Holzressourcen werden geschont (52 Prozent des jährlichen Waldverlusts in Afrika geht auf das Konto der dort praktizierten Kocharten). Klimaschädlicher Russ wird reduziert (ein Viertel der jährlichen Russproduktion entsteht durch Kochen auf Feuer).

Was lernen wir daraus? Oft erzielen bereits kleine Veränderungen eine grosse Wirkung.

Resilienz als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor

Die Mikrofinanzbranche macht in ihren Operationsgebieten also wichtige Erfahrungen im Umgang mit Krisen. Die wichtigste Erkenntnis ist aber, dass es keinen Sinn macht, die Definition eines «Normalzustands» von der An- oder Abwesenheit von Krise(n) abhängig zu machen. Denn dies kann die Sicht auf das grosse Potenzial trüben, gemeinsam in und an Krisen zu wachsen.

Die Mikrofinanz-Industrie liefert dafür seit der Gründung der Grameen Bank durch den Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus im Jahr 1983 belastbare Beweise. So korreliert die Performance von Produkten der Mikrofinanz-Industrie nicht mit negativen Entwicklungen an Kapitalmärkten, die globale Krisen nach sich ziehen. Renditen und Wachstum in den Fonds bleiben stabil – auch innerhalb hochvolatiler Lagen.

Heute ist ein verschwindend kleiner Teil des globalen Investmentkapitals in Fonds von Mikrofinanzinstituten investiert. Die Asset-Klasse MF erfreut sich aber einer stetig wachsenden Investorengruppe, welche die Stabilität und Resilienz der Anlagen gerade in unsicheren Zeiten schätzt. Dass Investitionen in Finanzprodukte an Popularität gewinnen, die in Krisenregionen zum Einsatz kommen, kann als wichtiges psychologisches Signal gedeutet werden.

Nämlich dass wir zu verstehen beginnen, dass eine Gesellschaft auch in dauerhaften Krisen grosses Potenzial entwickeln kann, wenn das Zusammenspiel von Ambition, Engagement und agiler Infrastruktur stimmt. Die Mikrofinanz-Industrie bringt genau diese Faktoren miteinander in Einklang – und schafft so konstantes Wachstum und stabile Renditen. Innerhalb von beunruhigenden Zeiten, wie wir sie heute erleben, sind das für einmal gute Nachrichten.