Heimweh dürfte da kaum aufkommen bei Theobald (Theo) Müller, Deutschlands berühmtem Molkereimeister im Schweizer (Steuer-)Exil in Erlenbach: Sein neues Domizil an der Zürcher Goldküste nämlich grenzt an Landwirtschaftszonen – Wiesen, so weit das Auge reicht; und unterhalb der Residenz mit auskömmlicher Wohnfläche von 1669 Quadratmetern ruht still der See. Beschaulichkeit fast so wie in Müllers Heimatort, dem Markt Fischach, einer Vereinigung von zehn kleinen Weilern wie Itzlishofen, Todtenschläule oder eben auch Aretsried, dem milliardenfach auf Plastikbechern aufgedruckten Stammsitz der Molkerei Alois Müller im bayrischen Schwaben.

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Seit der 65-jährige Selfmade-Milliardär privat vor knapp zwei Jahren mit
Lebensgefährtin Ines Hüvel am Zürichsee vor Anker ging und seither sein wachsendes Europageschäft von der Zürcher Seefeldstrasse aus steuert, befruchtet der Vater von neun Kindern Fantasien von Akteuren auf dem Schweizer Milchmarkt und im Detailhandel: Kommt Müller und konkurrenziert den schweizerischen Marktleader Emmi? Überschwemmt er Schweizer Verkaufsfilialen mit Müller-Markenartikeln aus seinen deutschen Milchfabriken? Oder schluckt er gar eine schweizerische Molkerei?

«Die Schweiz ist für uns kein strategischer Markt», stapelt Volkhard Mett tief. Für Müllers Schweizer Statthalter und Finanzstrategen würde speziell ein Kauf von Produktionsstätten «keinen Sinn machen». Verarbeitungskapazitäten hat die Gruppe tatsächlich reichlich, am Stammsitz Aretsried in der Nähe der Schweiz oder gigantischer noch im sächsischen Flecken Leppersdorf bei Dresden. Bei der dort ansässigen Sachsenmilch – laut Müller «einer der modernsten Milch verarbeitenden Betriebe Europas mit einer Kapazität von 1,5 Milliarden Kilogramm Milch pro Jahr» – könnte man bei diesem Volumen rund die Hälfte der gesamten Menge an Schweizer Milch veredeln.

Dass Müller-Milch überhaupt kein Interesse am Schweizer Detailhandelsgeschäft hat, darf mit Recht bezweifelt werden. Schliesslich verfügt der Milchbaron in der Wahlheimat über einen Bekanntheitsgrad, von dem etablierte Markenartikler nur träumen können. Der längst kultige Werbeslogan «Alles Müller – oder was?» erreicht dank schrillen Botschaftern wie Dieter Bohlen und Omnipräsenz in deutschen Fernsehkanälen längst Hör- und Sehnerven auch Hunderttausender Schweizer. Was werbetechnisch derzeit noch als Streuverlust gebucht wird, würde fraglos das Lancieren von Müller-Markenartikeln in Schweizer Kühlregalen enorm erleichtern.

Die Müller-Männer jedenfalls strecken in der Schweiz ihre Fühler aus. «Wir haben mit Müller-Milch im Herbst 2004 verhandelt», bestätigt Gregor Emmenegger, CEO der Aargauer Zentralmolkerei (AZM). Die Gespräche drehten sich primär darum, dass die Aargauer für den deutschen Grossmelker Lizenzprodukte herstellen würden; in zweiter Linie kam auch die Möglichkeit einer Übernahme durch Müller-Milch zur Diskussion. AZM wäre der ideale Müller-Milch-Partner; der viertgrösste Milchverwerter der Schweiz hat in Suhr eine Produktionsanlage hingeklotzt, die zwar hochmodern, jedoch nicht ausgelastet ist. Ein weiteres Problem der Aargauer: Wegen magerer Innovationsfreude verfügen ihre Produkte über wenig Profil und damit nur über dünnhäutige Margen. Das Unternehmen kann auf Dauer kaum als Solist überleben.

Müller-Milch blieb nicht einziger Verhandlungspartner. Die AZM setzte sich auch mit Campina an einen Tisch; die niederländisch-deutsche Grossmolkerei, die doppelt so viel Milch verarbeitet, wie alle Schweizer Bauern jährlich aus ihren Kühen herauspressen, möchte ebenfalls in diesem Hochpreisland vertreten sein.

Eigentlich ist Gregor Emmenegger weder an Müller-Milch noch an Campina interessiert; kurz vor Ostern erwähnte der AZM-Chef vor der Presse gekonnt beiläufig, man verhandle auch mit Emmi. Worauf der Innerschweizer Marktleader fast zähneknirschend Gespräche eingestehen musste. Doch Emmi-Pressesprecher Stephan Wehrle besteht darauf, dass nicht Emmi aktiv geworden sei: «AZM ist bei uns vorstellig geworden.» Obwohl seit Monaten diskutiert wird, ist die Form der Zusammenarbeit oder der Beteiligungsstruktur noch weit offen. Für Emmi ist nur eines klar: Mit AZM wird die Nummer eins nur dann eine Zusammenarbeit eingehen, «wenn wir die Mehrheit übernehmen können» (Wehrle). Sowieso scheinen es die Innerschweizer mit dem Vertragsabschluss nicht allzu eilig zu haben, denn AZM ist kein Wunschkandidat. Weshalb der Suhrer Obermelker Emmenegger in Richtung Luzern drohend vermerkt: «Die Gespräche mit Müller-Milch und Campina sind zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.»

Emmi bereitet der neue Konkurrent einiges Kopfzerbrechen. Sowohl die bayrische Grossmolkerei wie auch die Luzerner sind stark vertreten im Premiumbereich. Doch sogar mit einer Übernahme der AZM lässt sich der Mitbewerber aus deutschen Landen vom Schweizer Markt nicht auf Dauer fern halten. Zwar ist die Auswahl an weiteren Schweizer Milchverwertern für die Herstellung von Müller-Produkten bescheiden: Die Migros-Tochter Estavayer Lait hat keine Kapazitäten frei, und die Freiburger Cremo wurde von Müller-Milch nie kontaktiert, «nicht einmal ein kurzes Telefon, einfach nichts», führt Generalsekretär Michel Pellaux fast enttäuscht an.

Der bauernschlaue Theo Müller dürfte auch diesmal alle ausgetrickst haben. Warum soll er seine Produkte in der Schweiz herstellen lassen? Aus deutschen Müller-Depots rollen eh immer mehr eigene Kühltransporter mit Milchmix-Getränken oder Joghurt gen Italien – durch die Schweiz. Da liesse sich bei Zwischenhalten die eine oder andere Palette locker zusätzlich abladen. Kapazitäten stehen zur Verfügung, Leppersdorf ist nicht ausgelastet. Zudem scheint Grossverteiler Coop von der einstigen Haltung, nur in der Schweiz hergestellte Müller-Produkte in die Kühlvitrine stellen zu wollen, abzurücken. Pressesprecher Jörg Birnstiel auf die Frage, ob Coop auch Müller-Produkte made in Germany verkaufen würde: «Beim Molkerei-Sortiment sind wir laufend auf der Suche nach neuen Produkten und Linien und stellen dabei die Kundensicht ins Zentrum. Müller-Milch macht da keine Ausnahme.»

Der Zoll als Preistreiber spielt dabei kaum noch eine Rolle. Dank der Marktliberalisierung werden ausländische Milchverwerter an der Schweizer Grenze nicht mehr derart erbarmungslos gemolken wie ehedem. Viele Milchdrinks sind völlig, Joghurt grösstenteils vom Zoll befreit, der Käsemarkt zu 95 Prozent liberalisiert.

«Alles Müller – oder was?» wird deshalb bald auch auf Schweizer Fernsehkanälen ausgestrahlt.

Für den Patron persönlich ist die Schweiz dagegen kein Ziel mehr: Er ist ja längst angekommen. Steuertechnisch wird seine gerade gegründete Theo Müller Holding (Schweiz) an Zürichs Seefeldstrasse garantiert schnell an Gewicht zulegen. Über «die Erbringung zentraler Dienste für Beteiligungsgesellschaften», wie als Geschäftszweck vage formuliert, lässt sich locker Rahm bei Tochterfirmen abschöpfen. Der erste Holding-Ableger, eine Müller Media & Service, dürfte schon mit dem Gewinne-Melken im Ausland begonnen haben.

Diese kurz MMS genannte Gesellschaft listet als (honorarpflichtige) Aufgaben so ziemlich alles auf, was, gesteuert vom Schweizer Pult, den Profit in Hochsteuerländern wie Deutschland schmälert, etwa «Übernahme und Gewährung von Produktions- und Verkaufslizenzen» oder «Registrierung und Verwertung von Patenten und Markenschutzrechten» oder den «Erwerb und die Gewährung von Lizenzen unter solchen Rechten». Schöpft das MMS-Inkasso auch nur einen Rappen Lizenzgebühr ab pro verkauften Müller-Becher, fliessen Jahr für Jahr hohe zweistellige Millionenbeträge ins Zürcher Seefeld. Steuergünstig.

Exakte Ertragszahlen über seine multinationale Unternehmensgruppe hält Theo Müller unter Verschluss (siehe Grafik «Erste Sahne» unten). Die reine Familienfirma oder, präziser noch, der Alleininhaber darf diverse Daten wie den Gewinn aus dem Drei-Milliarden-Franken-Imperium verschweigen. Hier und da übermannt aber – berechtigter – Besitzerstolz den Molkereimogul. Dann protzt schon mal eine Konzerntochter wie sein eigener Joghurtbecher-Hersteller Optipack (O-Ton: «Marktführer in Deutschland») und beziffert die Jahresproduktion stolz auf «rund 2,3 Milliarden Becher und 30 000 Tonnen Folien». Oder die Niederlassung in Grossbritannien rühmt sich, allein im Jahr 2004 gegen 1,6 Milliarden Becher mit Molkereiprodukten gefüllt zu haben.

Die Potenz Müllers wird sichtbar auch beim ausgewiesenen Eigenkapital in Höhe von 677 Millionen Euro. Solche eindrücklichen Zahlen verdankt die staunende Öffentlichkeit etwa der Europäischen Kommission in Brüssel. Denn natürlich lassen sich auch – und gerade – Milliardäre gern aus öffentlichen Geldspeichern füttern, kassieren Investitionsbeihilfen. Müller zapft regelmässig die zunehmend mageren Kassen der Europäischen Union an, auch wenn der Nehmer dafür Einblicke in seine Bilanzen gewähren muss. Laut Amtssprache von Europas Bürokraten geht es bei diesem Finanzcheck um die «Lebensfähigkeit der Unternehmer». Wer kurz vor dem Ruin steht, soll nicht am Steuertropf weiter siechen.

Dem Wahlschweizer Molkepatriarchen jedenfalls attestiert Brüssels Prüfteam strotzende Kraft: «Die Ertragslage ist überdurchschnittlich.» Als allererste Sahne stufen die Eurokraten speziell die Eigenkapitalquote von gegen 50 Prozent ein: «Für deutsche Verhältnisse überdurchschnittlich hoch.» Gemäss der alten Bauernweisheit «Wer hat, dem wird gegeben» alimentieren EU und BRD generös. Müller schöpfte in den zurückliegenden Jahren mit Wonne einen hochprozentigen Zustupf im dreistelligen Euro-Millionen-Bereich: Umgerechnet gegen eine dreiviertel Milliarde Franken hatte er in Europas grösste Molkerei in Leppersdorf gepumpt. Die Hälfte davon spendierten die Steuervögte. Der EU-Kommission war nur wichtig, «dass die kumulierte Beihilfeintensität 50 Prozent der förderbaren Gesamtkosten nicht übersteigt».

Angesichts dieser Mast mit Steuermillionen wird leichter verständlich, weshalb Deutschlands noch amtierender Bundeskanzler Gerhard Schröder wie ein wild gewordener Bulle wütete, nachdem Milchbaron Müller im Herbst 2003 seinen Abgang ins Schweizer Steuerexil proklamiert hatte. Verbalattacken des sozialdemokratischen Regierungschefs tönten wie Boykottaufrufe gegen das gesamte Müller-Sortiment. Recht haben dabei aus der jeweiligen Sicht beide. Der Patriarch Theo Müller («Ich werde enteignet!») einerseits will für seine neun leiblichen Kinder schützen, was er als treu sorgender Vater seit Anfang der siebziger Jahre aufgebaut hat. Der heutige Käsekönig hatte 1970 zwar selbst geerbt, allerdings nur eine Dorfmolkerei mit ganzen vier Mitarbeitenden. Von seiner seitherigen Vermögensbildung profitiert das Vaterland fraglos. In Deutschland, geschlagen mit mehr als fünf Millionen Arbeitslosen, hat Müller immerhin gegen 3000 Arbeitsplätze geschaffen. Müllers Mitarbeitende, mit den beiden ältesten Söhnen Stefan und Theo junior an der Managementspitze, bleiben als Steuerzahler der Heimat erhalten, und natürlich zahlen auch künftig alle deutschen Müller-Werke an den Standorten Steuern.

Der Kanzler andererseits kämpft in Anbetracht der deutschen Rekordstaatsverschuldung und der Millionen von Unbeschäftigten halt um jeden solventen Steuerzahler. Inzwischen dämmert der deutschen Regierung sogar, dass Müllers Motive nicht einzigartig sind und Tausende von anderen Familienunternehmern auch beschäftigen – und womöglich zur Flucht animieren. Die öffentlich geäusserte Sorge des Molkereimultis um sein Lebenswerk wegen drohender Erbschaftssteuern zeigt mit Zeitverzögerung jedenfalls Wirkung, sogar beim SPD-Kanzler. Deutsche Erben, die eine Familienfirma fortführen, sollen künftig nach dem Willen aller grossen Parteien ungeschoren und von Erbschaftssteuern weitgehend verschont bleiben.

Doch nicht nur der deutsche Regierungschef kann in Rage geraten. Wie ein angestochener Stier gebärdet sich bisweilen auch Handwerksmeister Theo Müller. Wenngleich von der Technischen Universität München mit der höchsten Ehrenwürde geadelt, vergisst der Senator E.h. bisweilen jegliche Noblesse. Der 1940 im Sternzeichen des Wassermanns geborene Milliardär gerät schnell an den Siedepunkt, sieht er sein Lebenswerk oder gar sein Leben bedroht. Zwei mutmassliche Entführer schlug er im wahrsten Sinne des Wortes in die Flucht, nachdem die Kriminellen Müllers Mercedes 600 auf einer einsamen Landstrasse gestoppt hatten. Und als am vergangenen 6. Dezember Ökoaktivisten von Greenpeace in Samichlaus-Kostümen und mit Transparenten gegen vermutete «Gen-Milch» Marke Müller vor der Konzernzentrale in Fischach-Aretsried aufzogen, sollen wieder die Fäuste geflogen sein. Der Seniorchef selbst in erster Linie, mit Lieblingssohn Theo junior und Werkschützern als Nachhut, zog zu Felde gegen die «Schurken von Greenpeace» (Müller). Auch Ausrüstungen von Pressefotografen sollen zu Bruch gegangen sein. Ein gerichtliches Ermittlungsverfahren wegen Verdachts auf Körperverletzung und Sachbeschädigung wurde gegen Zahlung von 45 000 Euro an gemeinnützige Organisationen eingestellt.

Gentechnik – Fluch oder Fortschritt? Der Biologe Christian Schwägerl nannte Greenpeace kürzlich in einem Essay für die «Weltwoche» einen «Panikkonzern». Für den Wissenschaftsautor steht fest: «Gefährlicher als gentechnisch veränderte Lebensmittel sind die Ängste, die Greenpeace manipuliert.» Nicht mehr Ökologen, sondern «Menschen mit vorzüglichen Marketingerfahrungen» geschäften nach Schwägerls Erkenntnis im Sinne effektiven Spendensammelns hinter den Greenpeace-Kulissen. Müllers Problem mit Umweltaktivisten ist denn wohl auch eher seine einfach gestrickte Ehrlichkeit. Wie soll er Garantien abgeben, dass keine Kuh, deren Milch Müller in ganz Deutschland und Grossbritannien einsammeln lässt und dann verarbeitet, gentechnisch veränderte Futterpflanzen gefressen hat? Indes: Können Schweizer Molkereien diese Freiheit von veränderten Genen garantieren?

Wahrscheinlicher ist, dass Müllers Mitbewerber bevorzugt in der Etappe abtauchen, und dem polternden Haudrauf die Front liebend gern allein überlassen. Und der Hobby-Violinspieler im Pensionsalter neigt halt zu furiosen Frontalangriffen, wenn es (aus seiner Sicht) geboten erscheint – ausserhalb und innerhalb der Zentrale. Nicht viel Federlesen macht Müller auch, wenn familienfremde Topmanager aus seiner Sicht magere Ergebnisse liefern. Alle drei Geschäftsführer, die der Patriarch bei seinem Wegzug nach Erlenbach für die Übergangszeit bis zur nächsten Müller-Generation als operative Geschäftsführer vorgesehen und berufen hatte, hat er bereits wieder gefeuert. Schlechter kann es der eigene Nachwuchs aus Vaters Sicht kaum machen.

Die nächsten zwei Generationen stehen schon bereit: Der erstgeborene Sohn Stefan geht auf die vierzig zu; dessen Halbbruder Theo junior, gelernter Handwerker wie der Vater, ist jüngst dreissig geworden. Die beiden bilden neuerdings gemeinsam mit einem 32-jährigen Juristen das neue Triumvirat in Aretsried.

Die beiden Müller-Nesthäkchen aus der Beziehung mit Lebenspartnerin Ines Hüvel, die der modernen Kunst zugetan und in Dresden an einer Galerie beteiligt ist, besuchen noch die Grundschule am Zürichsee. Dieses Duo könnte ab 2030 einsteigen.