Mitch hatte mich gewarnt: Immer die Temperaturanzeige des Motors im Auge behalten, sagte er mir – immer. Die Nadel dürfe bis knapp vor den Anschlag gehen, sie könne auf der Anzeige den Buchstaben H für Hot leicht berühren, dann aber sei Vorsicht angebracht. Ernsthaft.

Wir werden das noch vertiefen. Zuerst aber möchte ich Mitch vorstellen.

Mitch, der richtig Michel Colaizzi heisst, hat bei der Uhrenmarke Baume & Mercier in Genf einen Traumjob, jedenfalls sagt er das. Mitch ist, was man heute einen Facility Manager nennt, er hält die Gebäude in Schuss, kümmert sich um Klimatechnik, Computer, Telefonanlagen. Vor allem aber ist er verantwortlich für ein Bijou im Unternehmen: einen Ford Woodie von 1949. 4-Liter-V8-Seitenventil-Motor, 100 PS, 8 Plätze, Weisswandreifen, viel Holz, viel Chrom, viel Nostalgie.

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Das Auto hat bei Baume & Mercier eine Starrolle. Und auch das hat seinen guten Grund: Für dieses Jahr hat CEO Alain Zimmermann die Marke entstaubt, das Sortiment verschlankt und dem Traditionshaus eine neue Botschaft verpasst: Baume & Mercier steht künftig für Lockerheit, Entspannung und Easygoingness. Motto: Smart Casual statt Krawatte, Flanieren statt Marschieren, Cruisen statt Rasen. Seit Anfang Jahr kommuniziert Baume & Mercier passend mit Bildern aus der Welt der Hamptons; «Seaside Living» heisst der Claim dazu. Und in den Mood Boards, welche die Atmosphäre der Marke mit Bildern konkret machen sollen, tauchten immer alte, sehr spezielle Autos auf: Woodies.

Ein Woodie ist eine Art Kombi, holzverkleidet, gebaut in den dreissiger bis sechziger Jahren. Surfer liebten das Auto und transportierten ihre Bretter auf dem Dach des Wagens. Ein Woodie mit Surfbrett steht klar für Easiness, und genau das passt perfekt in die neue Markenwelt von Baume & Mercier.

Säuselnder Opa. Kein Wunder, wollte CEO Alain Zimmermann unbedingt einen Woodie für die Marke. Und für die Suche hatte man den Experten im Haus: Mitch steht erstens auf die fünfziger Jahre und zweitens auf amerikanische Autos. Er war der ideale Mann für die Operation Woodie. «Die Suche wird sehr schwierig», sagte der Connaisseur mit Koteletten und Tolle aber sofort. Denn gut erhaltene Exemplare seien selten.

Und so war es. Der Markt für Woodies in Europa ist ausgetrocknet. Exemplare in gutem Zustand existieren zwar, käuflich zu erwerben indes sind sie nicht. Doch eines Tages stand Mitch mit der guten Nachricht vor Zimmermann: «Volltreffer. Ich habe den Wagen gefunden. Superfarbe, Superzustand.»

«Und wo steht er?» fragte Zimmermann.

«Ähm, genau das ist das Problem», erwiderte Mitch. «Er steht in Los Angeles.»

Jetzt steht er vor mir. 5,3 Meter lang, ein Riesentrumm. Ich habe auf der Sitzbank vor dem riesigen Lenkrad Platz genommen, den Zündschlüssel gedreht, den Startknopf gedrückt, und schon säuseln die Zylinder. Seidenweich. Kaum hörbar. Erstaunlich, wie ruhig der Opa-Motor läuft.

Kupplung gedrückt. Schalthebel des Drei-Gang-Getriebes nach unten, langsam die Kupplung einklinken. Zu langsam. Der Wagen tut ewig keinen Wank. Aber ich werde noch rechtzeitig lernen, den Gang beherzt einzulegen. Und wenn er klemmt, Hebel nach oben Richtung Rückwärtsgang, dann nach unten, dann klackts, dann gehts.

Die ersten Meter sind die Hölle. Man dreht am Lenkrad – und zunächst tut sich gar nichts. Man zirkelt ruckelnd um Fussgängerinseln, die kleine Strasse scheint viel zu eng für den grossen Wagen, Schalten braucht Kraft, Lenken auch. Da ist nichts mit Servolenkung, nichts mit automatischer Türverriegelung, nichts mit Nackenstützen, nichts mit Sicherheitsgurten, nichts mit EPS, ABS, Pipapo. Auch die Klimaanlage ist rustikal: Um den Wagen zu kühlen, öffne man vorne und hinten die Fenster und sorge für üppigen Durchzug. Fertig.

Elender Säufer. Durchzug braucht es. Wie gesagt: Mitch hatte mich gewarnt, der Motor neige zum Überhitzen. Also immer die Nadel im Auge. Bis knapp an den Anschlag darf sie kommen, und bis knapp an den Anschlag kommt sie schon nach wenigen Kilometern. Was Mitch nicht gesagt hat: Der Motor ist auch eine Heizung. Und die macht die Fahrt zum tropischen Erlebnis: Heiss ist es im Wagen, sehr heiss.

Doch wir wollen nicht klagen. Mit der Zeit kommt so etwas wie Routine auf. Einfach rechtzeitig am Lenkrad drehen. Und warten, bis sich etwas tut. Während der ersten Kilometer ist das Glückssache, der Wagen ändert zwar seine Richtung, das schon, aber er ändert sie irgendwann und irgendwie, einfach nicht ganz so, wie der Fahrer es zunächst erwartet. Doch mit der Zeit hat man die Sache im Griff.

Und langsam kommt richtig Laune auf. Das Fahren macht Spass, mehr Spass als mit einem Neuwagen, viel mehr Spass. 80 Kilometer pro Stunde auf Landstrasse sind gefühlt wie 140 mit einem neuen Auto. Und auf der Autobahn, Mitch war da sehr deutlich, ist 100 das Limit – mehr täte dem Auto nicht gut.

Hinter mir hupt einer. Tempo 95 auf der Autobahn ist für dieses Auto zwar ausgesprochen flott, ich bin aber in Wirklichkeit ein fahrendes Hindernis. Der Hintermann hat sich wohl aufgeregt, er hupt ein zweites Mal, bevor er den Blinker setzt und überholt. Und dann, kaum ist er auf gleicher Höhe, verlangsamt er, schaut hinüber, lächelt breit und hebt den Daumen: Der Woodie, ich werde es immer wieder erleben, provoziert gute Laune. An der Corniche beim Genfersee, wo wir den Wagen fotografieren, hält ein blauer Maserati Quattroporte Sport GTS, der Fahrer lässt die Scheibe hinunter und streckt seine Kamera heraus. Beim Tanken hält ein Wagen mit Diplomatenschild, ein Mann steigt aus, Massanzug, Gilet, rahmengenähte Schuhe: «Toller Woodie», sagt er, «woher haben Sie den?»

In Los Angeles musste Mitch damals realisieren, dass der Wagen nicht rechtzeitig in Genf zur Uhrenmesse ankäme, wenn er ihn vor Ort verfrachten würde. Also mietete er einen Lastwagen, fuhr 2000 Kilometer nach Houston, Texas, um den Wagen dort zu verschiffen. Dann reichte es. Nach der Messe machte Mitch den Wagen MFK-tauglich, jetzt darf man in der Schweiz auf öffentlichen Strassen fahren.

Es ist morgens um acht Uhr, es regnet, und es ist kalt, saukalt. Was in solchen Fällen vor dem Anlassen zu tun ist, weiss ich noch von meinem ersten Auto. Dieses war zwar 30 Jahre jünger als der Woodie, aber auch 30 Jahre älter als die heutigen Autos. Man zieht den Choke-Hebel. «Ziehen Sie nur bis zur Hälfte», schärfte mir Mitch ein, und so mache ich es auch. Sechs Volt liefert die Batterie, Saft ist da nicht viel vorhanden, ich hoffe also inständig, dass der Motor rasch anspringen wird und ich notfalls die Pannennummer des ACS griffbereit habe. Also Choke-Hebel leicht gezogen, Schlüssel gedreht, Startknopf gedrückt, Pedal leicht getreten – Rummmms, die Kiste läuft. Schon beim ersten Versuch.

Kurz vor Genf tanke ich. Und das ist bei diesem Auto die einzige schlechte Nachricht: Der Wagen ist durstig, ein elender Säufer, er gurgelt das Benzin durch die Vergaser – über 20 Liter pro 100 Kilometer waren es.

Doch Schwamm darüber. Dieses Auto ist eine Zeitmaschine, und nur das zählt. Es versetzt den Fahrer in eine Ära, als noch alles möglich schien. Als Optimismus der herrschende Zeitgeist war. Als die Menschen gut angezogen und noch besser erzogen waren. Als das Auto versprach, den Menschen aus seiner engen Welt zu befreien. Und als das Auto seine Unschuld noch nicht verloren hatte.

Es war eine schöne Zeit. Und, das dürfen Sie mir glauben, am Steuer eines alten Autos spürt man das.