Wer jüngst eine Wein- und Spirituosenhandlung besucht hat, dürfte ob den zahlreichen Schweizer Whiskys und Gins gestaunt haben. Vor allem bei Letzterem schnellt der Anteil «made in Switzerland» fast so schnell in die Höhe, wie Liguster den Gartenzaun hochklettert. Gin ist in. «Die hiesigen Produzenten erfinden nicht Neues, sie springen auf einen Trend auf. Nicht zuletzt, weil es erstens relativ einfach ist, Gin zu produzieren, und zweitens die Produktionskosten tief sind», sagt Urs Ullrich, Geschäftsführer der Paul Ullrich AG. Er ist überzeugt, dass der Erfolg eines Gins weniger von seinem Geschmack als von der Marketing-Begabung des Produzenten abhängig ist.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Dieser Überzeugung dürften Beat Sidler und Gustav Inglin zumindest teilweise widersprechen. Seit die beiden den Breil Pur Gin produzieren, gleicht ihr Leben einem Krimi. Spannende Momente und Unwegsamkeiten gehören zum Alltag der beiden wie das Tonic zum Gin.

Wacholder im Glas

Zum Gin sind die beiden Golffreunde, der eine ehemaliger Banker, der andere gelernter Wirtschaftsjurist, wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Nach einem Spiel in Brigels sass man zusammen, sinnierte über das Leben im Allgemeinen und die eigene Biografie im Besonderen. Der Wunsch, nach dem 50. Geburtstag nochmals «etwas zu machen», paarte sich mit genauen Vorstellungen: Das Neue sollte mit Genuss und mit Graubünden zu tun haben und nicht bereits in hundertfacher Ausführung erhältlich sein.

Recherchen zeigten, dass kulinarische Spezialitäten im Bündnerland breit gefächert und Nischen selten sind. Die zündende Idee lieferte schliesslich der Zufall in der Gestalt einer Einladung zu einer Gin-Degustation, auf deren Rückseite verschiedene Kräuter abgebildet waren. «Kräuter? Im Bündnerland wachsen viele Kräuter, Kräuter sind Botanicals – warum machen wir nicht einen Gin?»

Gedacht, getan!

In den nächsten zwölf Monaten tüftelten die beiden an ihrem Produkt. Sie nahmen Kontakt mit dem britischen Chemiker David Clutton auf, der auch als Dr. Gin bekannt ist. Nachdem Inglin und Sidler die Zutaten für «ihren» Gin zusammengetragen hatten, pröbelte er damit so lange herum, bis die Rezeptur für den klassischen London Dry Gin stand, der den beiden vorschwebte: «Wir wussten ziemlich genau, wie unser Gin schmecken sollte», erinnert sich Sidler.

Es brauchte – trotz kundiger Beratung – einige Monate, bis das Destillat aus Bio-Alkohol, Alpenwacholder, Alpenrosenblüten, Schokolademinze, frischem Bündner Quellwasser und weiteren – geheimen – Zutaten so abgestimmt war, dass es sowohl den geschmacklichen Vorstellungen von Sidler und Inglin entsprach als auch den hohen qualitativen Anforderungen von Dr. Clutton genügte. Als endlich alle zufrieden waren, brannte der begabte Brenner Candinas in Surrein den ersten Breil Pur Gin.

«Learning by doing»

Die Degustation in Fachkreisen begeisterte. «Die vielen positiven Feedbacks haben uns über das erste Jahr geholfen. Denn mit der Rezeptur war es noch längst nicht getan, wie wir feststellen mussten», erinnert sich Inglin. Das erste Jahr sei tückenreich gewesen. «Als Quereinsteiger sagt man schnell: ‹Okay, das machen wir›, und realisiert erst später, was man sich aufgehalst hat.» Etwa den Entscheid, den Gin bio-zertifizieren zu lassen, oder die Beschaffung von einheimischem Alpenwacholder. «Weil wir die Ersten waren, die unbedingt mit einheimischem Wacholder arbeiten wollten, mussten wir ziemlich lange suchen, bis wir einen Sammler fanden.»

Laut Sidler war es oft ein «Learning by doing». Allen Widrigkeiten zum Trotz möchten die beiden ihren neuen Alltag nicht missen: «Heute ist die Natur unser Boss – das verlangt zwar eine gewisse Flexibilität, dafür gleicht kein Tag dem anderen.» Zwei Jahre nach den ersten Schritten gilt der Breil Pur unter Kennern und Liebhabern als «eigenständiger und besonders gut gemachter Gin».

Kirschenzauber

Bereits 16 Jahre sind es her, seit die Liberalisierung des Alkoholmarkts in der Schweiz rechtskräftig wurde. Damals fielen die unterschiedlichen Steuersätze für in- und ausländische Destillate weg. Der Preis von importierten Spirituosen sank über Nacht um fast 50 Prozent, während die Preise einheimischer Produkte konstant blieben. Der Absatzmarkt veränderte sich dramatisch: Bis 1999 stammten 80 Prozent der konsumierten harten Getränke aus der Schweiz, heute beträgt der einheimische Anteil noch 15 Prozent. Besonders hart hat es die Kirschbrenner getroffen. «Kirsch», sagt Ullrich, «ist ein Kulturgut, dessen Herstellung viel Handwerk, Wissen und Erfahrung voraussetzt.» Dies gehe leider immer mehr verloren.

Alles andere als konservativ arbeiten die beiden Cousins Lorenz und Beat Humbel. Die beiden führen den Familienbetrieb in Stetten, der seit drei Generationen dasselbe Ziel verfolgt: gute Obstbrände aus heimischen Kirschen zu fairen Preisen zu brennen.

1995 – die beiden hatten den Betrieb erst gerade übernommen, als das neue Alkoholgesetz ratifiziert wurde – las Lorenz Humbel das Buch «Die Kirschensorten der deutschen Schweiz» des ehemaligen Direktors der Wädenswiler Forschungsanstalt, erschienen 1937. Fast 800 verschiedene Kirschensorten findet man in der Schweiz – warum diese nicht, statt wie üblich zu mischen, einzeln verarbeiten? Die Idee war so einfach wie bestechend, nur war bis anhin noch nie jemand darauf gekommen.

Revolutionierte Kirsch-Szene

In den nächsten Monaten widmete Lorenz Humbel seine Nächte fast ausschliesslich dem Kirsch, bis im Herbst 1996 der erste sortenreine Kirsch aus Hemmiker Kirschen erschaffen war. Heute werden jedes Jahr bis zu 30 verschiedene Destillate gebrannt, davon sind ungefähr zehn sortenrein. Etwa der Seppetoni-Kirsch aus der seltenen Seppetoni-Kirsche, die nur in den Fricktaler Gemeinden Mumpf, Obermumpf und Schupfart wächst und sich im Edelbrand als markante Marzipannote manifestiert. Oder der weisse Traubenkirsch aus der gleichnamigen Frucht, der nach Zimt, Chili und Gras schmeckt.

«Die sortenreinen Brände revolutionierten die Kirsch-Szene, plötzlich entdeckten die Leute, dass Kirsch nicht ‹nur› Kirsch sein musste, sondern ein besonderes Produkt sein konnte», sagt Stefan Müller, Verkaufsleiter der Spezialitätenbrennerei Humbel. «Diese Brände sind nicht für den Massenmarkt gedacht, wir produzieren kleine Mengen, unsere Kirschen stammen aus der Umgebung, unsere Ressourcen sind nicht grenzenlos.»

Derzeit entdeckt ein junges, urbanes Publikum die Tradition des Kirsches wieder. Das freut Müller ganz besonders. Denn: «Wer unsere Brände verkaufen will, muss ein bisschen Aufwand betreiben, die Eigenheiten und die Vielfalt des Angebotes erklären können.» Ganz nebenbei könne man dabei auch das Interesse für alte Kirschsorten wecken.

Höchster Whiskytrek

Ist es beim Kirsch die Kirsche, die dem Branntwein seinen ganz besonderen Geschmack verleiht, fällt diese Aufgabe beim Whisky dem Fass zu. Das wissen nicht mehr nur die Schotten – Whisky wird mittlerweile an vielen Orten auf der Welt produziert, etwa in Indien, Japan, Taiwan und in der Schweiz. «Die ersten hiesigen Whiskys tauchten vor gut 15 Jahren auf dem Markt auf und führten lange ein Schattendasein. Mittlerweile können sie von der Qualität her mit internationalen Produkten mithalten», stellt Urs Ullrich fest.

Zu den Schweizer Whisky-Pionieren gehört die Brauerei Locher in Appenzell. Seit 1886 steht das Hauptgebäude des Familienunternehmens am Ufer der Sitter im Herzen der Kleinstadt. Bis heute wird hier das beliebte Appenzeller Bier gebraut; und seit 1999 wird im hinteren Teil des Brauhauses Whisky gebrannt. «Brauen und Brennen sind ähnliche Vorgänge – zudem sind Gerste und Wasser sowohl beim Bier wie auch beim Whisky die wichtigsten Ingredienzen. Der Schritt vom Bier zum Whisky ist dementsprechend logisch», sagt Urs Dähler, Verantwortlicher für den Spirituosenbereich der Brauerei.

Lust am «Experimentieren»

Auf den Whisky kam man in Appenzell aber eher zufällig. Der Fund alter Bierfässer im Keller weckte bei Karl Locher, der zusammen mit seinem Cousin Raphael die Brauerei in der fünften Generation leitet, die Lust am «Experimentieren». Er brannte verschiedene Schnäpse ohne klares Ziel vor Augen und füllte sie in die gefundenen Fässer ab. Als er eines Abends im Freundeskreis von seinen Versuchen erzählte, klärte ihn ein Bekannter auf: «Was du da machst, ist Whisky!»

In den nächsten Jahren entstanden vier verschiedene Whiskys – der klassische Säntis Malt, die rauchige Edition Dreifaltigkeit, die fruchtige Edition Sigel und die mit Rahm angereicherte Edition Marwees. Sie alle heimsten im In- und Ausland unzählige Preise ein.

Der Erfolg beflügelte die Fantasie der Bierbrauer und bereitete den Boden für ihre «verrückte» Idee: Jedes der 27 Gasthäuser im Alpsteingebiet sollte einen eigenen Whisky erhalten, der exklusiv im jeweiligen Lokal erhältlich wäre.

Abenteuerreiches Unterfangen

Ein ambitioniertes und, wie sich herausstellte, abenteuerreiches Unterfangen. Nicht nur die Beschaffung von 27 verschiedenen Fässern führte die Mitarbeiter der Brauerei Locher in alle Ecken der Welt, auch deren Transport zu den einzelnen Gasthöfen entpuppte sich als «grosse Herausforderung»: «Je nach Lage mussten wir die Fässer mit Pferdewagen, Oldtimer-Schlitten, auf Maultieren oder gar zu Fuss anliefern.»

Heute stehen die Bottiche aus Sibirien, Malaga oder Bordeaux über den ganzen Alpstein verteilt in sehr unterschiedlichen Umgebungen. Auf dem Rotsteinpass etwa füllt das Fass die Telefonkabine aus, auf dem Säntisgipfel lagert es in einer Steingrotte, und auf der Tierwies liegt es in einem Schopf, auf dessen Dach die Sonne oft und lange scheint. «Nebst dem jeweiligen Holzfass hat die unterschiedliche Art der Lagerung einen grossen Einfluss auf den Geschmack des Whiskys», sagt Dähler.

Die Alpstein-Whiskys übrigens kann man nur in den Alpstein-Gasthäusern kaufen. Wer sie probieren will, muss die Wanderschuhe anziehen und sich auf den ausgeschilderten Whiskytrek aufmachen. Dafür kommt er nicht nur in den Genuss sehr guter Whiskys, sondern entdeckt auch eine einzigartige Landschaft.