Gregor Zünd, CEO des Universitätsspitals Zürich, hat in sein Büro eingeladen. Es befindet sich in einem der verwechselbaren Backsteingebäude des Careum Campus im Uniquartier. Ohne Google Maps wäre der Eingang kaum zu finden. Den Empfang übernimmt der Chef dann gleich selbst. Sein Büro liegt nicht im obersten Stock, sondern im ersten, in einer Ecke zwar und mit zwei Fensterfronten, aber ohne jede Aussicht. Sein Pult hat er so gestellt, dass er die Tür im Blick hat – und vier kleinere Bildschirme sowie einen im XXL-Format voller Tabellen und Charts. Zünd trinkt einen Espresso und schaltet sein Smartphone auf stumm.

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Herr Zünd, bei Ihnen siehts aus wie bei einem Investment Banker.
Ich bin umgeben von Zahlen und Charts, aber von Investment Banking bin ich weit weg (lacht). Für mich ist es absolut wichtig, unsere Fatcs und Figures jederzeit im Blick zu haben. Ich muss jederzeit wissen, wo wir stehen, wo es gut läuft, wo nicht, was für Tendenzen es gibt. In der einen Tabelle da links zum Beispiel habe ich die Zahlen von 2017, rechts zum Vergleich die von heute.

Welche fixieren Sie am häufigsten?
Eine der wichtigsten für mich ist die Zahl stationärer Patienten. Haben wir mehr oder weniger als 2017, bleiben sie länger oder weniger lang?

Und?
Weniger und weniger lang. So, wie es sein muss.

Weniger plus weniger gibt was?
Die Medizin befindet sich in einem grundlegenden Wandel. Es geht nicht mehr um Krankheit, sondern um Gesundheit. Und um eine möglichst hohe Lebensqualität.

Hohe Lebensqualität – was heisst das schon?
In unserer Kultur gibt es einiges, was für eine Vielzahl der Menschen gültig ist. Dazu gehört Selbstbestimmung, am Leben teilnehmen können, kommunizieren, Verantwortung tragen, ein aktives Sozialleben führen. Und natürlich gesund sein.

Kranke sind Ihr Geschäft, nicht Gesunde.
Wie gesagt, in der Medizin ist vieles im Wandel. Es geht nicht vor allem darum, dass die Menschen möglichst lange leben, sondern möglichst gut.

Dann sind Sie Mitglied bei Exit?
Nein. Es kann ja auch nicht sein, dass man den Wunsch, menschenwürdig zu sterben, an einen Verein delegiert. Seinem Leben einfach ein Ende zu setzen, sollte zudem nicht im Vordergrund stehen. Wir wollen den Patienten die Würde, Lebensqualität und Selbstbestimmung so lange und so gut erhalten wie möglich und sie bis ans Ende ihres Lebens begleiten. Aus dem Grund bauen wir unsere Palliativstation aus.

Züst

Gregor Zünd: «Die Stimmung intern ist kompetitiv, und das wollen wir auch so.»

Quelle: Ornella Cacace

Wie lautet also Ihr Geschäftsmodell der Zukunft?
Unfälle wird es immer geben, und gewisse medizinische Bereiche wie die plastische Chirurgie werden wohl weiter zulegen. Aber es wird sich auch vieles ändern: Dass eine Krankheit diagnostiziert wird, wenn sie bereits da ist, ist heute noch üblich, aber nicht besonders intelligent. Dank Big Data rücken Früherkennung und Prävention in den Vordergrund.

Konkret?
Das USZ wird zu einer Organisation, die individualisiert, patientengerecht und der Lebensqualität verpflichtet frühzeitig mit den Patienten umgeht.

Ein geschliffener Satz – Sie haben ihn oft gesagt.
Der Bedarf an Überzeugungsarbeit ist wirklich hoch. Die Angst vor «Big Brother» ist gross und auch bis zu einem gewissen Grad verständlich. Fakt ist aber, dass Google viel mehr über jeden von uns weiss, als wir wahrhaben wollen, und Fakt ist auch, dass der Patient einverstanden sein muss, dass seine Daten verwendet werden. Datenschutz und Datensicherheit sind bei uns übrigens ein grosses Thema. Und wichtig: Von Big Data kann man profitieren, muss aber nicht.

Profitieren?
Wenn man einem Menschen aufgrund von Daten sagen kann, dass ein Asthmaanfall droht, und ihn behandeln kann, solange es ihm noch gut geht, ist das doch viel cleverer, als wenn der Anfall kommt, er in den Notfall muss, intubiert wird und auf der Intensivstation behandelt werden muss.

Apropos Angst: Mir graut vor Kunstfehlern.
Damit sind Sie nicht allein. Aber Fehler geschehen, und die jeweils wichtige Frage ist, ob ein Fehler vermeidbar war oder nicht und welche Konsequenzen er hat. Es ist zentral, darüber zu reden, zu analysieren und vor allem auch dazu zu stehen – schon deshalb, damit Kollegen nicht den gleichen machen. Eine Fehlerkultur zu fördern, ist eine Führungsaufgabe, das habe ich in den USA gelernt, wir leben das am USZ.

Und wie kommt das an bei den Göttern in Weiss?
Die Götter in Weiss gibt es bei uns nicht mehr. Wir haben hier sehr viele engagierte Spezialisten in Klinik und Forschung, in allen Bereichen. Das birgt die Gefahr, dass beispielsweise den Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten nur die Ohren interessieren. Daher haben wir bei uns eine Matrixorganisation darüber gelegt mit Internisten, die den Patienten als Ganzes erfassen.

Tönt aufwendig und teuer.
Was teuer kommt, sind Fehldiagnosen und -therapien. Und überhaupt, was ist teuer? Stationäre Patienten sind es, Operationen und Intensivstationen. Kosten können wir sparen, wenn wir wo immer möglich von stationären auf ambulante Behandlungen umschwenken. Vor fünf Jahren haben wir in der Onkologie 10 Prozent ambulant behandelt und 90 Prozent stationär. Heute sind die Relationen umgekehrt. Und so muss es auch sein, wenn wir sagen, uns geht es um Lebensqualität. Schliesslich sind die meisten Menschen lieber zu Hause als im Spital.

Seit dem 1. April 2016 ist Gregor Zünd CEO am Universitätsspital Zürich (USZ). Davor war der Titularprofessor seit 2008 Direktor Forschung und Lehre am USZ und bis 2001 Oberarzt an der Klinik für Herz- und Gefässchirurgie. Sein Denken und Streben ist geprägt von mehrjährigen Auslandaufenthalten am Texas Medical Center, Houston, sowie an der Harvard Medical School in Boston. Der 57-Jährige lebt am Zürichsee, ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.

Gregor Zünd
Quelle: Ornella Cacace

Sie forcieren ambulante Behandlungen?
Wir werden da doppelt so stark wachsen wie mit stationären Behandlungen. 2020 eröffnen wir im Circle am Flughafen Zürich eine 10 000 Quadratmeter grosse Klinik, wo wir täglich bis zu 1000 Patienten ambulant behandeln können. Der Standort ist ideal. Wir sind nahe bei den grossen Personenströmen, wegen Intercity, Tram, Bus, Individualverkehr und wegen der Region, die in den nächsten 30 Jahren boomen wird.

Lancieren Sie damit einen Trend in der Spitalwelt?
Schön wärs. Das System, das heute vom Regulator faktisch belohnt wird, heisst: viel operieren, möglichst stationär. Die Bettenauslastung als betriebswirtschaftliche Grösse ist aber weder effizient noch zeitgemäss, zudem werden Aspekte wie Qualität, Morbidität und Mortalität zu wenig einbezogen. Das ist aus meiner Sicht der falsche Ansatz. Ich finde, der Bund sollte Qualitätsindikatoren und Leistungen definieren, woran die Spitäler gemessen werden. Dann hätten wir ein Gesundheitswesen und nicht deren 26.

Damit machen Sie sich kaum Freunde.
Darum geht es nicht. Es geht um gesellschaftliche Diskussionen, die höchst relevant sind. Und dafür fühle ich mich verantwortlich, das interessiert mich. Und darum mache ich diesen Job auch so gern.

Welche Priorität hat das Thema Wirtschaftlichkeit?
Bei uns geht es primär darum, dass wir uns refinanzieren können. Wir sind zum Glück keiner Rendite verpflichtet. Das USZ gehört dem Kanton, bei dem wir jeweils den Antrag stellen müssen, um den operativen Gewinn wieder reinvestieren zu können.

Von was für Summen sprechen Sie?
Wir erwirtschaften einen Umsatz von rund 1,4 Milliarden Franken. 2016 hatten wir einen operativen Gewinn von rund 40 Millionen Franken. Den konnten wir reinvestieren.

Ist das viel oder wenig?
Für die Vorhaben der nächsten Jahre ist es nicht zu viel. Und wenn wir an die Forschung denken, dann suchen wir natürlich auch immer nach zusätzlichen Finanzierungsmöglichkeiten. Deshalb haben wir 2017 auch die USZ Foundation gegründet mit dem Zweck, Diagnose- und Therapieverfahren weiterzuentwickeln und den medizinischen Nachwuchs zu fördern.

Im Stiftungsrat sitzen Topshots aus der Wirtschaft. Wie haben Sie diese für sich gewonnen?
Mit Gesprächen wie diesem.

Wie kamen Sie als Mediziner in diese Kreise?
Keine Ahnung. Es war vieles Zufall. Persönlichkeiten zu kennen, die grosse Firmen führen, mich mit ihnen auszutauschen, ist aber auf jeden Fall eine grosse Bereicherung für mich und meine Arbeit.

Universitätsspital Zürich

Das Gelände des Universitätsspitals Zürich.

Quelle: Universitätsspital Zürich

Warum haben Sie eigentlich als Herzchirurg aufgehört?
Mir war schon mit 20 klar, dass ich nicht ein Leben lang ein und dasselbe machen werde. Ich will etwas bewegen. Während meines Medizinstudiums kam Aids auf. Das hat mich dazu veranlasst, eine virologische Dissertation zu schreiben. Ich habe viel gelernt, insbesondere, dass vieles komplexer ist, als man meint. Das Problem von HIV habe ich aber nicht gelöst.

Den Doktortitel haben Sie trotzdem erhalten.
Ja, das HIV-Problem zu lösen, war mein Ehrgeiz. Inhalt meiner Arbeit war das nicht. Ich bin der Frage nachgegangen, warum und wie Viren in Zellen gelangen. Nach der Diss bin ich in die Herzchirurgie, direkt nach Houston, Texas. Die Zeit dort hat mich sehr geprägt. Ich war einer der Jüngsten und sehr beeindruckt von der Offenheit der Amerikaner. In diesem Klima Forschung zu betreiben, war einfach grossartig.

Auf Ihrer Ablage steht immer noch ein 3-D-Herzmodell. Trauern Sie den alten Zeiten nach?
Nein, es ist eine Restanz. Ich trauere der Zeit nicht nach. Diesbezüglich bin ich relativ einfach gestrickt: Was ich mache, mache ich engagiert. Ich will in der Gesundheitspolitik insgesamt etwas bewegen. Deshalb habe ich ins Management gewechselt.

Ihnen wurde es in der Herzchirurgie zu eng?
Mein Lehrer, Marko Turina, der mich in meinem Denken stark geprägt hat, kam aus einer Generation von Pionieren in dem Fach, sie haben neue Verfahren entwickelt. Heute ist in der Herzchirurgie vieles etabliert und standardisiert. Kürzlich wurden 50 Jahre Herztransplantation gefeiert. Ein Jubiläum – aber nicht wirklich ein Grund zum Jubeln.

Warum denn das?
Weil wir nicht viel weitergekommen sind. Letztlich verfahren wir immer noch praktisch gleich wie vor 50 Jahren. Und wir messen noch heute, wer wie viele Herzen transplantiert. Dabei müssten wir messen, wie viele solcher Eingriffe wir dank optimierten Formen von Therapie vermeiden. Mir geht es um den Mindset. Das Ziel muss sein, weniger invasiv zu arbeiten, und wenn invasiv, dann minimal, schnell, kompetent und möglichst schonend für den Patienten. Oder mit anderen Worten: Wir sollten Wege finden, um Operationen wo immer möglich zu vermeiden.

Wie führen Sie den Riesendampfer USZ?
Eine Expertenorganisation wie diese kann man nur flach führen und mit einem hohen Führungsrhythmus. Wir, also ich persönlich, aber auch die ganze Spitaldirektion, pflegen einen intensiven Austausch, es gibt viele regelmässige Treffen, Sitzungen und Konferenzen. Differenzen gehören zum Tagesgeschäft, die Stimmung intern ist kompetitiv, und das wollen wir auch. Als Mediziner habe ich das Privileg, dass ich die Medizin verstehe und viel Forschung gemacht habe. Gibt es ein Problem, sorge ich dafür, dass wir es sogleich angehen und eng zusammenarbeiten.

Ihr Spielraum?
Es gibt doch dieses Knobelspiel, bei dem es darum geht, in einem kleinen schwarzen Quadrat 15 Zahlen in die richtige Reihenfolge zu bringen. Genau so empfinde ich meinen Job. Es gibt wenig Freiräume, die Aufgaben zu lösen, aber lösbar sind sie.

Das Interview erschien in der März-Ausgabe 03/2018 der BILANZ.

Iris Kuhn Spogat
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