Das Jahr 2009 war ein Traumjahr für Mauro von Siebenthal. Nur dreizehn Jahre nachdem er die ersten Reben auf seinem Weingut Viña von Siebenthal in die Erde gesetzt hatte, kürte der legendäre amerikanische Weinkritiker Robert Parker gleich drei seiner Weine mit insgesamt 285 von 300 möglichen Punkten: Der 2007er Tatay de Cristóbal bekam 97, der 2006er Toknar 95 und der 2005er Montelìg 93 Punkte. Damit hatte der Einwanderer den besten, den zweitbesten und den viertbesten Wein des Andenstaates produziert.

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Dieser Palmarès verschaffte dem Tessiner Rechtsanwalt, der im Herzen des Aconcagua-Tals seinen lang gehegten Traum vom Weinmachen umgesetzt hat, den Respekt seiner chilenischen Kollegen: «Heute werde ich von den hiesigen Winzern ernst genommen – vor der Auszeichnung war ich für sie in erster Linie der Exzentriker, ein Spinner, der ein bisschen Wein macht», sagt Mauro von Siebenthal. Er ist gerade zu Besuch im Heimatland, sitzt in der Zürcher «Bodega Española», einen Espresso vor der Nase – «ich bin süchtig nach Kaffee» –, und erzählt von seinem neuen Leben. Seine Hände sind selten ruhig, sie unterstreichen, betonen, umrahmen seine Worte, während die Augen leuchten und das spitzbübische Lächeln auf sympathische Art mit seiner distinguierten Ausstrahlung kontrastiert.

Grund zum Strahlen hat der 52-jährige Tessiner nicht nur, weil die prestigeträchtigen Auszeichnungen seine Weine über Nacht weltberühmt gemacht haben. «Immerhin konnten wir schon vorher 50 Prozent unserer Produktion im Ausland verkaufen», sagt von Siebenthal. Auf dem Pochettli seines Hemdes ist die Abkürzung MvS diskret eingestickt. Dank der «weinpäpstlichen» Bestätigung fiel ihm auch der Entscheid leichter, das Doppelleben zwischen der Schweiz und Chile, das er zehn Jahre lang geführt hatte, aufzugeben und sich ganz auf die Viña von Siebenthal zu konzentrieren.

Jetzt liegt der Lebensmittelpunkt des umtriebigen Jungwinzers in Panquehue im lauschigen Aconcagua-Tal. Im breiten Tal, das auf allen vier Seiten von imposanten Bergketten abgegrenzt wird, gehören ihm inzwischen 32 Hektaren, auf denen jährlich 180 000 Flaschen Wein produziert werden. Bis heute hat er seinen Entscheid keine Sekunde bereut: «Das Hin und Her zwischen Anwaltskanzlei in Locarno und Weingut mit sechzehn Angestellten hätte mich längerfristig umgebracht!»

Ausdauer und das nötige Kleingeld. Ein Freund, der wie von Siebenthal von der Schweiz nach Chile ausgewandert ist, sagt: «Während der zehn Jahre, in denen er hin und her gependelt ist, hatte er, selbst wenn er in seiner Kanzlei in Locarno sass, das Gottvertrauen, dass in Chile, 13 000 Kilometer entfernt, alles gut kommt. Dieses Vertrauen ist sicher mit ein Grund für seinen Erfolg.» Genauso wie von Siebenthals Ausdauer, die von seiner lebenslangen Leidenschaft für den Wein genährt wird. «Wein», sagt er und klopft mit dem Finger auf den Tisch, «bringt eine unwahrscheinliche Qualität ins Leben, nicht nur auf der Genuss-, sondern ebenso auf der sozialen Ebene. Oder haben Sie schon mal gehört, dass sich zwei Parteien bei einem Glas Roten den Krieg erklärt hätten?» Wein, ist er überzeugt, verbindet die Menschen und ist eine andere Möglichkeit, die Welt zu entdecken. «Jeder Wein erzählt von seiner Herkunft und den Menschen, die ihn gemacht haben. Wer Wein trinkt, kann, ohne den Tisch zu verlassen, um die Welt reisen.»

Kürzlich fand Mauro von Siebenthal beim Aufräumen alte Notizbücher aus seiner Schulzeit wieder – und stellte amüsiert fest, dass er schon als Siebzehnjähriger Weine nicht nur trank, sondern analysierte: Neben den akkurat eingeklebten Etiketten stehen detaillierte Angaben zu den jeweiligen Tropfen, die von einem jungen, aber durchaus interessierten Gaumen zeugen. Diese Neugier für die Welt der Weine begleitete ihn in seinem Wanderjahr in Berlin und New York, im Studium der Rechtswissenschaften in Genf, beim Einstieg ins Berufsleben nach seiner Rückkehr nach Locarno und beim kurzen Ausflug in die Politik. «Da bin ich schnell wieder ausgestiegen, zu viele Leerläufe und Worthülsen, dafür fehlte mir die Geduld!» In all diesen Jahren wuchs nicht nur von Siebenthals Weinwissen, sondern auch der Wunsch nach einem eigenen Weingut. Die Frage war nie «ob», sondern immer «wo». Ein Augenschein in den klassischen Weingebieten Europas zeigte vor allem, dass ein geeignetes Objekt ungefähr so schwierig zu finden ist wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Die Neue Welt avancierte zusehends zu einer valablen Alternative – Neuseeland und Australien fielen aber früh wieder weg, zu fremd wäre dem mediterranen von Siebenthal die Mentalität gewesen, und Südafrika galt Ende der neunziger Jahre als politisch instabil.

Übrig blieb Amerika. Und der Zufall, als tüchtiger Geburtshelfer. Just als Mauro von Siebenthal die Suche aufnehmen wollte, erreichte ihn der Brief eines Freundes, der seit ein paar Jahren in Chile lebte. Dem Schreiben waren auch Fotografien beigelegt, die eine weite, mit Reben durchsetzte Landschaft zeigten. Seine Neugier war geweckt. Statt lange zu fackeln, stieg er ins nächste Flugzeug nach Santiago. Der Rest hört sich an wie ein Märchen: Im Aconcagua-Tal angekommen, entdeckte der Tessiner ein zehn Hektaren grosses Stück Land, das von Himbeersträuchern so dicht überwuchert war, dass man nur ein paar Meter weit auf das Gelände treten konnte. «Ich kaufte das Grundstück, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob ich hier auf Wasser oder auf Stein stossen würde, aus einem Bauchgefühl heraus.» Als er, der Anwalt aus Locarno mit dem vielen theoretischen Weinwissen und ohne eine Stunde Praxis, ein paar Tage später in die Schweiz zurückflog, war er Besitzer der Himbeerwüste, die dreizehn Jahre später drei der vier besten Weine Chiles hergeben sollte.

Bordeaux als Vorbild. Der frischgebackene Winzer hatte von Anfang an sehr klare Vorstellungen, was für Weine auf seinem Land wachsen sollten: «Bei der Auswahl der Trauben und der Machart lehnen wir uns klar an Bordeaux an.» Einerseits aus Respekt und Leidenschaft für die, wie er sagt, «älteste ernsthafte Weinregion der Welt» und andererseits weil die Bordeaux-Machart in Chile, seit sich das Land im 19. Jahrhundert von Spanien abgenabelt hat, Tradition hat: «Nach der Unabhängigkeitserklärung orientierten sich die Chilenen stark an Frankreich. Sie hatten Geld, konnten sich das Beste leisten, importierten Rebstöcke, Fässer und Winzer aus dem Bordelais. Der Grossvater von Michelle Bachelet, der chilenischen Präsidentin von 2006 bis 2010, ist zum Beispiel so nach Chile gekommen.»

Mit dieser Tradition wollte von Siebenthal auf keinen Fall brechen. Nachdem seine zehn Hektaren mit der Machete vom wilden Gestrüpp befreit worden waren, schlug er im Frühjahr 1998 die ersten Reben in die Erde, «selbstverständlich Merlot». Heute arbeitet er vor allem mit den wiederentdeckten Sorten Carménère (die Traube fiel im 19. Jahrhundert in Frankreich der Reblaus zum Opfer) und Petit Verdot, ferner mit den traditionellen Cabernet franc und Cabernet Sauvignon und mit wenig Syrah.

Wer sich jetzt den Ex-Anwalt mit Hut und Gummistiefeln in den Reben vorstellt, liegt falsch: «Das überlasse ich meinen Mitarbeitern, ich habe eine kleine Parzelle in der Nähe meines Gartens, wo ich ein paar Trauben zur Entspannung hege, aber meine Leidenschaft gehört dem Assemblieren, dem Kreieren eines Weins.» Er habe sich im Laufe der Jahre ein richtiges Geschmacksinventar im Hirn aufgebaut, auf das er nun zurückgreifen könne. Er ist überzeugt, dass nur «wer weiss, wie grosse Weine schmecken, auch grosse Weine machen kann». Zudem sei er streng: Er wisse immer, wohin er wolle, und sortiere dementsprechend aus.

Die Umsetzung seiner Vorstellungen ist ihm gelungen. Die Weine aus der Viña von Siebenthal verdanken ihre Qualität dem mediterranen Klima, dem mineralreichen Boden, den über 300 Sonnentagen und der Assemblage aus Leidenschaft. Sie sind das Produkt von Erfahrung und Teamarbeit und heimsen nicht nur Punkte und Preise ein, sondern werden auch an allen Ecken der Welt getrunken: etwa bei «Mosimann’s» in London, früher bei «El Bulli» bei Barcelona oder in der «Ku De Ta Lounge» in Bali. Und in der Schweiz: Der prämierte Montelìg 2005 zum Beispiel ist hier für 40 Franken erhältlich. Viel Wein fürs Geld – und der Beweis, dass Mauro von Siebenthals Credo «Zuerst Qualität, dann Geld» auch nach dem weltweiten Durchbruch gültig bleibt.

Wer die Viña von Siebenthal besuchen möchte, kann dort Wein testen, eine Führung durch Gut und Reben buchen und im kleinen Guesthouse übernachten. Es wird von Mauro von Siebenthals Lebenspartnerin María Soledad Latorre geführt. www.vinavonsiebenthal.com

Viña von Siebenthal: In der Schweiz erhältlich bei www.delea.ch