Es war die Art von Brief, die man an einem tristen Herbsttag nicht wirklich braucht. Abgeschickt wurde er aus der Laupenstrasse 27 in Bern, und der Empfänger war ein landesweit bekannter Banker, wohnhaft in Niederteufen im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Auf einem kargen Einseiter erfuhr der langjährige Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz, dass die Finanzmarktaufsicht gegen ihn ermittle. Unterschrieben hatte der oberste Finma-Fahnder persönlich: Patric Eymann, Chef der Enforcement-Abteilung.
 
Es war die Kulmination einer mehrjährigen Entwicklung. Vor drei Jahren hatte die Finma mitgeteilt, dass sie neu verstärkt auch gegen Einzelpersonen vorgehe. Doch bislang hatte es noch keinen wirklich bekannten Banker getroffen. Jetzt zielte sie erstmals auf ein ganz grosses Kaliber: Pierin Vincenz hatte sich nach der Finanzkrise geschickt als Gegenpol zu den bonigetriebenen Grossbankern inszeniert und der genossenschaftlichen Raiffeisen eine erstaunliche Prise Coolness verpasst.
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Rastlos und sinnenfreudig durchkreuzte er mit seinem Chauffeur das Land mit seinen fast 300 eigenständigen Raiffeisen-Banken. Selbst bei der Satiresendung «Giacobbo/Müller» bot er höchste Unterhaltung – zum Neid vieler Kollegen. Zwar war es zuletzt ruhiger um den 61-Jährigen geworden: Sein Amt bei der Raiffeisen hatte er vor zwei Jahren niedergelegt, und das Präsidium bei der Helvetia-Versicherung verströmte ungleich weniger Glanz, zudem strich sein Nachfolger Patrik Gisel seine Strategie einer breiter diversifizierten Raiffeisen zusammen. Aber dennoch: Vincenz ist bisher der grösste Gegner, den sich Finma-Chef Mark Branson gönnt.

Vincenz machte es freiwillig öffentlich

Das bekam er schnell zu spüren. Seine Behörde hatte in den letzten Jahren einige Banker über Enforcement-Verfahren informiert, doch niemand von ihnen machte das Verfahren freiwillig öffentlich. Vincenz schon. Am 1. November erhielt er den Brief, am folgenden Sonntagabend, geschickt getimt nach dem Erscheinen der Sonntagspresse, liess er die Ermittlungen verkünden. Botschaft: Ich nehme den Kampf an.
 
Es ist das zweite Verfahren, das sich im Kern um die gleiche Sache dreht: Eine Woche zuvor hatte die Finma bereits die Raiffeisen über ein Enforcement-Verfahren informiert. Es geht um viel: Für den noch immer eher frischen Raiffeisen-Chef Gisel um seinen Job an der Spitze der drittgrössten Schweizer Bank, für Vincenz um die Ehre – und für Branson um die Glaubwürdigkeit seiner Behörde.

Angebliche Auffälligkeiten

Warum die Finma die Untersuchung gestartet hat, bleibt Behördengeheimnis. Aber auf Raiffeisen-Seite gilt es als sicher, dass Artikel auf dem Portal «Inside Paradeplatz» im letzten Jahr die Verfahren ins Rollen gebracht haben. Dort wurde mehrfach beschrieben, dass es bei Beteiligungen von Raiffeisen an der Tochter Investnet sowie bei Zukäufen der Kreditkartenfirma Aduno – Raiffeisen hält hier 25 Prozent – zu Auffälligkeiten gekommen sei, bei denen Vincenz und der frühere Aduno-Chef Beat Stocker eine zentrale Rolle gespielt haben sollen. Als Indizien wurden angebliche Geldflüsse bei der Bank Bär zwischen Vincenz und Stocker genannt.
 
Der Finma-Enforcement-Chef Eymann beauftragte die Prüfgesellschaft Deloitte, die Vorgänge genauer zu untersuchen. Die Raiffeisen wurde informiert und kooperierte. Mehrere Monate arbeitete Deloitte an dem Bericht, der am Ende keine hundert Seiten umfasste. Für den 48-jährigen Eymann, erst seit Sommer letzten Jahres auf diesem Posten, war es der bisher spektakulärste Fall.
Patric Eymann

Patric Eymann: Hat als Leiter der Finma-Enforcement-Abteilung die Verfahren forciert.

Quelle: Finma
Jedoch: Den Entscheid zur Verfahrenseröffnung konnte er nicht allein treffen. Dafür ist der dreiköpfige Enforcement-Ausschuss zuständig, dem Eymann zwar angehört, den er aber nicht leitet. Das macht der Chef selbst – für Kritiker der Beweis für die Allmacht Bransons, denn sein Vorgänger Patrick Raaflaub verzichtete auf die Leitung. Es war also der Finma-Chef höchstpersönlich, der grünes Licht gab für die Verfahren gegen Raiffeisen und Vincenz.

Öffentliche Kritik an der Finma

Das ist besonders pikant, weil Vincenz und Gisel in den letzten Jahren die härtesten Kritiker von Branson und dessen Behörde waren – und diese Kritik im Gegensatz zu den Kollegen auch öffentlich zelebrierten. Als die Finma 2011 ankündigte, zur Kontrolle der Hypothekarvergabe Vor-Ort-Besuche bei den Banken abzuhalten, wehrte sich Vincenz: Das führe nur zu «höheren Kosten und einer Ausschaltung des Wettbewerbs». Auch wunderte er sich öffentlich über die Alarmstimmung der Regulatoren. «Ich kann die Zahlen nicht nachvollziehen», kritisierte er 2013, als der damalige Nationalbankvize Jean-Pierre Danthine behauptete, glatte 40 Prozent der Hypotheken würden nicht mit der nötigen Vorsicht vergeben.
 
Gisel setzte sogar noch einen drauf: Er forderte von der Finma vor einem Jahr offen eine Lockerung der Hypothekarvergabe und geisselte die verfügten Tragbarkeitsregeln als «übervorsichtig» und eine «Diskriminierung für Junge». Finma-Präsident Thomas Bauer schoss verschnupft zurück. Doch das hielt Gisel nicht davon ab, im Februar mit grosser Fanfare die Lancierung eines Produkts zu verkünden, das die Tragbarkeitsregeln deutlich tiefer als bei den von der Finma verordneten fünf Prozent ansetzte. Es war eine Provokation, und als solche verstand es die Finma auch: Sie demonstrierte dem Raiffeisen-Chef, wer am längeren Hebel sitzt – und stoppte das Produkt. Es war die bisher bitterste Schlappe in Gisels Karriere.
Finma-Präsident Thomas Bauer

Finma-Präsident Thomas Bauer.

Quelle: Keystone

Grosser Zoff

Nun wäre es sicher zu einfach, die Finma-Verfahren als simple Disziplinierungsmassnahme eines aufmüpfigen Untergebenen zu brandmarken. Doch auffallend ist schon: Der Zoff ist gross – und die Anschuldigung bislang eher klein. Nachdem die «Sonntags-Zeitung» am 29. Oktober erstmals von dem Verfahren berichtet hatte, war die Verwirrung gross, da unklar war, wo es genau in dem Raiffeisen-Reich – 11ß000 Mitarbeiter, 230 Milliarden Franken Bilanzsumme – zu Verstössen gekommen sein sollte.
 
Auch um die Angestellten zu beruhigen, soll Gisel daraufhin bei Branson die Erlaubnis erbeten haben, das Themenfeld einzugrenzen – ein ungewöhnlicher Vorgang in einem laufenden Verfahren. So kam es zu der Aussage in der «Finanz und Wirtschaft», es gehe um «Governance-Themen mit unserer Mehrheitsbeteiligung Investnet Holding AG». Dabei handelt es sich um eine 60-Prozent-Tochter, von der selbst Raiffeisen-Veteranen bislang nichts gehört hatten: Sie macht mikroskopische 0,005 Prozent der Bilanzsumme aus.
Beteiligungsgeflecht Raiffeisen
Quelle: Raiffeisen
Die Finma muss jetzt beweisen, dass es hier zu Verstössen gekommen ist. Vincenz soll seinen VR-Präsidenten Johannes Rüegg-Stürm schon im Dezember 2014 informiert haben, dass ihn nach dem Ende seiner Amtszeit eine Beteiligung an der Firma interessieren würde. Er war sicher der starke Mann im Raiffeisen-Reich, doch er war auch immer professionell genug, die wichtigen Entscheide abzusichern.
 
Rüegg erteilte der Prüfgesellschaft EY das Mandat, die neue Investnet Holding zu bewerten. Sie legte den Wert auf zehn Millionen Franken fest, Vincenz zahlte für seine 15 Prozent 1,5 Millionen. Finanzielle Vorteilsannahme kann es nicht gegeben haben: Bisher ist aus dem Investment kein Rappen zurückgeflossen. Wenn es hier ein Vergehen gibt, so dürfte das vor allem in den Abläufen liegen. Doch das läge dann in der Verantwortung von Präsident Rüegg-Stürm – und nicht von Vincenz.

Ohne Akteneinsicht

Sein Problem ist jedoch: Er kennt die genauen Vorwürfe bislang nicht. Raiffeisen hat den Deloitte-Bericht zwar zugestellt bekommen, Vincenz jedoch nicht. Und Raiffeisen zeigt ihm den Bericht nicht. Denn ein Opfer hat der Zwist bereits gebracht: Das lange sehr enge Verhältnis zwischen Gisel und Vincenz ist merklich abgekühlt. Zurzeit sprechen die beiden nicht miteinander. Das geschieht auf anwaltlichen Rat – aber nicht nur.
 
Denn Gisel, der als langjährige Nummer 2 die gesamte Expansion unter Vincenz voll mittrug, wrackt derzeit die Diversifizierung des Bündners ab – notabene stets mit satten Beteiligungsgewinnen. Die Zehn-Prozent-Beteiligung am Informatikunternehmen Avaloq hat er gerade für mehr als hundert Millionen Franken abgestossen, bei der Helvetia steht der Vier-Prozent-Anteil vor dem Verkauf, beim Derivateanbieter Leonteq mindestens ein Drittel der 29-Prozent-Beteiligung. Auch zur Zukunft der Privatbank Notenstein spriessen die Gerüchte.
 
Damit verströmt Gisel Tatkraft, doch die alte Frage stellt sich spätestens in zwei Jahren wieder neu: Was ist die Raiffeisen mehr als eine grosse Hypothekarbank in einem gesättigten Markt? Etwas mehr Durchhaltevermögen hätte sich Vincenz wohl schon gewünscht. Auch der Abgang seiner Ehefrau Nadja Ceregato als Rechtschefin hat die Bande zu seinem Nachfolger kaum verstärkt. Es war Gisel, der sie in die erweiterte Geschäftsleitung geholt hatte – und jetzt fallen liess.
 
Patrik Gisel

Patrik Gisel: Der Raiffeisen-Chef ist der Finma schon heftig in die Parade gefahren.

Quelle: Keystone
Und so weiss Vincenz nicht einmal: Gehen die Verdachtsmomente in seinem Fall weiter als bei der Bank? Die Indizien sprechen dafür, dass auch das Vincenz-Verfahren auf demDeloitte-Bericht basiert, doch Gewissheit hat er nicht. Dass etwa seine Frau von dem Verfahren betroffen ist, gilt als ausgeschlossen. Vincenz hatte die neue Beziehung umgehend dem Verwaltungsrat gemeldet und seine Frau nie befördert. Zudem soll die Finma ihr bestätigt haben, dass gegen sie nichts vorliegt. Und auch Patrik Gisel und Mark Branson haben ihre neuen Partnerinnen bei der Arbeit kennen gelernt. Hat Vincenz etwa den Kauf der Notenstein zu schnell durchgezogen? Mit 500 Millionen Franken – inklusive des Immobilienbestands – war die Ex-Wegelin damals ein Schnäppchen, heute liesse sich bei einem Verkauf locker das Doppelte erlösen.
 
Bleiben noch die Vorwürfe, es sei bei der Zahlungsverkehr-Tochter Aduno zu unsauberen Geschäften gekommen. Der Verdacht richtet sich auf die Übernahmen der Mini-Firmen Commtrain Card Solutions und Euro-Kaution. Auch hier bestätigen in beiden Fällen externe Gutachten, dass alles korrekt abgelaufen sei. Zudem ist Aduno gar nicht der Finma unterstellt und somit auch nicht Teil des Enforcement-Verfahrens.

Finma-Machtdemonstration

Finma-Chef Branson hat die Latte also hoch gelegt. Geht es wirklich nur um diese mutmasslich eher kleinen Unregelmässigkeiten? Dann stünde schnell der Vorwurf einer Machtdemonstration im Raum. Manche Marktteilnehmer dürften sich fragen: Hat die Finma wirklich nichts Besseres zu tun, als bei einer Bankengruppe, die allein durch ihre Genossenschaftsstruktur deutlich stabiler ist als die meisten Institute in diesem Land, in Subtilitäten der Unternehmensführung einzudringen?
 
Es gäbe da ein paar Ideen. Im Juli etwa erteilte sie dem Wealth Manager Flynt als erstem Fintech-Player mit grosser Fanfare eine Banklizenz, nur vier Monate später ist die Bank ein riesiger Scherbenhaufen – kein Ruhmesblatt für den Finanzplatz, der sich so gern als Fintech-Pionier positionieren will. Oder der Fall des Joachim Strähle. Er war CEO der Bank Sarasin, als diese in grossem Stil in die dubiosen Cum-Ex-Geschäfte einstieg, und wusste nachweislich von den heiklen Praktiken. Doch die Finma liess ihn trotzdem als EFG-Chef ein Comeback als CEO feiern.
 
Erstes Opfer wird wohl VR-Präsident Rüegg-Stürm sein, schon allein weil es nach all dem Rummel ein Opfer geben muss. Bei Vincenz stand der Entzug der Gewähr der einwandfreien Geschäftstätigkeit bei der Helvetia auf dem Spiel, dem er durch seinen Rückritt nun zuvor gekommen ist. Branson hat rein formal eine auf dem Finanzplatz einmalige Machtfülle: Als Vorsitzender des Enforcement-Ausschusses ist er Ankläger und Richter in Personalunion – er kann das Strafmass persönlich verfügen. Doch weil er sich so prominente Gegner gesucht hat, muss er schon eine überzeugende Begründung liefern. Sonst hat auch die Finma ein Problem.
 
Dieser Text erschien in der Dezember-Ausgabe 12/2017 der BILANZ.
Dirk Schütz
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