2022 wanderten netto ohne Kriegsflüchtlinge über 80’000 Menschen in die Schweiz ein – mehr waren es nur 2008 und 2013. Nun berichten immer mehr Medien: Die Bevölkerungsexplosion bringe kein Wohlstands-, sondern nur Breitenwachstum. Und schon donnert die Bundesverwaltung: «Die Schweiz wächst nicht nur in die Breite.» Dabei ist die Frage, ob die starke Zuwanderung das Wohlstandswachstum hebt oder senkt. Bei der Antwort können Ländervergleiche helfen. Dabei zählt dreierlei:

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Erstens: Die Schweiz hatte zumeist tiefes Wachstum und ist besonders reich. Wie geht das? Ihre flexible Volkswirtschaft wuchs stets in das hinein, was im Aussenhandel gerade gut lief. So stiegen die Werte der Export- gegenüber den Importgütern und als Spiegelbild der reale Wechselkurs des Schweizer Frankens permanent. Das wahre Wachstum zeigt sich deshalb erst bei Berücksichtigung der Entwicklung der Kaufkraft. Dafür braucht man Daten, die die Wirtschaftsentwicklung nicht wie üblich zu konstanten, sondern zu laufenden Kaufkraftparitäten zeigen. Die OECD bietet solche Daten.

Lehrreich ist der Vergleich mit Deutschland – dessen Bevölkerung seit 2000 kaum wuchs. Mit den Standardzahlen mit konstanter Kaufkraftparität betrug das BIP pro Kopf in der Schweiz 2000 141 Prozent des deutschen, 2007 ebenfalls 141 Prozent, 2015 137 Prozent und 2021 137 Prozent. Das Wohlstandswachstum erscheint also vor der vollen Personenfreizügigkeit ab 2007 identisch wie in Deutschland und danach leicht tiefer. Anderes sagen die relevanten Zahlen mit laufender Kaufkraftparität: Sie wuchsen von 2000 mit 132 Prozent bis 2007 auf 137 Prozent, stagnierten bis 2015 mit ebenfalls 137 Prozent und brachen bis 2021 auf 129 Prozent ein. Das Schweizer Wohlstandswachstum war also vor der Personenfreizügigkeit stärker und danach schwächer als das deutsche. 

Grenzgänger verzerren das Bild zusätzlich

Zweitens: Das jährliche Wachstum des BIP pro Kopf wird durch die starke Zunahme der Grenzgänger um 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte aufgebläht, weil ihre Leistung zum BIP, sie aber nicht zu den Köpfen zählen. Ohne «Grenzgänger-Doping» wirkt die Personenfreizügigkeit noch kläglicher.

«Die Vorteile der Bilateralen I kompensieren die Nachteile der Personenfreizügigkeit niemals. Es ist Zeit für einen aufrichtigen Diskurs ohne Scheuklappen.»

Drittens: Das schnelle Bevölkerungswachstum trifft nicht nur das BIP, sondern senkt auch die Lebensqualität durch «Füllungskosten»: Wichtige Produktions- und Wohlstandsfaktoren wie Boden, Infrastruktur, Umweltgüter und Selbstversorgungsziele werden knapper und teurer. Manche dieser Kosten blähen das BIP sogar noch auf. 

Insgesamt gilt: Die Personenfreizügigkeit senkt die Lebensqualität in der Schweiz. Die Vorteile der Bilateralen I kompensieren die Nachteile der Personenfreizügigkeit niemals. Es ist Zeit für einen aufrichtigen Diskurs ohne Scheuklappen.

Die Kolumne «Freie Sicht»

In der Kolumne «Freie Sicht» schreiben neben Reiner Eichenberger, Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg, der Ökonom Klaus Wellershoff von Wellershoff & Partners sowie der «Handelszeitung»-Chefredaktor Markus Diem Meier. Die Ökonomin Isabel Martinez, bis Ende 2022 ebenfalls Kolumnistin, hat ihre Kolumnistinnen-Tätigkeit aus beruflichen Gründen beendet. Die in den Kolumnen vertretenen Ansichten können von jenen der Redaktion abweichen.