Noch nie waren Budgetberatungen in Frankreich so kompliziert. Die Finanzlage ist ungemütlich. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sind prekär. Bereits drei Ministerpräsidenten mussten zurücktreten, weil sie kein mehrheitsfähiges Budget vorlegen konnten. Die Aufgabe ist aber auch gewaltig: Frankreich muss das Defizit um 3,2 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) reduzieren, um den Anstieg der Schuldenquote zu stoppen – von rund 5,4 auf 2,2 Prozent des BIP. Die Schuldenquote, das Verhältnis zwischen den Schulden und dem Bruttoinlandprodukt, könnte dann bei rund 120 Prozent stabilisiert werden. Umgerechnet auf die Schweiz entspricht das einem Bereinigungsbedarf im Umfang von 27 Milliarden Franken jährlich. Der Vergleich mit dem Entlastungspaket 2027 des Bundes spricht Bände. Dieses soll den Bundeshaushalt um jährlich rund 3 Milliarden Franken entlasten. Frankreich braucht in den nächsten vier Jahren Entlastungen, die neunmal grösser sind als das bundesrätliche Paket.
Frankreich will sich für die Budgetkonsolidierung vier Jahre Zeit nehmen. Jedes Jahr soll das Defizit um rund 0,8 Prozent des BIP gesenkt werden. Zurzeit ist noch unklar, ob das Parlament das erste Etappenziel erreichen wird. Deshalb bleiben die Finanzmärkte nervös. Die Zinsen für neue Anleihen befinden sich auf dem Niveau von italienischen oder griechischen Staatspapieren. Erreicht die französische Regierung die Ziele nicht, könnten die Zinsen weiter steigen, was den Bedarf an Einsparungen vergrössern würde. Von höheren Zinsen negativ betroffen wäre auch die Wirtschaftsentwicklung. Höhere Zinsen hätten ein tieferes Wachstum der Wirtschaft und der Beschäftigung sowie eine höhere Arbeitslosigkeit zur Folge.
Der Gastautor
Der Ökonom Serge Gaillard leitete von 2012 bis Anfang 2021 die Eidgenössische Finanzverwaltung. Er schreibt als Gastautor regelmässig für die Handelszeitung.
Wie ist Frankreich in diese Lage geraten? In den letzten zwanzig Jahren ist die Schuldenquote in Frankreich von knapp über 60 auf jetzt rund 115 Prozent gestiegen. Die Hälfte dieses Anstiegs ist auf bewusste Entscheide der Politik zurückzuführen, neue Ausgaben oder Steuersenkungen zu beschliessen, ohne die Finanzierung zu sichern. Gerechtfertigt wurden einige dieser Entscheide damit, dass die Zinsen für die Schulden sehr tief seien, was im Jahrzehnt vor der Covid-Krise tatsächlich der Fall war. Die andere Hälfte der Zunahme kann mit verschiedenen Krisen erklärt werden, die Frankreich getroffen haben (Covid, Energiepreise).
Die Schweiz ist weit weg von französischen Zuständen. Es sind mehr als dreissig Jahre her, seit Frankreich eine so tiefe Schuldenquote hatte wie die Schweiz. Trotzdem hält Frankreich drei Lehren für uns bereit.
Erstens: Die Finanzierung von neuen Ausgaben ausserhalb der Schuldenbremse ist zwar bequem, Auseinandersetzungen um die Notwendigkeit und Finanzierung der neuen Ausgaben können so vermieden werden. Ein solches Vorgehen bürdet aber der nächsten oder übernächsten Generation von Politikerinnen und Politikern grosse Probleme auf. Sie werden in zehn Jahren nicht nur die künftigen Herausforderungen bewältigen, sondern auch für bereits beschlossene Ausgaben Geld finden müssen.
Zweitens sind tiefe Zinsen keine gute Begründung für höhere Defizite und eine zusätzliche Verschuldung. Wie die letzten Jahre in Frankreich gezeigt haben, kann sich das Zinsumfeld in kurzer Zeit ändern. Geschieht dies, müssen später nicht nur höhere Zinssätze auf einem höheren Schuldenstand bezahlt werden – es müssen dann auch noch die Defizite beseitigt werden, an die man sich gewöhnt hat. Das erfordert Zeit und politische Energie. Perioden mit tiefen Zinsen sollten deshalb eher zur Reduktion der Schuldenquote genutzt werden.
Drittens, und diese Aussage steht im Gegensatz zur Meinung einiger Ökonomen in der Schweiz, ist es nützlich, dass die schweizerische Schuldenbremse in Zeiten mit einem stetigen Wirtschaftswachstum eine Abnahme der Schuldenquote bewirkt. Damit schafft sie Spielräume für künftige Krisen.
Diese fehlen heute in Frankreich. Eine neue Krise würde die französische Regierung vor fast unlösbare Probleme stellen.

