Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, soll die erste Frau an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) werden. Darauf einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am Dienstag nach stundenlangen Beratungen in Brüssel. Die Amtszeit des aktuellen EZB-Chefs Mario Draghi endet im Oktober.

Die gebürtige Pariserin, die aus bürgerlichen Verhältnissen stammt und in Le Havre aufwuchs, ist es als frühere französische Finanzministerin und Leiterin einer der einflussreichsten internationalen Institutionen gewöhnt, sich Gehör zu verschaffen. Nicht selten war sie auf Spitzentreffen der internationalen Politik und Hochfinanz die einzige Frau. Die 63-jährige gilt als durchsetzungsfähig und mit einem kühlen Kopf ausgestattet.

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Bei ihren öffentlichen Auftritten nahm die hochgewachsene und stets elegant gekleidete IWF-Chefin sehr oft kein Blatt vor den Mund, wenn ihr Entwicklungen gegen den Strich gingen. Das Magazin «Forbes» zählte sie in der Vergangenheit wiederholt zu den zehn einflussreichsten Frauen in der Welt.

Lagarde, Mutter zweier Kinder und geschieden, hat bereits eine steile Karriere hinter sich. Dabei setzte sie sich immer wieder auch für die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Wirtschaft ein. Vielfach äusserte sie, dass dies auch ein Schlüssel zu mehr Finanzstabilität sei, da Diversität das Denken schärfe und umsichtigeres Verhalten fördere.

Als eine der Ursachen für die globale Finanzkrise nannte sie auch die Testosteron-getriebene Gier in den Chefetagen der internationalen Grossbanken. «Wenn es Lehman Sisters statt Lehman Brothers gewesen wäre, würde die Welt womöglich heute ganz anders ausschauen», äusserte sie einmal.

Erste IWF-Chefin

Nach einer langen Laufbahn als Rechtsanwältin in der internationalen Wirtschaftskanzlei Baker McKenzie trat sie 2005 der französischen Regierung bei. 2007 wurde sie unter Präsident Nicolas Sarkozy die erste Frau an der Spitze des französischen Finanzministeriums, 2011 dann die erste Chefin des IWF.

Lagarde gelang es in den Folgejahren, das durch die Griechenland-Rettung 2010 stark angekratzte Image des IWF wieder aufzupolieren. Dieser hatte im Zuge des Rettungspakets nicht nur eigene Regeln überdehnt, auch mussten im Anschluss daran weitere Hilfspakete für das hochverschuldete Land geschnürt werden.

2018 wurde unter ihrer Führung ein 57 Milliarden Dollar schweres Kreditprogramm für Argentinien auf den Weg gebracht - das bislang grösste Hilfspaket des IWF. Experten zufolge konnten so schwere Turbulenzen in Schwellenländern vermieden werden.

Überraschende Wahl

Trotz ihres internationalen Renommees kommt die Wahl von Lagarde, die in ihrer Jugend einmal Synchronschwimmerin im französischen Nationalteam war, als Nachfolgerin von Mario Draghi überraschend. Noch im vergangenen Jahr hatte sie auf eine entsprechende Frage einen solchen Schritt klar verneint. Als die «Financial Times» sie danach fragte, lautete ihre Antwort: «Nein, Nein, Nein Nein, Nein Nein.» Ihre derzeit zweite Amtszeit als IWF-Chefin endet erst 2021.

Die grösste Herausforderung für sie nach einem Wechsel von Washington in die EZB-Zentrale nach Frankfurt dürfte zunächst darin bestehen, dass sie wenig Erfahrung in der Geldpolitik besitzt.

Christine Lagarde With Family. L'avocate française Christine LAGARDE présidente du plus grand cabinet d'avocats américain Baker & Mckenzie : dans un parc avec ses enfants Tom et Pete. (Photo by Jacques Lange/Paris Match via Getty Images)

Christine Lagard, damals noch Anwältin bei Baker & Mckenzie, mit ihren Söhnen Tom und Pete. 

Quelle: Paris Match via Getty Images

Die EZB griff unter der Präsidentschaft Draghis immer stärker zu unkonventionellen Instrumenten wie billionenschweren Anleihenkäufe und Negativ-Zinsen, um die Wirtschaft im Euro-Raum anzuschieben. Auch unter Lagardes Führung muss die EZB möglicherweise sehr erfinderisch bei ihren Instrumenten sein, um die aktuelle Schwächephase in der 19-Ländergemeinschaft zu überwinden.

Eine Komplikation könnte allerdings sein, dass ein französisches Gericht sie 2016 im Prozess um eine Entschädigungszahlung aus Staatsgeldern an den Unternehmer Bernard Tapie, die in ihre Zeit als Finanzministerin fiel, schuldig sprach. Sie blieb jedoch straffrei.

Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie im Zusammenhang mit der Zahlung von 400 Millionen Euro an Tapie, die ihm ein Schiedsgericht zugesprochen hatte, fahrlässig gehandelt hat. Lagarde war damals nicht gegen diesen Schiedsspruch vorgegangen. Tapie wurde später zur Rückzahlung des Betrags verurteilt.

(sda/tdr)