Vor einiger Zeit hat die «Sonntagszeitung» über eine Studie zu Rollenverhalten und Geschlechterrollen bei Studentinnen und Studenten berichtet. Seither habe ich eine Menge gelernt, zum Beispiel, dass es das Tocqueville-Paradoxon gibt. Es besagt: Je geringer die sozialen Ungleichheiten werden, desto sensibler werden die Menschen in Bezug auf die noch bestehenden.

Gut so. Das bedeutet, es besteht kein Anlass zur Sorge, dass die Forderung nach der gesellschaftlichen Gleichstellung der Frauen mit den Männern aus Abschied und Traktanden fällt, bevor sie erreicht ist.

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Was ich nicht verstehe, ist die Aufregung, welche die Studie ausgelöst hat. Zwei Professorinnen mit tadellosem wissenschaftlichen Leumund, die sich notabene selbst in einem damals noch ausgesprochen männlich dominierten akademischen Umfeld durchgesetzt haben, haben sich einer Realität angenähert. Sie kommen zum Schluss, dass angehende Akademikerinnen und Akademiker unterschiedliche Präferenzen haben, wenn es um Karriere und Familie geht, und dass sie das tradierte Rollenverständnis weniger stark infrage stellen, als man dies erwarten würde.

Das Geschlecht spielt, wenig überraschend, offenbar eine Rolle bei der Lebensplanung. Junge Frauen heiraten im Schnitt einen leicht älteren Mann, der beruflich besser positioniert ist. Dann kommt das Kind. Und die Frau, die beruflich noch weniger etabliert ist, arbeitet Teilzeit, während der Mann voll weiter arbeitet und Karriere macht. 

«Na, und?» kann man da nur sagen. Offenbar entspricht das der gesellschaftlichen Realität. Und so lange die Frauen die Möglichkeit haben, sich auch beruflich zu entfalten, ist dagegen auch nichts einzuwenden. 

Ein schlechtes Licht auf die Debattenkultur

Bedenklich dagegen sind die Reaktionen, mit denen sich die beiden Wissenschaftlerinnen konfrontiert sehen. Vieles sei «unanständig» und «unprofessionell» gewesen, sagte Co-Autorin Margit Osterloh Frey im Interview mit der «Handelszeitung», immerhin eine der renommiertesten Ökonominnen des Landes. Viele hätten die Studie gar nicht gelesen. Es sei ein Glück, dass sie emeritiert und finanziell unabhängig sei.

Ob hier nicht sein darf, was ist? Jedenfalls werfen die mitunter unterirdischen Beiträge auf Social Media ein schlechtes Licht auf den Zustand des gesellschaftlichen Diskurses. Gleichzeitig ist die Kontroverse typisch für die Richtung, welche die Diskussion um Diversität in letzter Zeit genommen hat. Man spricht von Diversität, meint damit Frauenförderung und etabliert dabei ganz beiläufig eine neue gesellschaftliche Norm. Nämlich diejenige des Paares, das sich Kinder, Küche und Erwerbsarbeit teilt, und die dann bitte auch in der Sozialpolitik in Form von mehreren Hundert Millionen Franken schweren Bundessubventionen für Kinderkrippen gegenüber anderen staatlichen Aufgaben priorisiert werden soll.

Es ist der grosse Verdienst der Frauenbewegung, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass es auch andere Lebensplanungen gibt als das Modell der Zwei-Kind-Familie, bei der der Mann den ökonomischen Unterhalt der Familie bestreitet und die Frau zu Hause bleibt und sich um Haushalt und Kinder kümmert. Zum Beispiel jenes der alleinstehenden Mutter, die ihre beiden Kinder mit einem schlecht bezahlten Job allein durchbringt und der dabei noch auf Schritt und Tritt gesellschaftliche Ächtung entgegenschlägt. Oder das der alleinstehenden fünfzigjährigen Frau, die sich um ihren betagten Eltern kümmert. Oder das des lesbischen Paares, das mit oder ohne Kinder gemeinsam durchs Leben geht. 

Nun aber droht die Frauenbewegung selbst zur Handlangerin neuer gesellschaftlicher Vorgaben zu werden; wie etwa der, dass sich Frauen nicht mehr zu 100 Prozent um Haushalt und Kinder kümmern dürfen, wenn sie das wollen.

Die Gleichsetzung von Diversität und Frauenförderung ist verkürzt. Diversität meint nicht nur die berufliche Integration von Frauen, sondern eine Politik, welche der Vielfalt gesellschaftlicher Lebensformen Rechnung trägt. Dazu gehört das ganze Spektrum der Lebensentwürfe von Frauen und Männern, von den Familien über Paare bis zu den Alleinstehenden, von Menschen mit Migrationshintergrund oder Personen mit unterschiedlichen religiösem oder kulturellen Hintergrund.

Mehr Pragmatismus, weniger Ideologie

Wer wissen möchte, wie gelebte Diversität geht, der sollte einen Blick in die Top-Etagen der grössten Schweizer Konzerne werfen. Was sich hier in Sachen Diversität in kürzester Zeit getan hat, ist erstaunlich. Bei Novartis und bei Roche führen mit Marie-France Tschudin und Teresa Graham zwei Frauen das Pharmageschäft. Nestlé wird mit der Britin Anna Manz schon bald eine Finanzchefin bekommen. Und eine Frau als Head of Operations. Ab Januar wird Stephanie Pullings Hart dafür verantwortlich sein, dass in den 344 Nestlé-Fabriken alles rund läuft und dass Konzernchef Mark Schneider mit seiner Nachhaltigkeitsagenda nicht ins Hintertreffen gerät. Ein künftiger Kollege der beiden Damen wird indischer Nationalität sein, einer französisch-libanesischer Doppelbürger und einer Chinese.

Die Konzernchefs an den Spitzen der grössten Schweizer Unternehmen setzen auf Diversität. Nicht weil sie gute Menschen sind und weil sie persönlich Vielfalt für richtig halten – wovon auszugehen ist – sondern weil es der richtige Weg ist, um erfolgreich zu sein.

Diversität ist heute ein Business Case und damit ganz einfach ein unternehmerisches Muss. Das mag weniger spektakulär klingen als die Verheissungen, mit denen diejenigen operieren, die das Thema auf politischer Ebene bewirtschaften. Die Kontroverse um die Studie der beiden Professorinnen zeigt deshalb: Etwas mehr Pragmatismus und etwas weniger Ideologie täten beim Thema Diversität auch der Politik gut.