Interview mit: Felix von Reischach

Leiter Artificial Intelligence und Machine Learning,
Swisscom Enterprise Solutions

Sie leiten bei Swisscom sämtliche Plattformgeschäfte und Forschungsteams in den Bereichen künstliche Intelligenz. Welche Ziele verfolgt dieser Geschäftsbereich?

Künstliche Intelligenz, AI, wird die Unternehmenswelt mit neuen Geschäftsmodellen verändern, vergleichbar vielleicht mit früheren Innovationen wie Elektrizität oder Internet. Auch für Firmen wie Swisscom ist AI von grosser Bedeutung. Sie bietet uns die Gelegenheit, unser eigenes Geschäft wie auch das unserer Kunden schneller, effizienter und kundenfreundlicher zu gestalten. Wir haben bereits diverse AI-Lösungen intern in Einsatz. Damit sammeln wir Erfahrungen, die wir wiederum unseren Kunden weitergeben.

Wie sehen solche Lösungen konkret aus?

Der Schwerpunkt liegt aktuell bei der Effizienzsteigerung von vorhanden Prozessen, der Weiterentwicklung der Netzsicherheit sowie der Spracherkennung im Schweizerdeutschen. Dafür entwickeln wir einerseits eigene Algorithmen, andererseits greifen wir auf Algorithmen zurück, die öffentlich zur Verfügung stehen, und kombinieren diese mit eigenen Datensätzen. Wir arbeiten dafür eng mit der EPFL und anderen Universitäten zusammen. Unter anderem gibt es ein gemeinsames Projekt mit der EPFL, bei dem wir an der Spracherkennung von Schweizerdeutsch arbeiten.

Weitere Beispiele?

In einem weiteren der zahlreichen AI-Cases von Swisscom lernen Computer lesen: Kundenberater erhalten hunderte E-Mails am Tag. Oft gehen diese auf eine Odyssee durch das ganze Unternehmen, ehe sie zur richtigen Ansprechperson gelangen. Im 
Rahmen eines Pilotprojektes hat Swisscom für ein führendes Schweizer Finanzinstitut einen Algorithmus entwickelt, der die manuelle E-Mail-Klassifizierung überflüssig macht. Das System liest die Informationen einer E-Mail und leitet sie automatisch an den richtigen Empfänger weiter. Die Lösung anonymisiert zusätzlich vertrauliche Daten, erkennt die Sprache, identifiziert bestimmte Schlüsselwörter oder besondere Kunden.

Ist das Projekt erfolgreich?

Ja, mittlerweile übertrifft der Algorithmus die Trefferquote der Kundenberater. Erfolgreich ist auch ein anderes Beispiel einer von uns entwickelten AI-Lösung, bei der das IT-System anhand von ein paar Schlagwörtern in Sekundenschnelle Informationen sucht und Lösungsvorschläge für konkrete Problemstellungen liefert.

Big Data ist eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit. Wie müssen Grossunternehmen und KMU damit umgehen lernen, um sich im Wettbewerb zu behaupten?

Es reicht nicht mehr, dass Unternehmen iterativ ihr Business verbessern, sondern sie müssen anhand der sich bietenden technologischen Möglichkeiten disruptiv denken. Wie können die neuen Technologien mein Geschäft auf den Kopf stellen? Die einzigartigen Daten von Unternehmen sind dabei oft der Schlüssel zum Erfolg, aber sie müssen auch genutzt werden. Denn Daten sind das neue, sich aber kaum je erschöpfende Öl, und dieses Wissen sickert langsam durch. Die Datenflut ist aber so immens, dass sie oft von Menschen alleine nicht mehr bewältigt und sinnvoll ausgewertet werden kann. Um diese Datenflut auszuwerten, braucht es AI.

Inwiefern wird sich künstliche Intelligenz auf künftige Jobprofile auswirken? Welche Synergien machen Sinn?

Ein Blick zurück ins 19. Jahrhundert: Damals rüttelte die Industrielle Revolution an den Grundpfeilern der bestehenden Gesellschaftsordnung. Bestimmte Berufsbilder wie beispielsweise Handweber ver
schwanden, neue wie Mechaniker oder Maschinenbauer florierten. Heute stehen wir erneut an einem Wendepunkt: Die künstliche Intelligenz wird unsere Arbeitswelt aufmischen. Die grosse Datenflut ist ohne AI kaum mehr zu bewältigen. Ausserdem kann durch die Automatisierung bestimmter Aufgaben die Effizienz um ein Vielfaches gesteigert werden.

Welche alltäglichen Arbeiten oder Jobs sind konkret betroffen?

Beispielsweise die Mutation von Adressen: Statt sie von Hand anzupassen, übernimmt hier der Computer. Oder im Call Center: Kundendienstmitarbeiter am Help Desk werden von künstlicher Intelligenz unterstützt und finden so schneller eine Lösung für das Problem. Zwar dürften Marketingexperten kaum je vollständig durch künstliche Intelligenz ersetzt werden. Aber AI kann Menschen bei einigen repetitiven Aufgaben entlasten, wie beispielsweise dem Abfüllen eines CRM. So bleibt den erwähnten Marketingverantwortlichen mehr Zeit für kreative Aufgaben und den Austausch mit Kunden.

Wird die Zahl der Arbeitsplätze sinken?

Experten sind überzeugt, dass die Einführung einer neuen Technologie insgesamt nicht zu mehr Arbeitslosigkeit führt, sondern zu einer Umverteilung der Aufgaben. In unserem Fall ist zu erwarten, dass künstliche Intelligenz beispielsweise eine Nachfrage nach Softwareingenieuren und Programmieren nach sich zieht, dass repetitive Tätigkeiten im Gegenzug an Maschinen delegiert werden und sich die Menschen auf kreativere Aufgaben konzentrieren. Inwieweit sich Arbeitsplatzverlust und Schaffung neuer Arbeitsplätze die Waage halten, ist heute allerdings noch nicht abzusehen.

Können Sie diese Veränderungen auf dem Zeitstrahl festmachen?

Das ist schwierig. Wann wird die Predictive Maintenance so weit fortgeschritten sein, dass Mechaniker tatsächlich nicht länger benötigt werden? Wann wird die Beratung im Tourismusbüro nur noch über 
Sprachsteuerung laufen? Auch wenn vieles noch unbekannt ist, besonders wichtig werden in der Zukunft wahrscheinlich Softskills wie Lern- und Analysefähigkeiten. Die attraktivsten Arbeitskräfte von morgen werden sich besonders schnell in neue Themengebiete einarbeiten. Sicherlich ist grosses digitales Wissen in Unternehmen notwendig, um das volle Potenzial der Digitalisierung zu erschliessen. Das Einstellen eines Chiefs Digital Officers ist erst der Anfang. Digitales Wissen und Handeln muss im Kern des Unternehmens verankert sein. Das wird sich auch in den Arbeitsplätzen der Zukunft spiegeln.

Auf welche Erfahrung im Thema blicken Sie selbst zurück?

Ich beschäftige mich seit über 15 Jahren damit, wie Unternehmen neue Technologien zu ihrem Nutzen einsetzen können. Mit diesem Thema habe ich mich sowohl an der ETH und dem MIT als auch bei SAP im Bereich Mobile und Internet of Things auseinandergesetzt. Neue skalierbare Softwareprodukte im Enterprise-Bereich aufzubauen, erfordert viel methodisches Know-how und Erfahrung, zum Beispiel mit der Methode des Design Thinking. Für mich war immer am wichtigsten, dass die Kundenbedürfnisse im Zentrum stehen. Business, Technologie und Mensch müssen zusammenfinden. Dies einzubringen, ist meine Stärke. Wir haben bei Swisscom eine Umgebung geschaffen, wo wir genau so arbeiten können. Der bisherige Erfolg gibt uns recht. 

Wie wird künstliche Intelligenz in 10 bis 20 Jahren auf unsere Datenflüsse einwirken?

Es ist schwierig, die Entwicklung abzuschätzen. In den letzten fünf Jahren hat sich AI enorm entwickelt, und es ist davon auszugehen, dass die Lernkurve in Zukunft sogar noch steiler ausfällt. Bereits heute begleitet uns AI im Alltag. Was aber bringt die Zukunft? Wird es superintelligente Systeme geben, die dem Menschen überlegen sind? Wie schnell wird die Entwicklung voranschreiten? Wir nehmen aktiv an der Entwicklung teil und achten darauf, dass wir sie verantwortungsbewusst mitgestalten.